| # taz.de -- Elf Bände von Wolfgang Pohrt: Wunderbar, dieses Kapital | |
| > Er kritisierte den Antisemitismus der Linken und las zuletzt Marx gegen | |
| > die Marxologen. Nun erscheinen die gesammelten Werke Wolfgang Pohrts. | |
| Bild: Wird ironisch zitiert: der Look der Blauen Bände der Marx-Engels-Werke | |
| Verfolgt man die Spur des Reichsbürgergequatsches vom | |
| Immer-noch-nicht-souveränen-Deutschland in die frühen Achtzigerjahre | |
| zurück, stößt man nicht nur auf die üblichen rechten Verdächtigen. Es | |
| finden sich auch linksradikale Punksongs, die dazu aufriefen, die | |
| „Besatzer“ endlich rauszuschmeißen. | |
| Zahlenmäßig besser aufgestellt als antiamerikanische Punks war die | |
| Friedensbewegung. Ihr widmete Wolfgang Pohrt eine Polemik, die 1981 in der | |
| Zeit und der taz erschien. Unter dem fiesen Titel „Ein Volk, ein Reich, ein | |
| Frieden“ sammelte Pohrt Indizien für die These, dass es sich bei der | |
| Friedensbewegung um eine „deutschnationale Erweckungsbewegung“ handelte. | |
| Wurde wegen der geplanten Nachrüstung des amerikanischen Atomwaffenarsenals | |
| in der Bundesrepublik doch geklagt: „Kein Deutscher kann diese | |
| bedingungslose Unterwerfung der Interessen unseres Volkes unter fremde | |
| Interessen, diese Auslieferung der Verfügung über die Existenz unseres | |
| Volkes an eine fremde Regierung hinnehmen.“ | |
| Nicht nur drohte für viele Linke wegen der Pershing-Raketen der Untergang | |
| der Deutschen. Die deutsche Sprache sei amerikanisiert, hieß es, es | |
| herrsche eine „Yankee-Kultur“, das Nationalgefühl der Deutschen sei | |
| „gedrückt“. Pohrt hatte eine klare Antwort darauf: „Nicht von fremden | |
| Mächten, sondern von deutscher Polizei, von der Gestapo und der SS wurden | |
| die Menschen, an die wir uns erinnern, ermordet und vertrieben. Im Ausland | |
| fanden manche Asyl. Dass wir hier weitgehend unbehelligt leben können, | |
| verdanken wir keiner deutschnationalen Souveränität, sondern dem Sieg der | |
| Alliierten.“ Das kam nicht gut an. | |
| „Wo Pohrt erscheint, bleiben Proteste nicht aus. Ich kenne keinen zweiten | |
| Autor, der es in so kurzer Zeit geschafft hätte, alle, an die er sich | |
| wendet, gegen sich zu mobilisieren, die Linken, die Alternativen, die | |
| Bürgerlichen“, schrieb Henryk M. Broder in seiner Spiegel-Rezension von | |
| Pohrts „Pamphleten und Essays“, die 1982 unter dem Titel „Endstation. Üb… | |
| die Wiedergeburt der Nation“ erschienen sind. Es war sein zweites Buch, wie | |
| das erste bei Rotbuch erschienen. Und wie er selbst später festhielt, hatte | |
| Pohrt seine größten publizistischen Erfolge nun auch schon hinter sich. | |
| ## Über die Grenzen seines Milieus | |
| Die folgenden Bücher Pohrts, meist ebenfalls Sammlungen von Vorträgen, | |
| Artikeln und Essays, veröffentlichte fortan Klaus Bittermann in seinem | |
| Verlag Edition Tiamat. Jetzt hat Bittermann mit der Herausgabe einer | |
| Pohrt-Gesamtausgabe begonnen, was mehr als nur recht und billig ist, weil | |
| Pohrt einer der schärfsten und brillantesten Gesellschaftskritiker der | |
| Bundesrepublik war. Aus gesundheitlichen Gründen schreibt Wolfgang Pohrt | |
| nicht mehr. | |
| Seine Bücher erschienen in kleinen Auflagen, doch Pohrt erreichte über die | |
| Grenzen seines Milieus hinaus Leute, die seine Fähigkeit zu schätzen | |
| wissen, „Signale aufzufangen, die an anderen vorbeirauschen“, wie Broder | |
| treffend schrieb, um dann zu fragen: „Ist das noch Empfindlichkeit, ein | |
| Horchen auf Verbindungen, die unter der dünnen Oberfläche liegen und nach | |
| leichtem Kratzen ans Tageslicht kommen, oder ist es schon Hysterie, die | |
| sich den Gegenstand, an dem sie sich entzündet, selbst herstellt?“ Der | |
| Widerspruch ist keiner, denn der Hysteriker erfindet nichts. Er zweifelt | |
| nur alles an, zuerst sein eigenes Verhältnis zur Welt. | |
| ## Das wiedervereinigte Deutschland als Farce | |
| Wo andere mit einem Gedanken Karriere machen, überwarf sich Pohrt immer | |
| wieder mit sich selbst. Manchmal zu Recht, manchmal zu Unrecht. | |
| „Denunziation ohne Selbstdenunziation ist öde“, befand er. Über sich und | |
| die Genossen von 1968 schrieb er: „Die Studentenrevolte war eine | |
| sozialistische Bewegung von Kleinbürgern.“ Pohrt weiß, dass Gedanken ihre | |
| Zeit haben und aus ihrer Zeit kommen. | |
| Auf seine Texte berief sich der „antideutsche“ Flügel der radikalen Linken | |
| in den Neunzigern. Bis Pohrt 2003 erklärte, dass sich das wiedervereinigte | |
| Deutschland als Farce eines Nationalstaats entpuppt habe: „Gestehen muss | |
| ich folglich, dass ich derzeit nicht in der Lage bin, irgendetwas | |
| hervorstechend Fremdenfeindliches oder Antisemitisches zu erkennen, das aus | |
| der Tiefe der deutschen Seele kommen und sich dort aus ergiebigen Quellen | |
| speisen würde.“ Er distanzierte sich von Texten, die „geholfen haben, | |
| dieses komische Antideutschtum mit Argumenten zu versorgen, das sich heute | |
| als ideologische Schutzmacht der USA aufspielt“. | |
| Der Look der Gesamtausgabe zitiert ironisch die Blauen Bände der | |
| Marx-Engels-Werke. Erschienen sind jetzt Band 3 („Honoré de Balzac. Der | |
| Geheimagent der Unzufriedenheit“) und Band 10. Pohrt erklärt in | |
| „Kapitalismus forever“ und „Das allerletzte Gefecht“, die den Kern von … | |
| 10 bilden, warum Marx-Exegese keine Revolutionäre hervorbringt und dass der | |
| Kapitalismus dem Krisengeraune der Marxologen zum Trotz so schnell nicht | |
| verschwinden wird, weil er eine Dauerkatastrophe ist, die dem Wesen des | |
| Menschen entgegenkommt, auch wenn ihm das Kapitalverhältnis wie eine zweite | |
| Natur gegenübertritt. „Wunderbar, dieses Kapital, einfach wunderbar. Sein | |
| einziger Daseinszweck besteht darin, sich zu vermehren – wie das Leben | |
| selbst. Und wie das Leben selbst schöpft es aus der Vergänglichkeit des | |
| Irdischen seine ewige Kraft.“ | |
| ## Kritiker der bundesdeutschen Linken | |
| In Band 10 findet sich auch der einzige biografische Text Pohrts: „Wie | |
| Adorno und Horkheimer mich vor einem Studienabbruch bewahrten“. 1945 | |
| geboren, brach er 1964 das Gymnasium „mitten in der Abiturklasse aus sehr | |
| privaten Gründen ab“. Er haute von zu Hause ab und wurde Hilfsschlosser bei | |
| Siemens in Berlin. Abends holte er das Abitur nach und studierte | |
| Soziologie, erkannte aber bald: „In einer Stunde Physikunterricht am | |
| Gymnasium habe ich mehr gelernt als an der Uni in einem Semester.“ Er | |
| begann, sich ins Fach einzulesen, und weil er alphabetisch vorging, befand | |
| sich im ersten Stapel, den er aus der Bibliothek nach Hause trug, die | |
| „Dialektik der Aufklärung“. | |
| Geschult an Marx, Adorno und Horkheimer wurde Pohrt zu einem der | |
| wichtigsten linken Kritiker der bundesdeutschen Linken. Die | |
| Linksalternativen der späten Siebziger und frühen Achtziger hielt er für | |
| die Massenbasis der neuen nationalen Erweckungsbewegung, die sich unter | |
| anderem durch „Blut-und-Boden-Geraune, Heimatgeflüster, Gebärfreude und | |
| Mutterkult“ sowie durch „die Liebe zu den bleichen Müttern, den | |
| Trümmerfrauen, zur Rohkost, zur Natur und zum Heidekraut“ auszeichne. | |
| Bestätigt durfte er sich fühlen, als eine Wohngemeinschaft in einem | |
| Leserbrief an die taz fragte: „Ist Wolfgang Pohrt Jude?“ Das konnte ja | |
| nicht anders sein, dachten sich wohl die Wohngenossen Detlev, Walli, | |
| Harald, Thor, Friederike, Lothar und Renate, weil Pohrt in der taz Kritik | |
| daran geübt hatte, dass unter Linken die israelische Invasion im Libanon | |
| als „Genozid“, „Holocaust“ und als „Endlösung der Palästinenserfrag… | |
| die Juden“ bezeichnet wurde. Er hegte den Verdacht, dass Leute aus seiner | |
| Generation die Opfer ihrer Väter dringend zu Tätern machen wollten. Seine | |
| von immer neuen Signalen ausgelöste Kritik trug maßgeblich dazu bei, dass | |
| wenigstens Teile der Linken begriffen, dass es auch linken Antisemitismus | |
| gibt. | |
| 5 May 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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