# taz.de -- Die richtigen Entscheidungen treffen: Das Unlösbare | |
> Islamistische Terroristen planen einen Anschlag in Deutschland. Vor | |
> diesem Hintergrund spielt Ute-Christine Krupps Roman „Punktlandung“. | |
Bild: Polizeieinsatz im einem Haus in Düsseldorf. Dort wohnte ein mutmaßliche… | |
Etwa in der Mitte des Buches bekommt Paul Jost von seinem besten Freund | |
Frank aus Bonn seinen Beruf erläutert: „Es ist eine Rolle, die man | |
beruflich auszufüllen hat, erklärt Frank ihm. Nicht du als Mensch bist | |
gefragt, sondern deine Funktion zählt. | |
Andere Mitarbeiter solltest du nicht in ihrer Komplexität sehen, sondern in | |
ihrer Funktion. Du darfst keine Angst haben, keine Panik kriegen, das führt | |
zu Fehlentscheidungen. Ein kühler Kopf ist immer wichtig.“ Jost antwortet | |
darauf, ein kühler Kopf sei in seinem Job nicht immer möglich. | |
Dieser Job besteht aktuell darin, wir schreiben das Jahr 2011, Mitglied | |
einer Sonderkommission zu sein, die geplante Anschläge von al-Qaida in | |
Deutschland verhindern soll. Hinweise darauf stammen von einem Aussteiger, | |
der gegen Geld genauere Informationen liefern will. Josts Aufgabe in dieser | |
Kommission ist es, über das Abhören von Telefonaten zu entscheiden. | |
Er ist also „ein Held der inneren Sicherheit“, um einen [1][Romantitel von | |
F. C. Delius] aus dem Jahr 1981 zu zitieren. Dessen Protagonist, Roland | |
Diehl, war aber eher der Redenschreiber und Chefideologe des entführten | |
Präsidenten eines Wirtschaftsverbandes, der im Roman „Verband der | |
Menschenführer“ und in der Realität „Bundesverband der Deutschen | |
Arbeitgeberverbände“ hieß. | |
Sehr deutlich lehnte sich das Buch an die Geschichte der Entführung und | |
Ermordung von Hanns Martin Schleyer im Jahr 1977 an. Am Ende ist Diehl | |
einer der Gewinner dieser Ereignisse und steigt auf der Karriereleiter nach | |
oben. | |
## Der Roman orientiert sich an einem authentischen Fall | |
Auch Ute-Christine Krupps Roman orientiert sich an einem | |
zeitgeschichtlichem Fall, der unter der Chiffre „Düsseldorfer Zelle“ | |
verbucht wurde. Vier mutmaßliche Al-Qaida-Mitglieder planten eine Reihe von | |
Anschlägen, bei denen möglichst viele Menschen getötet werden sollten. | |
Krupp hat sorgfältig recherchiert, vermeidet es aber souverän, sich von den | |
Ergebnissen ihrer Recherche erschlagen zu lassen, weil es um den Fall | |
selbst gar nicht geht. | |
Worum dann? Zuallererst um Paul Jost und die Konflikte, in denen er sich | |
befindet und die nicht nur beruflicher, sondern auch privater Natur sind. | |
Dieser Paul Jost ist im Gegensatz zu Delius’ Helden ein ausgesprochener | |
Sympathieträger. Er ist intelligent, zur Selbstreflexion wie zur Reflexion | |
seines Umfelds fähig und der Konfliktlage, in der er sich bewegen muss. | |
Die ließe sich am ehesten im Kontrast zu Giese, Vorsitzender der | |
Sonderkommission, formulieren. „Nie würde Giese sagen, wir handeln gegen | |
die Unschuldsvermutung, er würde sagen: Unsere Aufgabe ist die | |
Gefahrenabwehr. Die Unschuldsvermutung kann bei der Gefahrenabwehr nicht | |
gelten.“ Paul Jost dagegen fragt sich: „Habe ich nicht Jura studiert, um | |
die Freiheitsrechte zu wahren, die Grundrechte des Einzelnen zu schützen?“ | |
Nun ist er aber in einem Dilemma, das sich in der Frage zuspitzt: „Keiner | |
möchte abgehört werden oder überwacht werden, wenn aber ein Anschlag | |
passiert, ist eine der ersten Fragen: Wieso hat man ihn nicht verhindert? | |
Bei der Terrorfahndung geht es darum, vor einer Tat zu ermitteln, Maßnahmen | |
wie das Abhören von Telefonaten sind einfach unerlässlich.“ | |
Krupps Buch ist nun aber alles andere als ein Thesenroman über die Frage, | |
welche Position in diesem Dilemma – Grundrechtsschutz contra Gefahrenabwehr | |
– die korrekte ist. Giese etwa, Vertreter der Gefahrenabwehr, wird | |
keineswegs als Betonkopf geschildert, auch wenn es eine Weile braucht, bis | |
ein differenzierter Blick auf ihn fällt. Und auch, wenn Paul Jost der | |
personale Erzähler dieses Romans ist, ist er keineswegs auch nur | |
ansatzweise das Alter Ego der Autorin. | |
## Die Autorin tritt vollständig hinter ihren Text zurück | |
Überhaupt habe ich lange keinen Roman mehr gelesen, dessen Autorin so | |
vollständig hinter ihren Text zurücktritt, als wolle sie exemplarisch noch | |
einmal das Flaubert’sche Modell der impersonalité, impassibilité und | |
impartialité vorführen. | |
Gleichzeitig hat diese unsichtbare Autorin ein lebhaftes Interesse an ihren | |
Figuren. Anders als bei Franks eingangs zitiertem Ratschlag an Jost, sieht | |
Krupp ihre Akteure und Akteurinnen sowohl in ihrer Funktion als auch in | |
ihrer Komplexität. Dadurch gewinnt der Roman, der zunächst ein bisschen in | |
dem gehetzten Hier und Jetzt der deutschen Gegenwartsliteratur, in einem | |
sehr dominanten Präsens also beginnt, nach und nach an Tiefe. | |
Paul Jost ist als Sohn eines erfolgreichen Architekten an einem Ort | |
aufgewachsen, der so sehr „alte Bundesrepublik“ ist wie wenige andere: in | |
Bonn-Poppelsdorf mit seinen „Gründerzeitbauten, den überzuckerten Fassaden, | |
dem übermächtigen Stuck“. Anders als Kaspar Hauser möchte er durchaus nicht | |
mal ein solcher werden wie sein Vater. | |
„Mein Vater hat einen Sohn“, denkt Paul, als er an einen zurückliegenden | |
Besuch bei den Eltern denkt, „der in einem Verwaltungsjob versauert, zur | |
Miete wohnt, mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. Du übernimmst keine | |
Verantwortung, triffst keine Entscheidung, präzisierte der Vater seine | |
Vorwürfe.“ | |
Pauls persönlicher Abschied von den Eltern wird dadurch versinnbildlicht, | |
dass er, sobald er aus dem Haus und in den frühen Neunzigern nach Berlin | |
gegangen ist, nicht mehr den Tatort am Sonntagabend sieht. Nach Berlin ist | |
er wegen der vielen Baustellen gezogen, wegen des Unfertigen, „weil sich | |
für mich mit dieser Stadt die Hoffnung verband, die richtige Lebensform zu | |
finden“. | |
## Das übliche Scheitern | |
Diese Hoffnung mündet allerdings in das übliche Scheitern: eine Ehe, die | |
gerade zu Ende gegangen ist, mit zwei Kindern. Seine Frau Gesine, Tochter | |
eines Pfarrers und einer Pfarrerin, ist in der DDR aufgewachsen, hat, | |
seitdem sie im Westen lebt, „dauernd das Gefühl, so viel falsch zu machen“. | |
Ihr Ehrgeiz, Kunstgeschichte zu studieren, was sie in der DDR wegen ihrer | |
Eltern nicht durfte, erlischt schnell. Sie ist zufrieden mit ihrem Bürojob | |
und widmet sich ansonsten der Gartenarbeit. | |
Inzwischen ist Paul Jost im Netz auf der Suche nach einer neuen Frau. Die | |
verschiedenen Arten, dabei zu scheitern, schildert Krupp mit soziologischem | |
Blick, aber abseits aller verlockenden Klischees. Schön die erste Begegnung | |
in einem Charlottenburger Lokal mit Conny, bei der schnell klar wird, dass | |
dies eine völlig fremde Welt für sie ist. Sie hat große Mühe gehabt, das | |
Lokal zu finden. „Ich war vorher noch nie in Charlottenburg, sagt sie | |
irgendwann.“ | |
Besonders hübsch ist das, wenn man weiß, dass umgekehrt mancher | |
Charlottenburger noch nie in Treptow oder Lichtenberg war. Daraus wird also | |
nichts, aus anderen Kontakten wird etwas mehr, aber die vielleicht | |
„Richtige“ (nebenher: eine Profiteurin der fortschreitenden Gentrifizierung | |
Berlins, eine sehr eindrückliche Szene) lernt Paul Jost auf ganz analoge | |
Art und Weise und mithilfe seines Freundes Frank kennen. Wie es weitergeht, | |
bleibt am Ende – das nicht in Berlin, sondern in Brüssel angesiedelt ist – | |
allerdings offen. | |
Offen bleibt vieles in diesem Roman, das macht seine Stärke aus. Zwar | |
werden am Ende nach einem Tipp des amerikanischen Geheimdienstes – hier | |
orientiert sich die Handlungsführung ganz an der zeitgeschichtlichen | |
Realität – die potenziellen Terroristen festgenommen und alle Anschläge | |
verhindert, zwar wird Paul Jost, der richtige Entscheidungen getroffen hat, | |
der Aufstieg angeboten, aber das Offene, Unentschiedene, vielleicht sogar | |
Unlösbare macht die eigentliche Essenz des Romans aus. | |
Josts neue Freundin Clarissa – seine Tochter Tilda sagt ihm auf den Kopf | |
zu: „Du hast dich verliebt, Papa“, und sie muss es wissen, denn sie ist | |
dreizehn –, Clarissa also bringt es auf den Punkt, dass man Leben nicht | |
planen könne. | |
## Sehnsucht nach der Zeit der Fünfjahrespläne | |
Seine Ex-Frau Gesine dagegen äußert in einer anderen Szene einmal ihre | |
Sehnsucht nach der Zeit der Fünfjahrespläne. Jost selbst kommt am Ende zu | |
der Erkenntnis, dass das Leben seines Vaters stets die Basis für seine | |
Lebensentscheidungen war „nicht so wie der, dachte er, bevor er überlegte, | |
wie sein Leben aussehen soll“. Vielleicht kann er dieser Falle entkommen, | |
als Leser wünscht man ihm das, denn er ist, wie schon erwähnt, ein | |
Sympathieträger. | |
Als alles ausgestanden ist, sitzen sich Giese und Jost in der Kantine | |
gegenüber, und Jost greift automatisch nach seinem Diensthandy. „Giese | |
grinst: Sie werden wahrscheinlich ein paar Tage brauchen, um sich diese | |
Handbewegung abzugewöhnen. – Die Anstrengungen der letzten Wochen, sagt | |
Paul Jost. – Ich weiß, antwortet Giese.“ So lapidar das alles klingt, es | |
ist eine der schönsten kleinen Szenen in diesem an schönen kleinen Szenen | |
nicht armen Buch (eine andere ist die mit der Schuhspitze einer | |
Talk-Show-Moderatorin.) | |
Der ganze Roman vermittelt, entgegen der Notwendigkeit für die Akteure, | |
punktgenaue Entscheidungen zu treffen und richtige Schritte zur richtigen | |
Zeit zu ergreifen, eher eine Atmosphäre des Schwebenden und der | |
Melancholie. László F. Földényi hat vor einiger Zeit in einem | |
Rundfunkinterview zu seinem Buch „Lob der Melancholie“ gesagt: „Der | |
Melancholiker, der grübelt, der will nicht alles lösen, der ist zufrieden | |
mit der Unlösbarkeit von vielen Dingen. Und er weiß, dass unser Leben auf | |
einer hauchdünnen Membran steht.“ | |
Von dieser „hauchdünnen Membran“ und der „Unlösbarkeit von vielen Dinge… | |
hat uns in ihrem Roman Ute-Christine Krupp einiges mitgeteilt. Statt dass | |
das aber niederschmetternd wirkt, kann man als Leser daraus nur Trost | |
ziehen. | |
17 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jochen Schimmang | |
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