| # taz.de -- Die Wahrheit: Lob dem Wurm, Fluch dem Gekröse | |
| > Die große Wahrheit-Sommer-Debatte über Organe. Folge 9 und Ende der | |
| > Serie: Der Wurmfortsatz. Ein Pro und Contra zu dem Anhängsel. | |
| Warum das Ding geliebt werden muss | |
| Zugegeben, eine Beauty-Queen ist der Wurmfortsatz nicht: Er sieht aus wie | |
| eine zehn Zentimeter lange Nacktschnecke. Mancher fühlt sich auch an einen | |
| sehr dünnen Penis im unerregten Zustand erinnert. Angesichts seines | |
| glitschig-fleischfarbenen Teints wird selbst dem unvoreingenommenen | |
| Betrachter rasch klar, warum sich die Konstrukteure des menschlichen | |
| Körpers, als sie vor der Frage standen: Soll der Wurmfortsatz draußen dran, | |
| gar ins Gesicht, so dass man ihn vor festlichen Anlässen schminken kann, | |
| oder verstecken wir ihn besser im Innenraum, einstimmig für die zweite | |
| Alternative entschieden. | |
| Da liegt er nun, eingeklemmt zwischen Blind- und Dickdarm, und hadert mit | |
| seinem Schicksal. Er zählt zu den menschlichen Organen mit dem | |
| schlechtesten Leumund. Man sieht es bereits am Namensumfeld: Wurm, Blind, | |
| Darm, Fortsatz, Entzündung – so reiht es sich in pejorativer Boshaftigkeit. | |
| Auch die lateinische Bezeichnung Appendix vermiformis macht es nicht | |
| besser: verformtes Anhängsel. Dem muss entgegengetreten werden: Auch der | |
| Wurmfortsatz hat seine Berechtigung, und wer sich von überkommenen | |
| Schönheitsidealen freimacht, der wird erkennen, dass er nicht einfach ein | |
| mittelfingergroßes Glibberding ist, das außer für üble Unterleibsschmerzen | |
| zu nichts taugt, sondern ein wohldurchdachtes Qualitätsorgan. Er ist die | |
| Piccoloflöte im Orchester der menschlichen Eingeweide. | |
| Zunächst zur Klarstellung: Wer noch immer Wurmfortsatz und Blinddarm | |
| gleichsetzt, für den sind auch Delfine immer noch Fische. Der Wurmfortsatz | |
| ist nicht der Blinddarm, sondern nur ein davon abgehender Zipfel. Der | |
| Blinddarm ist bereits begrifflich missraten. Ihn sich vorzustellen, zaubert | |
| nur den wenigsten Menschen ein Lächeln ins Gesicht. Er ist weder | |
| poesietauglich, noch kann er als Kosename für die Liebste dienen. Man | |
| verbindet damit nichts Positives, mit Darm nicht und mit blind schon gar | |
| nicht. | |
| Obwohl: Blind zu sein ist für einen Darm lange nicht so schlimm wie für | |
| einen, sagen wir mal: Seeadler. Schließlich muss ein Darm nicht zur Jagd | |
| raus, und da, wo er sich überwiegend aufhält, ist es ja sowieso dunkel. Ein | |
| Blinddarm kann sein Handicap weit besser kompensieren als ein Blindadler, | |
| da sind sich Darm- und Vogelkundler einig! | |
| Zudem haftet dem Blinddarm der Makel des Überflüssigen an. Aber deswegen | |
| muss man doch nicht den von ihm abgehenden Wurmfortsatz gleich | |
| mitverachten! Was kann so ein kleiner Wurmfortsatz denn für seine | |
| Verwandtschaft? Er hat sie sich nicht ausgesucht, genauso wenig wie wir die | |
| unsrige! Jeder von uns hat doch in der Familie mindestens einen Onkel, der | |
| säuft oder Helene Fischer hört. | |
| Der Wurmfortsatz punktet nicht mit Eleganz und gefälliger Gestalt. Sondern | |
| mit inneren Werten. Denn er ist das Rückzugsgebiet wichtiger Bakterien, | |
| wenn der Darm durch eine Durchfallerkrankung in Mitleidenschaft gezogen | |
| ist. Dann schlüpfen die guten Darmbakterien so lange dort unter, spielen | |
| zum Zeitvertreib ein bisschen Skat, Flatulenz oder „Bakterie ärgere dich | |
| nicht“, und wenn wieder Ruhe ist, kehren sie in den Darm zurück und bringen | |
| ihn wieder in Ordnung. | |
| Der Wurmfortsatz ist für die guten Darmbakterien das, was im Mittelalter | |
| die Wehrkirchen für die von Marodeuren bedrängte Zivilbevölkerung waren. | |
| Wer ein Herz für Darmbakterien hat, der kommt gar nicht umhin, „ja“ zum | |
| Wurmfortsatz zu sagen. Ohne ihn wäre die Welt um ein Körperorgan von | |
| stiller Größe und alternativer Schönheit ärmer. Der Wurmfortsatz – jeder | |
| sollte ihn längst als Spenderorgan in seinen Ausweis eingetragenhaben. | |
| Robert Niemann | |
| *** | |
| Warum das Ding verdammt werden muss | |
| In letzter Zeit macht die Blinddarm-Lobby wieder sehr viel Wind um das | |
| kleine Zipfelchen Gekröse: Von Funktionslosigkeit könne keine Rede sein, es | |
| sei eigentlich ein Organ der Immunabwehr, randvoll mit hilfreichem | |
| Lymphgewebe, infiziere sich ohnehin nur bei Kindern oder anderen | |
| Volltrotteln, die Kirschkerne verschlucken, und müsse darob nur selten | |
| wegoperiert werden. | |
| Von interessierter Seite gesteuert, wird in Sachen Caecum eine regelrechte | |
| Appeasementkampagne gefahren, in welcher der verfemte Appendix, dieses | |
| lächerliche Überhangmandat unter den Innereien, zu einer Art neuem | |
| Chakra-Punkt aufgewertet werden soll – gesund, bio, glutenfrei. Und das | |
| Schlimmste: Die Blinddarm-Lobby verleibt sich den strunzdummen Wurmfortsatz | |
| gleich mit ein, ein Kampagnentrick, dem auch wir aufgesessen sind – und | |
| deshalb im Folgenden den Blinddarm in Bausch und Bogen verdammen, wo wir | |
| doch eigentlich nur dessen lächerliches Anhängsel meinen. | |
| Appeasement ist ein Beschwichtigungsmuster, das wir auch von Guttenberg, | |
| Maschmeyer oder den Wiesenhof-Hühnchen kennen. Statt die Probleme zu | |
| benennen und sich gegebenenfalls zu entschuldigen, werden | |
| „Kommunikationsfehler“ angeführt: Der Blinddarm habe nur eine schlechte | |
| Presse und bis jetzt sei es leider nicht gelungen, dem Bürger den Sinn des | |
| Blinddarms zu vermitteln. Als wären die Probleme des Blinddarms einfach auf | |
| schlechte PR-Arbeit zurückzuführen! | |
| Nein, diese sind nämlich vor allem ideologischer Natur. Der Blinddarm ist | |
| der Reichsbürger unter den Organen: Blind in seinem Wahn, glaubt er an die | |
| Wiederkehr seiner goldenen Jahre; daran, dass sich die Menschheit dereinst | |
| wieder dem Wiederkäuen und dem Grasfressen widmen würde. Unfähig, sich auf | |
| das Risiko der Moderne einzulassen, träumt er von der guten alten Zeit, in | |
| welchem edle Wildsäuger mit tonnenschweren Verdauungsapparaten durch | |
| blühende Landschaften spazierten. Ähnlich wie Halsrippen, zusätzliche | |
| Brustwarzen oder überflüssige Augäpfel glaubt er, im Windschatten der | |
| Evolution überleben zu können, während er in einem winzigen Kämmerchen | |
| Kampfstoffe ausbrütet. | |
| Dass so jemand schlechte Presse bekommt, darf nicht wundern. Deshalb ist | |
| jede Kampagne, die darauf abzielt, nur oberflächlich das Image zu | |
| korrigieren, zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Der Blinddarm muss | |
| rausgeholt werden aus seiner Komfortzone, muss intensiv mit | |
| Bildungsangeboten, Reisen und einer geregelten Erwerbsarbeit in den Alltag | |
| eingegliedert werden. Wer dagegen die schockierenden Ansichten des | |
| Blinddarms relativiert, verhindert eine echte Rehabilitierung und erspart | |
| ihm die nötige Konfrontation mit unserer diversen, bunten Wirklichkeit! | |
| Denn merke: Es gibt keine schlechten Organe, es gibt nur schlechte | |
| Menschen! Man bedenke nur, wie wir einst über die Milz spotteten. Sie war | |
| als funktionslos verschrieen, als Schwester Leichtfuß, die mal hier, mal da | |
| in den Kreislauf hineingrabscht. Dank moderner Wikipedia-Artikel wissen wir | |
| heute, dass die Milz weit mehr ist als nur ein beliebiger Gewebeklumpen | |
| irgendwo zwischen Fingerniere und Zwölftondarm. Sie hat die Digitalisierung | |
| gemeistert, kommuniziert regelmäßig mit anderen Verkehrsteilnehmern, gibt | |
| ihren Followern Statusmeldungen, hält sich mit Yoga fit. | |
| Deswegen: Lassen wir den Blinddarm die Augen aufmachen! Führen wir ihn zum | |
| Licht, nehmen wir ihm Krückstock und Blindenhut ab! Und vor allem: | |
| Schneiden wir wieder Kinderbäuche auf, dass es nur so spritzt. Für ein | |
| besseres Morgen! | |
| Leo Fischer | |
| 8 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Niemann | |
| Leo Fischer | |
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