Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 50 Jahre „68“: Extrem rechte Spaßguerilla
> 1968 ist auch die Geburtsstunde der Neuen Rechten. Was sie von der
> Bewegung gelernt hat – und worum es der Linken heute gehen muss.
Bild: Die Kunst der Provokation haben die Neuen Rechten von den 68ern gelernt
Universität Wien, 2013. Ein Hörsaal des Instituts für Politikwissenschaft.
Der Vortrag hat gerade begonnen, da steht einer der Studenten auf, bewegt
sich in Richtung Podium und überreicht der Referentin Natascha Strobl eine
gelbe Rose. „Frau Strobl, dürfen wir Sie zu unserem Stammtisch einladen?
Damit Sie einmal nicht über uns, sondern mit uns reden?“ Die
Wissenschaftlerin ist verärgert, sagt: „Du kannst diese Rose behalten“, und
fährt mit ihrem Vortrag fort. Zehn Minuten später steht der nächste auf und
tut das gleiche. So geht das ein Weile weiter. Bis die genervte Politologin
sagt: „Jeder, der eine Rose hat, verlässt sofort den Saal.“
Die Schilderung dieser Szene stammt von Martin Sellner. Er ist Sprecher der
rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich, zu der auch die jungen
Leute im Saal gehörten, die gelbe Rosen verteilten. Über die ideologische
Herkunft der Identitären, ihre Strategien und Ziele hatte Natascha Strobl
in ihrem Vortrag aufklären wollen. Am Ende sei die Veranstaltung zerrüttet
gewesen, die Linken hätten sich gegenseitig argwöhnisch angeguckt. Für sie,
die Identitären, sei das hingegen ein ziemlicher Spaß gewesen, erinnert
sich Sellner im Gespräch mit sichtlichem Vergnügen.
Das Vorgehen der Identitären in dieser Szene ähnelt Spaßguerilla-Aktionen,
wie sie die studentische Jugend von 1968 etabliert hatte. Doch während bei
den Rechten von heute der Sturz des vermeintlichen Systems (konkret: der
Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel) im Mittelpunkt steht, ging es den
Linken vor fünfzig Jahren um die Solidarität mit nationalen
Befreiungsbewegungen in der »Dritten Welt«.
Schüler, Lehrlinge und Studenten begehrten auf gegen Autoritäten in
Betrieb, Schule und Behörden, gegen eine rigide Sexualmoral, körperliche
Züchtigung als Erziehungsmethode und die Springerpresse. Die
Gleichberechtigung der Geschlechter wurde gefordert. Schwule und Lesben
begannen, für ihre Interessen zu kämpfen. Studentinnen begehrten gegen das
arrogante Macho-Getue der meist männlichen Wortführer des Protests auf.
Hochschulreformen sollten eine größere Beteiligung des akademischen
Nachwuchses an der Uni-Verwaltung und der Gestaltung der Lehrinhalte
ermöglichen. Der Leitspruch hieß: „Unter den Talaren – Muff von 1000
Jahren“.
Hinzu kam die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nazi-Regimes.
Abgelehnt wurde die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD unter der
Kanzlerschaft des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Kurt Georg Kiesinger. Es ging
gegen die Einschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses durch
die Notstandsgesetze und den geplanten Einsatz der Bundeswehr im Inneren.
Vor allem ging es gegen einen Kapitalismus, der die globale Ungleichheit
verschärfte und immer mehr Bereiche der Lebenswelt funktionalen Zwängen und
dem Diktat der Kommerzialisierung auszusetzen drohte.
## Freiheit ohne Kommunismus
Die Linken antworteten darauf mit der Forderung nach einer Demokratisierung
der Wirtschaft. Privates Eigentum sollte öffentlich werden, die ökonomische
Planung sich nicht mehr am Eigennutz, sondern am Gemeinwohl orientieren.
Die Saat für die künftige basisdemokratische Gesellschaft glaubte man schon
vor der als notwendig erachteten sozialistischen Revolution im Hier und
Jetzt pflanzen zu können. Kinderläden und Kommunen entstanden – eine
Gegenkultur aus linken Verlagen, Buchhandlungen, Kneipen, Kinos, Bands und
selbst verwalteten Betrieben.
„Gute Manieren“, Pünktlichkeit und fraglose Arbeitsdisziplin gerieten
dagegen in Misskredit. Mit dem sprunghaften Anstieg der Studierendenzahl,
die auf das Bedürfnis der zunehmend technisierten Wirtschaft nach
wissenschaftlich ausgebildeten Arbeitskräften zurückzuführen ist, hatte der
Nonkonformismus die Chance, in breitere Schichten hinein zu wirken.
Lebensmodelle, die zuvor in den Nischen der bürgerlichen Gesellschaft von
kleinen Avantgarde-Bewegungen erprobt worden waren, wurden auf diese Weise
populär.
Während den Akteuren eine zivilgesellschaftliche Veränderung der
Bundesrepublik Deutschland gelang, ja sogar ihre politisch-kulturelle
Aneignung, versagten sie im Hinblick auf ihr einstiges revolutionäres
Hauptziel. Statt den Kapitalismus zu überwinden, trugen sie zu seiner
Modernisierung bei. Der Kommunismus der Freien, wie er der Protestbewegung
1968 vorschwebe, verwandelte sich in eine Freiheit ohne Kommunismus. Und
während die Achtundsechziger in jungen Jahren gegen imperialistische Kriege
demonstrierten, ließen sie als Politiker der rot-grünen Regierung im Jahre
1999 die jugoslawische Hauptstadt Belgrad bombardieren und schickten die
Bundeswehr nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nach Afghanistan. Von
einem demokratischen Sozialismus scheint die Bundesrepublik fünfzig Jahre
nach 68 weiter entfernt als je zuvor.
Das ist der Hintergrund, vor dem sich derzeit erneut eine Kulturrevolution
abzeichnet. Wieder geht es gegen das liberale Establishment, wieder
formierte sich eine außerparlamentarische Opposition gegen eine Große
Koalition. Diesmal kommt der Impuls jedoch nicht von links, sondern von
rechts. »Das Anti-1968 ist da«, verkündete Wolfgang Weimer, der Verleger
des Magazins The European, in einem Artikel über die gegenwärtige
konservative Revolte. Tatsächlich ist unbestritten, dass 1968 auch für das
rechte Lager der Beginn eines Erneuerungsprozesses war, der bis heute
anhält. Das Denken der in der Identitären Bewegung oder im Umfeld der AfD
wirkenden Vertreter der Neuen Rechten lässt sich nur adäquat verstehen,
wenn man begreift, wie sehr ihre Feindbilder wie andererseits auch ihre
Strategien durch die 1968er-Bewegung geprägt sind. Fest steht: 1968 ist
nicht nur die Geburtsstunde einer neuen Linken jenseits der
Sozialdemokratie, sondern auch die einer Neuen Rechten.
Wer heute nach mehr direkter Demokratie ruft, auf die Meinungsmacht von
Presse, Funk und Fernsehen schimpft, die Kriege des Westens verurteilt, das
politische Establishment verdammt, sich religionskritisch äußert (gegenüber
dem Islam) oder die Durchsetzung von Frauenrechten fordert, gibt sich nicht
selten als Anhänger von Pegida oder AfD zu erkennen. In den sechziger
Jahren war es die SPD, die sich von einer Arbeiter- in eine Volkspartei
verwandelte und in diesem Zuge linkes Terrain aufgab. Während die
Merkel-CDU vielen Konservativen keine Heimat mehr bietet, steht die AfD
unter dem Einfluss von strategisch klugen Rechtsintellektuellen, die – bei
aller demonstrativen Gegnerschaft – eine Menge von den 68ern gelernt haben.
## Verunsicherung der Institutionen
Der rechte Verleger Götz Kubitschek hat sein später von den Identitären
übernommenes Aktionskonzept im jahrelangen Austausch mit den 68ern Günter
Maschke und Bernd Rabehl entwickelt. Die ehemaligen Mitglieder der
„Subversiven Aktion“ nutzten das Mittel der Provokation, um die
Institutionen zu verunsichern. Die Vertreter des Establishments sollten zu
Überreaktionen verleitet und auf diese Weise als repressiv entlarvt werden.
Heute sind es die linksliberalen Akteure des Kulturbetriebs, die sich auf
diese Weise verunsichern lassen. Man lässt unliebsame Bücher von
Bestsellerlisten verschwinden und erteilt prophylaktisch symbolische
Hausverbote an potenzielle Theaterbesucher von Rechtsaußen.
Dabei ist das Theater, wie der Dramaturg Bernd Stegemann betont, „von
seinem Wesen her ein Ort der Öffentlichkeit, an dem der zivilisierte
Widerspruch ausgetragen werden sollte.“ Jakob Hayner, Redakteur der
Zeitschrift Theater der Zeit, hat angemerkt, dass gesellschaftliche
Konflikte auf dem Theater nicht gelöst, sondern lediglich dargestellt
werden könnten. Gerade darin besteht aber sein fortschrittliches Potenzial.
Gesellschaftliche Konflikte können dort so aufbereitet und sinnlich
erfahrbar gemacht werden, dass die dahinter liegenden gegensätzlichen
Interessen deutlich werden und Veränderungsmöglichkeiten aufscheinen.
Es wird Zeit, dass die Kulturlinke wieder lernt, dass moralische Empörung
zwar der Ausgangspunkt von politischer Kunst sein kann, nicht jedoch ihr
Inhalt sein darf. Mit einem noch so entschiedenen Flagge-Zeigen gegen
rechts wird den gewitzten Protagonisten der Neuen Rechten nicht beizukommen
sein. Sprachkritik ist wichtig, darf die Frage nach Klassensolidarität
jedoch nicht verdrängen. Die in Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften
ausgebildete akademische Linke pflegt einen Jargon, der AbsolventInnen
ökonomischer oder technischer Fächer kaum noch verständlich und für
Brückenschläge zu gering qualifizierten abhängig Beschäftigten völlig
ungeeignet ist. Auf Bildungsveranstaltungen der Linkspartei habe ich in
Betrieben tätige Basisaktivisten darüber klagen hören, dass noch so kluge
Arbeiter kaum eine Chance hätten, in der Parteihierarchie aufzusteigen.
Nach wie vor geht es um das noch uneingelöste Versprechen von 1968: die
Überwindung kapitalistischer Herrschaft. Und immer noch geht es um
Antworten auf drängende Fragen wie diese: Wer verfügt über die
Produktionsmittel im 21. Jahrhundert? Wer gebietet über die von uns
unablässig produzierten Daten? Sollen wir sie privaten Monopolkonzernen
überlassen oder sie in die demokratisch kontrollierte öffentliche Hand
überführen? Was haben die Kriege in Syrien und anderen Ländern des
Mittleren und Nahen Ostens mit Kapital- und Großmachtinteressen zu tun?
## Überlegenes theoretisches Rüstzeug
Wie gelangen Menschen aus ganz unterschiedlichen beruflichen Zusammenhängen
und mit verschiedenen Diskriminierungserfahrungen zu der Einsicht, dass sie
gemeinsame Interessen haben, für die es sich auch gemeinsam zu kämpfen
lohnt? Und: wie können Forderungen, die gender- und migrations-, umwelt-
und behindertenpolitische Gruppen in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt
haben, auf eine produktive Weise in die Klassenauseinandersetzungen
eingebunden werden?
Die Linke muss sich wieder bewusst werden, dass ihr theoretisches Rüstzeug
auf diesem Gebiet dem der Rechten haushoch überlegen ist. Allerdings muss
sie dazu die Massen erreichen und mobilisieren. Stellt sie sich dieser
Aufgabe nicht, könnte die Rechte ihr politisches Erbe als die Gesellschaft
verändernde Kraft antreten.
3 Jan 2018
## AUTOREN
Thomas Wagner
## TAGS
Schwerpunkt 1968
Studentenbewegung
Neue Rechte
Identitäre
Wolfgang Kraushaar
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Schwerpunkt 1968
Götz Kubitschek
Schwerpunkt 1968
Lesestück Meinung und Analyse
Schwerpunkt Gegenöffentlichkeit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wolfgang Kraushaar zur 68er-Bewegung: Als Frank Zappa kein Taxi bekam
Die Chronik „Die 68er-Bewegung“ zeigt, was an den 60er-Jahre-Bewegungen
fasziniert: der Gleichklang von Politik, Pop und Globalem.
Debatte Rhetorik der Rechten: Brabbelbrabbel HeimatNation brabbel
Provozieren, relativieren, immer wieder die gleichen Begriffe platzieren:
Der rechtsextreme Sprech ist als Grundrauschen in den Alltag eingesickert.
Ausstellung über Beate Klarsfeld: Eine Ohrfeige für Kiesinger
Klarsfeld verpasste Kiesinger für sein Mitläufertum im Nationalsozialismus
einen Schlag ins Gesicht. Eine Pariser Ausstellung erinnert an ihre
Nazi-Jagd.
Buch über die Geschichte der 68er: Die Befreiung der Gesellschaft
Heinz Bude veröffentlicht in seinem Buch „Adorno für Ruinenkinder“ einen
Remix früherer Interviews und fragt sich, wieviel 1945 in 1968 steckt.
Debatte zum Schriftsteller Simon Strauß: Treibstoff für die Reaktionären
Ist der FAZ-Redakteur Simon Strauß wirklich der neue Messias der deutschen
Literatur? Mit seiner Ultraromantik bedient er die Agenda der Rechten.
Was 2018 wichtig wird in Berlin I: Die 68er werden 50!
Es wird Debatten geben: Die politischen Entwicklungen, für die die
Jahreszahl 1968 zu einer Chiffre geworden ist, sind umkämpft wie lange
nicht mehr.
Essay Kulturbegriff der Neuen Rechten: Das Lebendige verfehlen
Es sind die Ressourcen der Selbsthinterfragung, stupid! Was sich dem
Kulturbegriff der Neuen Rechten entgegenhalten lässt.
Die Medien nach Ohnesorg: Manipulation und Wahrheit
Nach dem 2. Juni 1967 sahen West-Berliner Zeitungen Demonstranten als „rote
SA“. Die Studenten forderten Gegenöffentlichkeit. Ein Rückblick.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.