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# taz.de -- Essay Kulturbegriff der Neuen Rechten: Das Lebendige verfehlen
> Es sind die Ressourcen der Selbsthinterfragung, stupid! Was sich dem
> Kulturbegriff der Neuen Rechten entgegenhalten lässt.
Bild: Auch innerhalb einzelner Kulturen steckt die Produktivkraft erst in den A…
Die neurechten Vordenker der AfD sind – neben allem, was sie sonst noch so
sind – Deutschlands größte Kulturrelativierer. Von der prinzipiellen
Überlegenheit der deutschen oder der westlichen Kultur haben sie sich
verabschiedet. Und ersetzt haben sie das durch eine Theorie der
Gleichwertigkeit homogener Völker in ihren jeweiligen Lebensräumen, also
von afrikanischen Völkern in Afrika, europäischen Völkern in Europa,
arabischen Völkern in Arabien usw. Eine Kultur sei dort stark, wo sie
entstanden ist, und sie verliere an Kraft, wenn sie diesen Raum verlässt.
Das läuft unter Ethnopluralismus.
Gegen dieses Konzept kann und muss man viel sagen. Zunächst einmal: Wer
nach Gründen sucht, weshalb die Menschen in ihrer Heimat bleiben sollen,
sprich: weit weg von Deutschland, dem passt es gut in den Kram. Das Konzept
hat etwas Zynisches.
Außerdem produziert es nur Klischees. Im Kern haben wir es mit einem
stillgestellten Huntington zu tun. Statt um einen Kampf der Kulturen geht
es hier um ihr gegenseitig abgeschottetes Nebeneinander. Aber das Statische
bleibt, und wie die einzelnen Kulturen beschrieben werden, hat mehr mit
eigenen Projektionen als mit Realitäten zu tun.
Das wichtigste Gegenargument ist aber: Das Konzept verfehlt das Lebendige,
ständig Schöpferische, das doch erst den Kern des Kulturellen ausmacht.
Wahr ist, dass etwas Kulturelles an einem bestimmten Ort und zu einer
bestimmten Zeit entsteht und dass beides Einfluss auf es hat. Aber damit
„gehört“ es nicht diesem Ort. Jedermann kann es rezipieren, es benutzen
oder anderweitig ergreifen. Es ist sowieso womöglich in Abgrenzung zu
anderen kulturellen Ereignissen entstanden oder in Anlehnung an sie.
Ständige Transformationen, nicht bleibende Werte machen Kulturen aus.
## Abwertung der eigenen Kultur
Im Umfeld der Neuen Rechten mag es also viel Gewese um „Zustand unseres
kulturellen Daseins“ (Götz Kubitscheck) geben. Doch wenn man genau
hinsieht, werten die Neuen Rechten nicht nur die sogenannten fremden
Kulturen eben doch ab, sondern auch die sogenannte eigene Kultur. Indem sie
sie identitär festnageln wollen, nehmen sie ihr die Kraft. Offenbar
sträuben sie sich dagegen, sich von Kunstwerken die blinden Flecken im
eigenen Denken ausleuchten zu lassen.
In dieser Lage wünscht man sich dem aktuellen Buch des französischen
Philosophen François Jullien die richtigen Leser. Es heißt programmatisch
„Es gibt keine kulturelle Identität“ und ist ein schmales
Edition-Suhrkamp-Bändchen, das mit Gedanken nur so vollgepackt ist (wenn
man durch die Begriffsbestimmungen am Anfang durch ist, wird es richtig
interessant).
Das Buch setzt überzeugend auf die Lebendigkeit von Kultur und zählt – das
ist der Punkt! – ausdrücklich die Möglichkeit, sich von sich selbst zu
distanzieren und den eigenen Dogmatismus zu hinterfragen, zu ihren
Ressourcen. In einer Zeit, in der der westliche Universalismus hinter uns
liegt und man die ganze Welt nicht mehr nur aus europäischer Perspektive
betrachten kann, bietet Jullien damit einen Weg an, die Existenz
verschiedener Kulturen anzuerkennen und doch zugleich nach ihrem
Gemeinsamen zu suchen.
Statt von Unterschieden der Kulturen spricht Jullien von ihren Abständen.
Diese Abstände sind wichtig, sie ermöglichen erst das Produktive an
Kulturen, das eben darin besteht, „sich anderen Kulturen, Sprachen und
Denkweisen auch weiterhin zuzuwenden, sich ihnen entgegenzustrecken; und
dementsprechend nie aufzuhören, an sich zu arbeiten, sich zu verändern –
mit anderen Worten: lebendig zu bleiben“.
Auch innerhalb der einzelnen Kulturen steckt die Produktivkraft erst in den
Abständen zwischen Positionen. Sich etwa zwischen Christentum und
rationalem Laizismus als Basis für eine europäische Kultur entscheiden zu
wollen (bei Debatten über die Präambel einer europäischen Verfassung gab es
diese Alternative) erscheint in dieser Perspektive töricht. Erst die
Spannung zwischen den Positionen macht das Lebendige aus.
„It’s the Kultur, Stupid“ heißt in der aktuellen New York Review of Books
der lange Artikel, in dem Timothy Garton Ash den Aufstieg der AfD
nachzeichnet. Mit Jullien kann man nun sagen: Der Titel ist nicht exakt.
Keineswegs die Kultur selbst ist das Entscheidende, sondern ein bestimmter
Begriff von ihr. Gegen die Globalisierung rettet sich die Neue Rechte in
das vermeintliche Eigene einer Kultur, aus der allerdings die in ihr
ständig ablaufenden gegenläufigen Bewegungen von Hetero- und
Homogenisierung schlicht weggedacht werden.
Nun hat man keineswegs den Eindruck, dass die Vertreter der Neuen Rechten
von solchen Argumenten zu überzeugen wären. Aber darum geht es auch nicht.
In den anstehenden kulturpolitischen Debatten wird es vielmehr wichtig
sein, die Mitte davor zu bewahren, ihr kulturelles Selbstverständnis
(wieder) vermehrt in identitären Begriffen auszulegen. Hat man dafür die
richtigen Argumente? Auch für solche Klärungsprozesse sind die Vorschläge
von François Jullien hilfreich.
So wird in Kreisen, die man vielleicht immer noch als bildungsbürgerlich
bezeichnen kann, etwa im Kreis der Kulturstaatsministerin Monika Grütters,
viel auf die deutschen kulturellen Traditionen abgehoben, die sich um
Gemeinschaftsstiftung drehen. Kant. Schiller. Das Fundament vieler
kulturpolitischen Reden in Deutschland besteht jedenfalls in der These: Im
Rezipieren von Kunst finden die Menschen zwanglos zusammen. Das wird dann
anlassbezogen mal akademisch und mal bürgernah ausformuliert.
## Auch subkulturell gibt es Klärungsbedarf
Dagegen kann man aber immer einwenden: Aber sie zerstreuen sich auch
wieder! Und überhaupt bringen doch erst die Traditionen, die radikal auf
subjektives Erleben setzen und damit den Abstand zur Gemeinschaft markieren
– Nietzsche, der frühe Brecht, der Expressionismus, Benn, was weiß ich:
Rainald Goetz –, die Abgründe, über die sich die Menschen zusammenfinden,
ins Bild. Und, ein Beispiel von vielen, das Gewagte und vor den
aufgehobenen Widersprüchen innerlich gleichsam noch Bebende der Klassik
kommt doch gerade erst in der Gegenüberstellung zu Kleist gut heraus.
Will sagen: Die Neue Rechte hat sich in dem kulturellen Feld einen aus
ihrer Warte, wenn man nicht aufpasst, ziemlich attraktiven Platz für
gesellschaftliche Auseinandersetzungen ausgesucht. Auch bürgerliche Kreise
setzen bei Identitätsstiftung auf Kultur. Wie ernst man es, staatstragend,
mit der Selbsthinterfragung meint, wird demnächst etwa das Humboldt-Forum
in Berlin zeigen. Es könnte für die Spannungen innerhalb des Kulturellen
ein gutes Beispiel werden. Oder auch nicht.
Auch subkulturell gibt es Klärungsbedarf. Erfolg von Vertretern von
Minderheiten im kulturellen Feld wird derzeit gern interpretiert als
Anerkennung der jeweiligen Gruppe, die der Künstler repräsentiert.
Gesellschaftspolitisch ist das auch verständlich. Kulturell ist es
allerdings höchstens die eine Seite der Medaille. „Kultur hat“, schreibt
Jullien, nicht die Funktion, dem nach Anerkennung strebenden Subjekt dabei
zu helfen, ein Selbstbild zu konstruieren.“ Kultur zielt immer auch auf das
Gegenteil: auf die Förderung der Fähigkeit der Subjekte, sich von Herkunft
oder den Gruppen, in die man eingeordnet wird oder selbst einordnet, zu
lösen. Erst das bedeutete richtige Integration.
François Jullien ist weder Poptheoretiker noch Avantgardist. Er ist für
Latein- und sogar Griechischunterricht an den Schulen und auch sonst oft
kulturell konservativ. Aber es ist ein Konservatismus, mit dem man ins
Gespräch kommen kann und den sich hierzulande Botho Strauß zum Beispiel
selbst verbaut. Mit Jullien mag man darauf setzen, dass es dann und wann
tatsächlich gelingt, die Ressourcen der kulturellen Abstände dazu zu
nutzen, ein geteiltes Gemeinsames zu entwickelt – und es, bevor es sich
verhärtet, gleich wieder zu zerstreuen. Und genau das wäre etwas, was sich
dem identitären Kulturbegriff der Neuen Rechten gut entgegenhalten ließe.
12 Dec 2017
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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