# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Die Tabus überwinden | |
> Kann Religion so verändert werden, dass sie die Liberalisierungen der | |
> Moderne sogar befördert? Oder sind Religionen gar nicht reformierbar? | |
Bild: In der liberalen Moschee in Berlin | |
Erst die [1][Ibn-Rushd-Goethe-Moschee] und dann noch [2][ein Text von Hülya | |
Gürler] über progressiven Islam in der taz. Endlich, denkt man. Das ist es, | |
was es braucht. Ein innerislamisches reformatorisches Projekt. Eine | |
innerislamische Auseinandersetzung mit Tabus. | |
Und während man voller Besorgnis auf die Anfeindungen, Morddrohungen bis | |
hin zur Fatwa schaut. Und während man voller Sympathie dem Projekt Erfolg | |
wünscht und den engagierten Text liest – während und trotz all dieser | |
Regungen merkt man aber dennoch, wie Zweifel in einem aufkommen. Diese zu | |
artikulieren, soll nicht als Kritik an dem Unternehmen missverstanden | |
werden, sondern vielmehr als noch ein Diskussionsbeitrag, der das Geschehen | |
„von außen“ – also von außerhalb der muslimischen Community – beobach… | |
Kurzum: Ich bin keine Muslima. Ich finde das alles toll. Aber ich habe | |
Zweifel. | |
Denn es drängt sich eine Frage auf: Kann die Religion aus einer Speerspitze | |
gegen die Moderne zu einem Vehikel der Moderne werden? Anders gesagt: Kann | |
Religion, kann eine monotheistische Religion so verändert werden, dass sie | |
sich nicht nur den Liberalisierungen der Moderne nicht mehr verwehrt – | |
sondern diese vielmehr befördert? Ausgerechnet die Religion? | |
Gürler scheint diese Frage eindeutig zu beantworten. Die | |
Ibn-Rushd-Goethe-Moschee hat nicht nur eine weibliche Vorbeterin, sie will | |
auch, wie Gürler schreibt, offen sein für alle: „Schwule, Lesben, | |
Bisexuelle und Transgender, Sunniten, Schiiten, Aleviten, Sufis und | |
Nichtmuslime“ – alle sollen willkommen sein. Alle sollen zusammen beten. | |
Wie heikel das ist, wie sehr hier ein wunder Punkt getroffen wird, zeigt | |
sich nicht zuletzt an der Vehemenz der Ablehnung. Aber dennoch muss man | |
fragen: Kann Religion das? Kann Religion offen sein für alle? Tolerant? | |
Kann Toleranz zum Kriterium der Religion werden? (Eine Frage, die sich | |
nicht nur in Bezug auf den Islam stellt.) Können kritische | |
Auseinandersetzungen integriert werden in das religiöse System? | |
Abweichungen, Zweifel? Kann das, was gegen die bisherige Praxis der | |
Religion gerichtet war, von ebendieser transportiert und befördert werden? | |
## Religion ist kein Vehikel der Moderne | |
Gürler möchte all dies „öffentlich und ohne Scham“ ansprechen. Sie möch… | |
„den öffentlichen Raum nicht den Salafisten oder anderen Fundamentalisten“ | |
überlassen. Man muss nur sehen, dass das zwei verschiedene Arten sind, mit | |
diesem öffentlichen Raum umzugehen. Salafisten oder Fundamentalisten nutzen | |
diesen öffentlichen Raum instrumentell. Sie wollen Menschen ansprechen, | |
mobilisieren, erziehen, um sie zum Gegenteil von öffentlichen, autonomen | |
Subjekten zu machen. Sie wollen also den öffentlichen Raum durch ihre | |
Nutzung unterlaufen. | |
Für Gürler hingegen ist die Öffentlichkeit nicht nur ein Medium, dessen sie | |
sich bedient, sondern auch ein Inhalt: Die öffentliche Debatte soll dazu | |
beitragen, Diversität zuzulassen. Hier sollen Tabus angesprochen, also | |
überwunden werden – Tabus wie die Stellung der Frau. Aber die diskursive | |
Öffentlichkeit ist etwas anderes als Religion. Sie braucht, sie erzeugt | |
einen anderen Subjekt-Typus. | |
Es kann liberale und konservativere Gemeinden geben, offenere oder | |
geschlossenere Communities. Und das macht einen großen Unterschied. Aber | |
eine in ihrem Inneren aufgeklärte, vernünftige, tolerante Religion? In | |
ihren Praktiken ebenso wie in ihren Glaubensinhalten? Es steht zu | |
befürchten, dass der Glutkern aller drei großen monotheistischen Religionen | |
weder Vernunft noch Toleranz ist. Es steht zu befürchten, dass jede | |
Religion in ihrem Innersten nur bedingt reformierbar ist. Religion ist kein | |
Vehikel der Moderne, der Toleranz, der Liberalität. Das heißt nicht, dass | |
Reformen und Aufklärung sinnlos wären. Es heißt nur, dass deren Effekte | |
andere sind. | |
Im besten Fall kann Aufklärung der Religion Grenzen setzen. Sie kann deren | |
Macht beschneiden, sodass diese nicht mehr für alle Bereiche des | |
menschlichen Lebens zuständig ist. Das aber ist keine Liberalisierung der | |
Religion – es ist vielmehr deren Einhegung. Es ist deren partielle | |
Säkularisierung. | |
27 Jul 2017 | |
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## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
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könnte. Einer, der die Tabus der muslimischen Welt offensiv angeht. |