| # taz.de -- Debatte Gewalt: Das Zwei-Seiten-Syndrom | |
| > Ob in Sachen G20-Gewalt oder bezogen auf den Islam: Entweder ist man | |
| > dafür oder dagegen. Grautöne sind nicht gefragt. | |
| Bild: Orthodox heißt nicht automatisch böse: Betende Sufis während des Ramad… | |
| Es ist schon viel zum G20, den Protesten und Polizeieinsätzen geschrieben | |
| worden – keine Sorge, ich fange nicht noch einmal von vorne an. Ich möchte | |
| an diesem Beispiel bloß ein Merkmal öffentlicher Debatten illustrieren, das | |
| mich schon oft geärgert hat. | |
| Man könnte es das Zwei-Lager-Syndrom nennen, weil sich dabei eine | |
| Diskussion so hochschaukelt und strategisch so zugespitzt wird, dass es nur | |
| zwei Seiten zu geben scheint; und jeder, der sich öffentlich äußert, wird | |
| zwangsläufig einer dieser Seiten zugeschlagen. Entweder man ist für die | |
| oder für jene. Wer für „die“ ist, muss gegen „jene“ sein. Wer etwas f… | |
| „jene“ zu bedenken gibt, spricht gegen „die“. Angeblich. | |
| Jede*r, der oder die auf Facebook ist, wird es miterlebt haben: Wer darauf | |
| hinwies, dass die Polizei Wasserwerfer auf friedliche Demonstrant*innen | |
| richtete, wurde gefragt, ob er oder sie denn das Stürmen einer Ikea-Filiale | |
| gutheiße. Sobald man Fotos von Polizisten postete, die sich auf hartem | |
| Boden ausruhen wollten, wurde man verdächtigt, Polizeigewalt zu | |
| verharmlosen. | |
| Wer darauf beharrte, dass man mit dem Begriff „Gewalt“ nicht das Schlagen | |
| von Menschen und das Zerdeppern von Fensterscheiben gleichsetzen dürfe, dem | |
| wurde unterstellt, er finde das Anzünden von Autos in Ordnung. Wer das | |
| Anzünden von Autos kritisierte, dem oder der wurde vorgeworfen zu | |
| übersehen, wie viel Gewalt derweil vom globalisierten Kapitalismus für die | |
| Bewohner*innen dieser Erde ausgehe. | |
| ## Nachdenken statt Disclaimern | |
| Entweder, oder. Aber erstens sind Mengen natürlich nicht homogen: Man kann | |
| von einem, der Gewalt anwendet, nicht auf alle anderen schließen, die | |
| dieselbe Kleidung tragen. (Zuletzt erkennbar daran, dass auch Nazis | |
| schwarze Hoodies trugen; und auch Polizisten haben nicht alle dieselbe | |
| Einstellung.) | |
| Zweitens ist dieses binäre Muster, in dem es zwei Seiten geben muss, von | |
| denen eine recht und und die andere unrecht hat, höchst destruktiv und | |
| verleitet zu lauter Fehlschlüssen. Womöglich haben beide unrecht. Womöglich | |
| beide ein bisschen recht und ein bisschen unrecht. Und sehr wahrscheinlich | |
| gibt es noch eine dritte und vierte Perspektive, die ebenfalls | |
| bedenkenswert ist und dennoch nicht das Übernehmen oder Anhören weiterer | |
| Perspektiven erübrigt. | |
| Mich lässt dieses Zwei-Seiten-Syndrom zunehmend verzweifeln, weil es den | |
| öffentlichen Raum so entsetzlich verengt und Austausch und Erkenntnis | |
| praktisch unmöglich werden lasst; alles, was man äußert, wirkt wie ein | |
| strategischer „Move“ oder muss wie ein solcher überprüft werden: Wie kön… | |
| das, was ich sage oder schreibe, fehlinterpretiert und -zugeordnet werden? | |
| Im Grunde müsste jedem Satz und jedem Artikel ein Disclaimer folgen, in dem | |
| stünde: „Die Autorin will dies nicht so verstanden wissen, als ob sie …“ | |
| Aber wer andauernd über Disclaimer nachdenken muss, kann nicht mehr frei | |
| denken. | |
| ## Die Wahl zwischen lauter Fettnäpfchen | |
| Vielleicht bin ich deswegen besonders empfindlich gegen das | |
| Zwei-Lager-Syndrom, weil ich als Muslimin mit jedem Satz über den Islam oft | |
| ohnehin nur die Wahl zwischen lauter Fettnäpfchen habe. Ob in Sachen | |
| G20-Gewalt oder IslamZudem durfte ich schon des Längeren mitverfolgen, wie | |
| die Bewohner*innen des Nahen Ostens mit oberflächlichen Labeln in Freund | |
| oder Feind sortiert wurden. | |
| Als der Iran mit Chomeini noch als Hauptfeind galt, wurden Schiiten zumeist | |
| mit „grausam“ oder „Hardliner“ assoziiert. Die Sunniten des Iraks galten | |
| als „bessere“ Muslime und Freunde des Westens. | |
| Unter Saddam Hussein wurden später die irakischen Sunniten der Hauptfeind; | |
| sie unterdrückten Schiiten. Während dieses Irakkriegs bekam das Wort | |
| „Schiit“ im Deutschen einen positiven Klang, jetzt waren Sunniten die | |
| Hardliner, potentiell Salafisten (= absolut böse). | |
| Das ist alles völlig aberwitzig. Ich hoffe sehr, dass irgendwann einmal | |
| ein*e Politikwissenschaftler*in eine Doktorarbeit schreibt über den Wechsel | |
| der Freund-Feind-Zuordnungen im Nahen Osten, bei denen jeweils ein Begriff, | |
| eine viel zu pauschal definierte Menge als Codewort dient für Gut oder | |
| Böse. | |
| ## Der Feind meines Feindes | |
| Ich selbst bin Sunnitin sowie Schülerin in einem Sufi-Orden. Sufis sind die | |
| Mystiker im Islam, hier in Deutschland gelten sie zumeist als besonders | |
| „gut“, sozusagen als noch besser als die verfolgten Schiiten. Angeblich | |
| sind alle Sufis unorthodox und damit automatisch besonders west-kompatibel. | |
| Aber erstens sind viele Sufis sehr orthodox, oder genauer: orthopraktisch; | |
| zweitens heißt orthodox nicht unbedingt „böse“. Und drittens heißt mysti… | |
| nicht automatisch subaltern oder friedlich. Im Laufe der Jahrhunderte gab | |
| immer wieder mystische Linien, die von Herrschern Privilegien erhielten; | |
| manche Sufi-Orden haben sich gar als Söldner verdungen. | |
| Wenn diejenigen deutschen Kommentator*innen, die gern das Loblied auf | |
| den Sufismus singen, davon erführen, würde vielleicht eine Welt für sie | |
| zusammenbrechen … Oder, wahrscheinlicher, eben nicht. Sie würden an ihrem | |
| grundsätzlichen Weltbild Freund vs. Feind festhalten und einfach ihr | |
| nächstes Lieblingskind ausfindig machen, zum Beispiel einen reformerischen, | |
| schiitenfreundlichen Zoroastrismus. | |
| Auch wenn es zumeist wohl nicht bewusst stattfindet – zumindest nicht auf | |
| der Ebene der breiten Öffentlichkeit und der Journalist*innen –, sollen | |
| solche Zwangsetikettierung und all die kruden Vereinfachungen, die da | |
| walten, wohl helfen, klare außenpolitische Positionierungen vorzunehmen, | |
| die uns zupasskommen. Nur so kann die alte und irreführende Regel | |
| beibehalten werden, dass der Feind unseres Feindes unser Freund sei. | |
| ## Wir brauchen eine andere Außenpolitik | |
| Anzuerkennen, wie verwirrend die Welt und wie vielfältig natürlich auch | |
| Menschen in anderen Teilen dieser Welt sind, würde unsere bisherigen | |
| außenpolitischen Schemata völlig überfordern. Aber wir brauchen ohnehin | |
| eine andere Außenpolitik, nicht wahr? | |
| Statt einmal diesem, später jenem, dann wieder diesem und am besten auch | |
| gleichzeitig jenem Panzer und Waffen zu verkaufen … Also: Überfordern wir | |
| sie ruhig! Und geben wir zu: Jeder außenpolitische und auch jeder innere, | |
| gesellschaftliche Konflikt hat so viel mehr als nur zwei Seiten. | |
| 5 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Hilal Sezgin | |
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