Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Mein Kriegsende 1945: „Wir tanzten in Prag“
> Zeitzeugen erinnern sich (Teil 6): Nikolaj Kurilenko, Rotarmist, hatte
> gehofft seinen Bruder in Auschwitz zu finden.
Bild: Nikolaj Kurilenko
Nikolaj Kurilenko ist 92 Jahre alt. Nach dem Krieg heiratete er und bekam
drei Kinder. Er arbeitete bei der U-Bahn in Kiew:
„An den 9. Mai 1945 kann ich mich noch gut erinnern. Wir waren damals
gerade in Prag eingetroffen. Die Bevölkerung hatte uns sehr herzlich
empfangen. Die Menschen sind zu unseren Fahrzeugen gekommen, haben unsere
Uniformen berührt. Abends hörten wir Musik und tanzten. Und ich habe den
Krieg Revue passieren lassen. Zwei Ereignisse haben sich besonders tief in
meiner Seele eingeprägt:
Dass ich nicht mit Hass auf die Deutschen als 16-Jähriger an die Front kam,
liegt an einer Begebenheit, die ich während der deutschen Besatzung
erlebte. Ein Polizist der Feldgendarmerie, er hieß Kreusel, hatte zunächst
meine Mutter erschießen wollen. Doch als er sah, dass sie sieben Kinder
hatte, hat er von seinem Vorhaben abgelassen, griff sich statt dessen drei
ukrainische Männer von der Straße. „Schieß“, befahl er einem deutschen
Soldaten, der ihn begleitet hatte. Doch der deutsche Soldat begann zu
weinen und weigerte sich, auf die Männer zu schießen. Da zog Kreusel selbst
die Pistole und tötete die Männer mit Genickschüssen.
Ein weiterer Tag, der mich nicht mehr loslässt, ist die Befreiung des
Konzentrationslagers Auschwitz. Ich hatte gehofft, dort meinen Bruder zu
finden. Seit seiner Verschleppung nach Deutschland hatte ich nichts mehr
von ihm gehört. Während die anderen Soldaten meiner Einheit das Lager
befreit hatten, hatte ich im Auto zurückbleiben müssen, weil ich noch so
jung war.
Aber ich habe gesehen, wie die ehemaligen Gefangenen und die ehemaligen
Aufseher, jetzt selbst Gefangene, herausgekommen sind. Die Gefangenen waren
so dürr, nur Haut war auf ihren Knochen, sie trugen gestreifte Kleidung.
Einige von ihnen warfen mit Steinen auf die gefangenen Aufseher und
schrien: „Bringt sie um, bringt sie um!“ Ja, sie waren verzweifelt, weil
sie am Leben waren, viele andere aber nicht mehr.
Mit einigen der Befreiten habe ich gesprochen. Die ehemaligen Gefangenen
erzählten mir schreckliche Dinge, sprachen von Tausenden, die umgebracht
worden sind, vergiftet, ertränkt. Und sogar die Medizin hat man gegen sie
eingesetzt, schreckliche Dinge. Aber keiner hatte meinen Bruder gesehen.
Erst nach dem Krieg traf ich meinen Bruder wieder.“
Aufgezeichnet von Bernhard Clasen
Zuletzt erschienen:
(5) [1][Claus Günther, Hitlerjunge]
(4) [2][Eric Axam, britischer Soldat]
(3) [3][Ljudmila Kotscherzhyna, verschleppt aus der Ukraine]
7 May 2020
## LINKS
[1] /Mein-Kriegsende-1945/!5682098
[2] /Mein-Kriegsende-1945/!5682092
[3] /Mein-Kriegsende-1945/!5682094
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Schwerpunkt Tag der Befreiung
Lesestück Recherche und Reportage
Russland
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Umgang mit Zweitem Weltkrieg in der DDR: Unterm Gras die Knochen
Der Krieg war vorüber. Eltern und Kinder misstrauten sich wie Fremde.
Wieder jagten die Jungs mit den Hakenkreuzen Menschen. Nichts war vorbei.
Streit zwischen Tschechien und Russland: Prager Denkmalsturz
Bezirksbürgermeister Ondřej Kolář lässt die Statue eines Sowjetmarschalls
abräumen – Moskau droht. Jetzt steht Kolář unter Polizeischutz.
Ende des Zweiten Weltkriegs am 2. Mai: Sieg über Fanatismus und Fantasie
An den Wänden stehen Durchhalteparolen. Die Berliner suchen Schutz in
U-Bahnhöfen. Am 2. Mai 1945 erobert die Rote Armee die Hauptstadt
Nazideutschlands.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.