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# taz.de -- 75 Jahre Kriegsende: Triumph und Trauer
> Am 8. und am 9. Mai wird des Endes des Zweiten Weltkriegs gedacht. Die
> Erinnerungen in der Ukraine und Russland sind dabei grundverschieden.
Bild: Eigenes Gedenken an den Sieg der Roten Armee: Kiew am 9. Mai 2019
Es werden Vorführungen der Superlative sein: Mit 660 Flugzeugen und
Hubschraubern werden russische Städte am 9. Mai die größten Flugshows in
der Geschichte Russlands erleben. Gleichzeitig werden sich im Internet
Hunderttausende an der Aktion „Das Unsterbliche Regiment“ beteiligen. Wer
mitmacht, stellt ein Foto eines Verwandten online, der im Krieg gekämpft
hat.
Der 9. Mai, Tag des Sieges der Roten Armee über Nazideutschland im Großen
Vaterländischen Krieg von 1941 bis 1945, ist in Russland der
identitätsstiftende Feiertag des Jahres. Dieses Jahr der 75. Jahrestag.
Diesen Triumph beansprucht Russland für sich. Dass auch Soldaten aus
anderen Republiken zu diesem Sieg beigetragen haben, geht genauso unter wie
der Beitrag der westlichen Alliierten. Diese hätten nur eine geringe Rolle
gespielt, meint Petr Tolstoj, stellvertretender Sprecher der russischen
Staatsduma und Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates.
Seit 2015 gedenkt das offizielle Kiew genauso wie die westlichen Staaten
einen Tag vor Moskau, am 8. Mai. Das ist nicht nur eine Abwendung von
Moskau. Kiew macht auch deutlich, dass man Russland nicht die
Deutungshoheit über den Zweiten Weltkrieg lassen will. Für Kiew ist es
nicht akzeptabel, dass sich Russland als zentrales [1][Opfer des
Faschismus] präsentiert. Schließlich war die Ukraine und nicht Russland zu
hundert Prozent besetzt. Über dreißigtausend Juden wurden allein in der
Kiewer Schlucht Babyn Jar von den deutschen Besatzern und ihren
ukrainischen nationalistischen Helfershelfern ermordet.
Nicht hinnehmbar ist für die Ukraine der in Russland gebräuchliche Begriff
„Großer Vaterländischer Krieg“, begann dieser doch erst 1941 mit dem
deutschen Überfall auf die Sowjetunion.
## Hitler-Stalin-Pakt
In der Westukraine herrschte schon 1939 Krieg. Und der war ein Ergebnis des
Hitler-Stalin-Paktes, bei dem Deutschland und die Sowjetunion Polen unter
sich aufgeteilt hatten. Das damals polnische Lemberg war der Sowjetunion
zugeschlagen worden. Ein großer Teil der männlichen Bevölkerung Lembergs
kämpfte in der polnischen Armee. Von 1939 bis 1945 hat die Stadt, in der
vor Kriegsbeginn ein Drittel der Bevölkerung jüdisch war, 90 Prozent der
Einwohner verloren. Durch die sowjetischen und die deutschen Besatzer, die
Lemberg 1941 nach dem Überfall auf die Sowjetunion einnahmen. Insbesondere
im Westen der Ukraine waren nicht nur Verfolgung und Vernichtung durch die
Deutschen an der Tagesordnung. Auch Stalins [2][Geheimdienst NKWD]
verbreitete Angst und Schrecken.
Der ukrainische Präsidenten Selenski sieht in der deutsch-sowjetischen
Aufteilung Polens von 1939 auch eine Mitschuld der Sowjetunion am Zweiten
Weltkrieg. Eine Äußerung, die von Wladimir Putin umgehend zurückgewiesen
wurde.
Neu ist der Streit nicht. Wiktor Juschtschenko, der nach den
Demonstrationen der Orange Revolution gegen Wahlfälschungen 2005 als
Präsident an die Macht gekommen war, hat einen eigenen ukrainischen Kurs in
der Deutung der Geschichte gefahren. Juschtschenko machte das Gedenken an
die in der Sowjetunion totgeschwiegene Hungersnot von 1932 und 1933,
hervorgerufen durch die von Moskau befohlene Beschlagnahmung der Ernte, den
„Holodomor“, zur Chefsache. Es waren vor allem Menschen der ukrainischen
Landbevölkerung, die dieser Hungersnot zum Opfer fielen. 2006 verurteilte
das ukrainische Parlament den Holodomor als Genozid.
Gleichzeitig wurden unter Juschtschenko der frühere Oberkommandierende der
Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), Roman Schuchewytsch, und
Nationalistenführer Stepan Bandera zu Helden erklärt. Inzwischen sind nach
ihnen Straßen benannt, und Denkmäler der beiden finden sich in vielen Orten
der Westukraine,
## Erinnerungskultur entzweit
Die Erinnerungskultur entzweit nicht nur Russland und die Ukraine. Auch in
der Ukraine werden am 8. und 9. Mai die einen Veteranen der Nationalisten
von OUN und UPA ehren, die anderen andere am Kiewer Denkmal des
sowjetischen Armeegenerals General Watutin, der Kiew von den Faschisten
befreit hatte, Blumen niederlegen.
Doch längst ist der Streit über die Geschichte mehr als ein Austausch
verbaler Feindseligkeiten. Seit 2014 herrscht Krieg zwischen der Ukraine
und den ostukrainischen Separatisten von Donezk und Luhansk und damit auch
mit Moskau. Viele der gegenseitigen Vorwürfe haben einen historischen
Bezug. Gerne bezeichnet man in Russland alle Ukrainer als „Banderowzy“, als
Anhänger von Stepan Bandera. Und in der Ukraine hat man Angst vor einem
Land, in dem Stalin populär ist. Da passt es auch ins Bild, dass die
Separatisten von Donezk ihrer Stadt für den 9. Mai vorübergehend den Namen
Stalino gegeben haben.
Internationale Akteure bemühen sich um einen Waffenstillstand. Doch
Truppenentflechtungen, eine Freilassung von Kriegsgefangenen und ein
Waffenstillstand reichen nicht aus, wenn man nachhaltig ein Zusammenleben
von Menschen mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen ermöglichen will.
Wenn man eine weitere Eskalation verhindern will, müssen auch historische
Fragen auf die Tagesordnung. Es ist zu überlegen, ob nicht auch ein Dialog
über die Geschichte möglich ist, der auch ein Nebeneinander
unterschiedlicher Vorstellungen zulässt. Der Holodomor, die zeitweilige
Zusammenarbeit ukrainischer Nationalisten mit der Wehrmacht, die
Beteiligung ukrainischer Nationalisten an den Erschießungen in Babyn Jar,
die Hinrichtungen durch den sowjetischen Geheimdienst (NKWD) müssen
Gegenstand eines russisch-ukrainischen Dialogs werden. Und wenn dieser auf
offizieller Ebene nicht möglich ist, muss er auf Nichtregierungsebene
geführt werden. Vorbild können schon jetzt funktionierende Dialogprojekte
ukrainischer und russischer Menschenrechtsorganisationen sein.
8 May 2020
## LINKS
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[2] /Geheimdienste-in-Russland/!5483568
## AUTOREN
Bernhard Clasen
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