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# taz.de -- Todesopfer rechter Gewalt in Berlin: Vorwärts gegen das Vergessen
> Die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt in Berlin ist nach oben
> korrigiert. Einer der Fälle: der Mord an Dieter Eich im Stadtteil Buch.
Bild: Die Demonstration am Mittwoch in Berlin Buch
Berlin taz | Ernst Busch, Bruno Apitz, Georg Groscurth: Die Straßen im
Plattenbauviertel von Berlin-Buch tragen die Namen des Widerstands im
Dritten Reich und der Opfer des deutschen Faschismus. Für Dieter Eich, der
hier in der neunten Etage eines Hochhauses in der Walter-Friedrich-Straße
in der Nacht vom 24. auf den 25. Mai 2000 von Neonazis ermordet wurde,
gibt es keinen Straßennamen, nicht einmal einen Gedenkstein. Dafür in jedem
Jahr einen „lebendigen Gedenkort“.
So zumindest sehen es die bis zu hundert DemonstrantInnen, die am
Mittwochabend durch den Stadtteil ziehen. Ihr jährliches Gedenken an Eich.
Begleitet von dichtem Polizeispalier, beobachtet von einem Dutzend lokaler
Neonazis und wiederholt gestört von deren Sprechchören, bewegt sich der Zug
durch die verschlungenen Gassen mit den traditionsreichen Namen.
Die vereinzelt aus ihren Fenstern schauenden AnwohnerInnen hören
Redebeiträge, die den brutalen Mord schildern. Dieter Eich war in seiner
Wohnung von vier Neonazis überfallen und misshandelt worden. Später kehrten
sie an den Tatort zurück und töteten Eich mit einem gezielten Messerstich
ins Herz und beseitigten Spuren, die auf sie verweisen könnten. Im späteren
Prozess waren zwar die Schläge und Tritte gegen das Opfer als rechtsradikal
motiviert klassifiziert worden, nicht jedoch der Mord. Der sei lediglich
zur Verschleierung der ursprünglichen Tat verübt und somit nicht politisch
motiviert gewesen. Dieser Einschätzung folgte auch das Landeskriminalamt
und zählte Eich bislang nicht zu den Todesopfern rechter Gewalt.
Das änderte sich Anfang diesen Monats. Auf Grundlage einer neuen Studie der
Technischen Universität Berlin werden Dieter Eich und sechs weitere
Menschen, die in Berlin durch Neonazis getötet wurden, in der offiziellen
Statistik geführt. Statt zwei Toten seit 1990 zählt das Land nun neun. Das
ist auch der Erfolg einer Langzeitrecherche des Tagesspiegels, der seit
2000 bundesweit Fälle tödlicher rechtsextremer Gewalt sammelt, genauso wie
die Amadeu-Antonio-Stiftung.
Beide lassen auch in anderen Bundesländern die Polizeistatistik sehr
unvollständig erscheinen. So werden mit den sieben weiteren Opfern aus
Berlin offiziell 83 Tote seit der Wiedervereinigung gezählt, der
Tagesspiegel listet insgesamt aber mindestens 150, die
Amadeu-Antonio-Stiftung 193. Zuletzt hatten Brandenburg und Sachsen-Anhalt
ihre Zahlen nach oben korrigiert.
## Täter- und Opferperspektive
Robert Lüdecke von der Stiftung erklärt die Diskrepanz der Zählungen mit
dem unterschiedlichen Blick auf die Verbrechen: „Während Justiz und Polizei
vor allem auf die Täter schauen und dabei ein recht eingeschränktes
Motivspektrum abbilden, ist uns die Opferperspektive besonders wichtig.
Also, was hat zur Eskalation des Tathergangs beigetragen.“ Das offizielle
Täterbild hebt sehr klar auf hochideologisierte Individuen ab. „Aber nicht
jede Tat mit zum Beispiel rassistischem Hintergrund wird von organisierten
Rechtsradikalen verübt.“ Rassismus oder Ausschluss unerwünschter anderer
Gruppen seien bisweilen bis tief in die Mitte der Gesellschaft verankert,
aus der heraus es auch zu Gewalt kommen kann und kommt.
Zur Demo im Gedenken an Dieter Eich in Buch steuert auch die
Obdachlosenhilfe einen Redebeitrag bei. Sie ist sich sicher: „Das Tatmotiv
war Sozialchauvinismus.“ Eich war lange obdachlos gewesen, ganz am Ende der
sozialen Leiter. Seine Mörder wollten nach eigenem Bekunden „einen Assi
klatschen“. Auch die Obdachlosenhilfe verweist auf Vorbehalte und
Aggressionen selbst der bürgerlichen Mitte, die wiederum Gewaltausbrüche
wie den gegen Eich auf perfide Weise legitimierten. Die
Erwerbsloseninitiative Basta betont den selben Punkt: „Der Hass auf Arme
gehört zur Mehrheitsgesellschaft.“
Blumen legen die TeilnehmerInnen der Demonstration am Haus in der
Walter-Friedrich-Straße, halten eine Gedenkminute ab. Die Polizeibeamten
verhindern hier weitere Störungen durch Neonazis, erst kurz vor Ende des
Weges stehen sie auf der Rampe eines lang geschlossenen und verwahrlosten
Ramschladens, rufen „Haut ab!“, fotografieren die Demo, die am S-Bahnhof
ihren Abschluss findet. Die meisten TeilnehmerInnen fahren zurück in die
Innenstadtbezirke.
Robert Lüdecke hofft, dass es gelingt, mit den unabhängigen Dokumentationen
über rechte Gewalt zu helfen ein realistisches Bild des Problems zu
etablieren, das auch von staatlicher Seite anerkannt wird. Allein dafür,
dass für Hinterbliebene die Frage nach dem Warum der Tat beantwortet werden
kann, ein ohnehin bestehender Verdacht bestätigt würde, mache die Frage der
korrekten Zählung der Todesopfer rechter Gewalt so wichtig. Aber auch
Entschädigungsfragen spielten eine Rolle. „Letztlich geht es um eine
Wiedergutmachung für das Versagen des Staates beim Schutz seiner Bürger.“
24 May 2018
## AUTOREN
Daniél Kretschmar
## TAGS
Amadeu-Antonio-Stiftung
Mord
Rechtsradikalismus
Hassverbrechen
Schwerpunkt #metoo
Gewalt
Schwerpunkt Rassismus
Brandenburg
Rechte Gewalt
Rechtsextremismus
Schwerpunkt Rechter Terror
Asylpolitik
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