# taz.de -- Debatte Neoliberalismus: Milchjungenrechnungen | |
> Der Neoliberalismus ist gescheitert. Warum finden seine simplen Postulate | |
> noch immer Anklang? Weil das Unmoralische uns so reizvoll scheint. | |
Wäre es nicht so traurig, man müsste lachen. Da hängt die ganze Welt dem | |
neoliberalen Glauben an, dass die Wirtschaft in der Wirtschaft gemacht wird | |
und die Politik die Märkte am besten ungestört arbeiten lässt. Getragen ist | |
das von einem Welt- und Menschenbild: Wenn alle nur ihrem Eigennutz folgen, | |
dann schlägt das in einer mirakulösen Wendung zum Nutzen aller um. | |
Weltfremden Theorien von den "effizienten Märkten" werden noch weltfremdere | |
Annahmen beiseite gestellt - etwa die von den "effizienten Finanzmärkten", | |
die stets zur bestmöglichen "Allokation von Kapital" führen. Für solche | |
Fantasiemodelle gibt es Nobelpreise, bis es dann zu einer etwas | |
"ineffizienten Allokation von Kapital" kommt - nämlich zum Totalkollaps der | |
Märkte, der tausende Milliarden Euro vernichtet. | |
So erweisen sich diese Annahmen als der "größte Irrtum in der Geschichte | |
des ökonomischen Denkens", wie der Yale-Professor Robert Shiller sagt. Aber | |
sind diese gefährlichen Flausen jetzt raus aus den Köpfen? Nicht wirklich. | |
Nachdem in den Monaten der Totalkrise alle kurzfristig wieder zu | |
Keynesianern wurden, probt die Mainstream-Ökonomie jetzt wieder ihr leises | |
Comeback. | |
Schon wieder schreiben diese simplen Besserwisser, die uns die Malaise | |
eingebrockt haben, die Kommentarseiten der Wirtschaftszeitungen voll. | |
Wieder heißt es, die überbordenden Staatsschulden seien unser Hauptproblem. | |
Erneut wird der Staat, der gerade erst die Märkte gerettet hat, zur Krake | |
erklärt, die das zarte Pflänzlein des Aufschwungs ruiniere - wegen der | |
Schuldenwirtschaft. Für viele Leute klingt das plausibel. Warum ist es | |
eigentlich so schwer, zu einer ökonomischen Alphabetisierung zu kommen? | |
Manche der Binsenweisheiten, mit denen man uns den Neoliberalismus | |
einzutrichtern versuchte, besitzen für den Alltagsverstand eine gewisse | |
Plausibilität. Dass "wir" alle sparen und den Gürtel ganz eng schnallen | |
müssen, wenn wir zu Wohlstand kommen wollen, leuchtet jedem Opa von nebenan | |
ein. Doch für Volkswirtschaften gilt etwas anderes: nämlich, dass sich | |
Länder nur arm sparen, dagegen aber reich investieren können. | |
Es gibt viele ökonomischen Fragen, bei denen der normale Hausverstand | |
spontan zu falschen Schlüssen neigt. So leuchtet schnell ein, dass höhere | |
Löhne für ein Unternehmen zunächst einmal "Kosten" sind und damit eine | |
zusätzliche Belastung darstellen. Deshalb sind viele Leute durchaus bereit, | |
die neoliberale Propaganda zu glauben, dass höhere Mindestlöhne Jobs | |
kosten. | |
Es braucht auch hier eine gewisse Abstraktionsleistung, um zu erkennen, | |
dass höhere Mindestlöhne sich in eine stabilere Binnennachfrage übersetzen. | |
In weiterer Folge sind sie sogar ein Ansporn für Unternehmen, produktiver | |
zu werden, was ihrerseits dann weitere Prosperität zur Folge hat. Erst | |
diese Kausalkette lässt den empirisch vielfach nachgewiesenen Sachverhalt | |
erklären, dass höhere Mindestlöhne zu mehr Beschäftigung führen, nicht zu | |
weniger. | |
Staaten konkurrieren nicht | |
Weit verbreitet ist auch der Irrglaube, dass Volkswirtschaften | |
gegeneinander konkurrieren, so wie Unternehmen das tun. Doch während ein | |
Unternehmen ein Interesse daran haben kann, die Konkurrenz | |
niederzukonkurrieren, ist es für eine Volkswirtschaft nicht erstrebenswert, | |
andere Volkswirtschaften niederzukonkurrieren. Denn wenn ein Land einmal | |
bankrott ist, kann es nichts mehr importieren. Darum gilt, dass alle | |
schlechter fahren, wenn sie sich gegenseitig niederdumpen - weil es dann in | |
letzter Konsequenz nirgends mehr Konsumenten gibt, die ihnen die Waren | |
abnehmen können. | |
Dass die theoretischen Prämissen der Freien-Markt-Ideologie einen gewissen | |
intellektuellen Reiz ausüben, hat aber noch eine Reihe von anderen | |
Ursachen. Eine davon ist ihre demokratische Anmutung. Die Idee rational und | |
effizient funktionierender Märkte verwirft jede Möglichkeit des steuernden | |
Eingreifens - etwa von Politikern - in die Wirtschaft, und baut statt | |
dessen auf die "Weisheit der Vielen". Der Gedanke dahinter lautet in etwa: | |
Minister, die Regeln aufstellen, oder Gewerkschafter, die Mindestlöhne | |
fordern, sollen ja nicht glauben, sie könnten "den Märkten" etwas | |
vorschreiben, denn die sind solchen Schreibtischhengsten immer überlegen. | |
Wunder des Egoismus | |
Der Minister kann zwei Universitätsstudien absolviert haben und auch sonst | |
ein blitzgescheiter Kerl sein. Dennoch kann er nie so viel "wissen" wie die | |
Märkte "wissen", in die die Informationsimpulse von Tausenden und Millionen | |
Marktteilnehmern eingehen - die Impulse von einfachen Männern und Frauen | |
eben, die morgens Brötchen und Milch kaufen, nachmittags Schuhe und abends | |
eine Versicherungspolice abschließen. Solchen Theorien ist ein | |
basisdemokratisches Pathos eigen, das betört. | |
Womöglich aber liegt der größte intellektuelle Reiz der marktradikalen | |
Doktrin an ihrer scheinbaren Amoralität. Dass sich, folgt man ihrem | |
Postulat, der Eigennützige und Egoistische als wahrhaft tugendhaft erweist, | |
weil er den allgemeinen Nutzen befördere, verleiht ihr besonderen Glanz. | |
Schließlich ist Unmoral cool, während Moral uncool ist. Wenn also die | |
Unmoral die eigentliche Moral ist, dann ist das besonders cool. | |
Schon John Maynard Keynes setzte das in ein Erstaunen, das er in folgende | |
Worte fasste: "Dass ihre Lehre, in die Praxis übersetzt, spartanisch und | |
oft widerwärtig war, verlieh ihr einen Anstrich von Tugend. Dass sich auf | |
ihr ein gewaltiger, starrer logischer Überbau errichten ließ, verlieh ihr | |
Schönheit. Dass sich mit ihr eine Menge sozialer Ungerechtigkeiten und | |
eindeutiger Grausamkeit als unvermeidliche Begleiterscheinung im Rahmen des | |
Fortschritt erklären und der Versuch, diese Dinge zu ändern, als | |
wahrscheinlich mehr Schaden als Gutes stiftend hinstellen ließ, trug ihr | |
das Wohlwollen der staatlichen Autorität ein." | |
Die "Befreiung der Märkte" macht vielleicht die Märkte "frei", uns alle | |
aber "unfreier", weil sie viele unnötig unter die Knute materieller | |
Bedrängnis zwingt. Diese Einsicht zu verbreiten ist immer noch eine | |
intellektuelle und volkspädagogische Herausforderung. ROBERT MISIK | |
6 Apr 2010 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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