# taz.de -- Doku über Gewalt: Verrohtes Fernsehen | |
> Eine RBB-Dokumentation empört sich über Übergriffe auf Staatsdiener. Dazu | |
> bedient sich „Das verrohte Land“ leider der Propaganda. | |
Bild: Die Feuerwehr rüstet auf: Sichtschutz gegen Unfall-Gaffer | |
Da wird dem Bürgermeister des 17.000-Einwohner-Ortes Altena eine 30 | |
Zentimeter lange Messerklinge an den Hals gehalten, weil ein arbeitsloser | |
Maurer meint, der hätte etwas mehr für ihn und etwas weniger für die | |
Flüchtlinge tun sollen. Die Flüchtlinge ihrerseits beleidigen die Vertreter | |
des Staates als Nazis, „immer“. | |
Eine Personenschützerin lehrt im Landratsamt Waiblingen, dass Stühle auch | |
als Waffe taugen, während die Mitarbeiter des Bonner Ordnungsamtes im | |
Umgang mit dem Schlagstock trainiert werden, einmal die Woche. Um die | |
Empfangsdame im Bonner Rathaus wird ein Kasten aus Panzerglas gebaut. Ohne | |
solchen Schutz ist ein Busfahrer in Oberursel einem gewalttätigen Fahrgast | |
ausgeliefert, der nicht einsehen will, dass er für seine Busfahrten | |
bezahlen soll. Die einzige weitere Insassin steigt über den | |
schwerverletzten Busfahrer hinweg, ruft nicht einmal Notarzt oder Polizei. | |
Allerorten also werden Polizisten verprügelt, Rettungskräfte und | |
Feuerwehrleute beschimpft, bedroht und angegriffen.Dass der Staat sich | |
verteidigen muss, nicht nur mit Schlagstöcken, ist noch nicht überall | |
angekommen: „Zwei Jahre Haft auf Bewährung. Dafür, dass der Mann einem | |
Bürgermeister ein Messer an den Hals hielt.“ | |
Die Diktion des Off-Kommentars lässt keinen Zweifel, was die Filmemacher, | |
die Eheleute Katja und Clemens Riha, von dem Urteil halten – das ja auch | |
durchaus ein Fehlurteil sein mag: Der Zuschauer vermag das nur eben nicht | |
einzuschätzen, weil er zu dem Prozess nichts Näheres erfährt. | |
## Solidarität? Immer! | |
Lieber haben die Rihas den Bürgermeister aus ihm zugegangenen Drohungen | |
zitieren lassen – die nicht von dem Verurteilten stammen. Denn es geht | |
ihnen ja nicht um den Einzelfall. Es geht ihnen um die Summe der | |
Einzelfälle, um den kaleidoskopischen Blick auf das ganze Land: „Das | |
verrohte Land“. | |
Man möchte nicht eine der erzählten Leidensgeschichten bezweifeln und nicht | |
einem der Erzählenden die Solidarität und das Mitgefühl verweigern. Damit | |
scheint man allerdings zu einer aussterbenden Art zu gehören, denn „das | |
Mitgefühl schwindet“, konstatieren die Rihas in ihrem Titel außerdem. | |
Und es stimmt ja auch mit der eigenen Erfahrung überein. Man muss doch nur | |
einmal kurz in die U-Bahn steigen, um zu sehen, dass es immer weniger | |
Distanz und Schamgefühl und Erziehung gibt und immer mehr | |
Rücksichtslosigkeit und Aggression. Oder? | |
Oder besteht die Aufgabe von Journalisten nicht gerade darin, solche | |
subjektiven Eindrücke objektiv zu hinterfragen? Und ist die entscheidende | |
Frage nicht, wie repräsentativ die aneinandergereihten Fallschilderungen | |
überhaupt sind? | |
Weil es natürlich auch vor 20 oder 30 Jahren kein Problem gewesen wäre, | |
Staatsdiener für 45 Sendeminuten aufzutreiben, denen im Dienst für die | |
Bürger Schlimmes widerfahren ist. Weil doch die jüngste Kriminalstatistik | |
besagt, dass die Zahl der erfassten Straftaten 2017 auf dem niedrigsten | |
Stand seit Jahrzehnten war. „Deutschland ist sicherer geworden“, hat – | |
wortwörtlich – Innenminister Horst Seehofer verkünden müssen | |
## Wo sind die Tortendiagramme? | |
Dazu immerhin sagt der für die Rihas als Zeuge ihrer Anklage auftretende | |
Gewaltforscher Andreas Zick: „Wenn wir jetzt nur Tötungsdelikte angucken, | |
Mordfälle, schwere Körperverletzung, dann sehen wir: En gros sinkt das ja. | |
Aber das hilft uns überhaupt nicht, weil punktuell steigen bestimmte | |
Gewaltformen an.“ | |
Das muss als Erklärung genügen. Jede Wahlsendung in der ARD mutet dem | |
Zuschauer eine Abfolge von Säulen- und Tortendiagrammen zu. Die Rihas aber | |
verzichten darauf, ihre These vom verrohten Land mit einer einzigen | |
Statistik, mit ein paar wenigen Zahlen nur zu untermauern. Und welche | |
„Gewaltformen“ meint Zick eigentlich, wenn nicht die schwere | |
Körperverletzung (§ 226 StGB), um deren Fälle es in dem Film doch immer | |
wieder geht? | |
In dem immer wieder nur summiert, nicht differenziert wird. Zum Beispiel | |
der Arzt in Mönchengladbach, der den Mann, der seine Wunde über dem Auge | |
nicht von ihm behandeln lassen will, belehrt: „Nu, dat is keine Nötigung, | |
weil Sie nich selber entscheiden können, was jetzt Sache is.“ Und ob er das | |
kann – wenn er nicht offensichtlich geistig behindert, psychotisch, | |
alkoholisiert, dement etc. ist. Und dann wäre auch seine gewaltsame Abwehr | |
der medizinisch gebotenen Behandlung als Notwehr gerechtfertigt und das | |
Beispiel also ziemlich schlecht gewählt. | |
Ob die Dokumentation handwerklich schlecht gemacht ist, hängt nicht zuletzt | |
von den mit ihr verfolgten Absichten ab. Für ihre beachtlichen Qualitäten | |
auf den Gebieten der Suggestion und Angstmache gibt es einen altgedienten | |
Begriff: Propaganda. Und wenn sich ein öffentlich-rechtlicher Fernsehsender | |
dieser bediente, um zu spalten, dann könnte man ja gerade darin ein Symptom | |
der Verrohung erkennen. So rum würde ein Schuh daraus. | |
Man könnte die Kirche aber auch im Dorf lassen und kurz – en gros – die | |
Arbeitsteilung der Öffentlich-Rechtlichen bei ihren Doku-Formaten | |
rekapitulieren: Das ZDF ist halt allem Gefühligen arg zugetan („37°“) –… | |
die Dokus der ARD (und nicht nur der Rihas) haben eben gerne mal so eine | |
Neigung ins Reißerische. Herrje, allein schon der Titel. Das muss doch | |
nicht sein. | |
23 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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