| # taz.de -- Ukrainist über Krieg und Frieden: „Tiefes Gefühl der Hilflosigk… | |
| > Der Greifswalder Ukrainist Roman Dubasevych sieht seine | |
| > kulturwissenschaftlichen Analysen durch den Krieg bestätigt. Glücklich | |
| > ist er darüber nicht. | |
| Bild: Hoffnung auf antiautoritäre Streitkräfte: Ein Bild des Malers David Chi… | |
| taz: Herr Dubasevych, wie verändert der Krieg die ukrainistische Forschung? | |
| Roman Dubasevych: Die Frage lässt unterschiedliche Antworten zu … | |
| Sie hatten im März gesagt, die Grenzen zum Aktivismus würden durchlässiger. | |
| Das bezog sich aufs zivilgesellschaftliche Engagement gleich nach Beginn | |
| des Angriffs, als man Hilfstransporte zu betreuen hatte und hier so viele | |
| Menschen ankamen, die man zum Arzt begleiten und für die man Übersetzungen | |
| erledigen musste. Da gab es eine Spannung zwischen dem Wunsch, Menschen zu | |
| helfen und sich den intellektuellen Herausforderungen zu widmen: Wie soll | |
| ich über den Krieg denken? | |
| Und das tut nun der Forschungsverbund UNDIPUS – also „Undisciplined: | |
| Pluralizing Ukrainian Studies“? | |
| Nein. Das ist ein [1][bundesweiter Zusammenschluss aus sechs Projekten], | |
| die schon vor dem Angriff nationale Identitätskonstruktionen in der Ukraine | |
| kritisch zu untersuchen begonnen hatten. | |
| Seit Februar finanziert ihn das Bundeswissenschaftsministerium. Eine | |
| Zeitenwende? | |
| Natürlich nicht, das Projekt ist fast zwei Jahre gereift. Dennoch hatte die | |
| Vorstellung, dass mit diesem Krieg eine Zeitenwende eingetreten ist, ein | |
| sehr starkes Echo in meinem Fach gehabt: Es gab eine Reihe von Stimmen, die | |
| das Stichwort Dekolonisierung ins Spiel gebracht haben, im Sinne einer | |
| Dezentrierung der Slawistik, weg von der alles beherrschenden Russistik. | |
| Ich denke, jede Gesellschaft tut gut daran, ihre Ressourcen zunächst in | |
| Forschung und Aufklärung zu investieren, bevor sie Milliarden in Waffen | |
| steckt. Wenn wir dahin kommen – das würde ich natürlich voll unterstützen. | |
| Ich habe aber den Eindruck, dass es mitunter darum geht, russozentrische | |
| durch ukrainozentrische Forschung und imperiale durch ukrainische | |
| Nationalmythen zu überschreiben. | |
| Das Wort „Zeitenwende“ wirkt ja selbst mythisierend: Es kappt die | |
| Vorgeschichte. Dagegen wirken im jetzigen Diskurs die in Ihrem Buch | |
| „Sirenen des Kriegs“ 2019 beschriebenen Narrative fort, zumal der | |
| gegenseitige Vorwurf genozidaler Bestrebungen. Ist das nicht schrecklich zu | |
| sehen, wie sich das bestätigt? | |
| Es ist erschütternd. Als Wissenschaftler müsste man sich ja freuen, mit | |
| seinen Analysen und Prognosen richtig gelegen zu haben. Aber als Mensch? | |
| Diese Bestätigung der eigenen Ahnungen erzeugt ein tiefes Gefühl des | |
| Scheiterns und der Hilflosigkeit. Denn, auch wenn dieser Umstand nicht die | |
| gleiche Verantwortung bedeutet: Im gesellschaftlichen Klima beider Länder | |
| hatte sich die Kollision schon lange angekündigt. | |
| Die verändert auch die Bilder, mit denen sich Gesellschaft reflektiert: Als | |
| Cover hatten Sie das Gemälde „Der Krieg eröffnet Möglichkeiten für Neonaz… | |
| auf beiden Seiten“ des anarchistischen Künstlers David Chichkan gewählt, | |
| das die bilaterale Faschisierung infolge des Konflikts auf den Punkt | |
| bringt. Seine gegenwärtige Produktion [2][wirkt dagegen fast patriotisch …] | |
| Das Tragische an jedem Krieg ist, dass er eine Dynamik der Dehumanisierung | |
| und des Hasses in Gang setzt, die eine paradoxe Symmetrie zwischen Täter | |
| und Opfer herstellt. David Chichkan war einer der wenigen ukrainischen | |
| [3][Künstler, der diese Dialektik erfasste]. Zugleich stehen die | |
| Kunstschaffenden in der Ukraine enorm unter Druck. | |
| Weil auch der Konflikt durch den Einmarsch eindeutiger geworden wäre? | |
| Natürlich schafft ein Krieg Eindeutigkeit. Jede Konfrontation tut das. | |
| Greif an oder stirb!, Flucht oder Attacke, die Mehrdeutigkeiten des zivilen | |
| Lebens verschwinden. Aber in der Sache macht der Krieg nichts eindeutig. | |
| Was es gibt, ist ein Diskurs der Eindeutigkeit – vonseiten der Falken. | |
| Sie halten dagegen die Bedeutung einer Position des Intellektuellen hoch, | |
| also jenseits von Schwarz-Weiß-Malerei? | |
| Ja. Ich gebe zu, ich beobachte die Talkshows mit Erstaunen, weil darin, | |
| gerade von ukrainischer Seite, nur bestimmte Perspektiven vertreten sind. | |
| Es gibt ja auch andere Ideen in der Ukraine, wie der Ausweg aus dem | |
| Konflikt aussehen könnte. Man könnte auch Menschen zu Wort kommen lassen, | |
| die in der Opposition waren und deren Parteien und Medien jetzt verboten | |
| wurden. Ich fürchte, sie halten den Mund aus berechtigter Angst um die | |
| Konsequenzen. | |
| Es gibt Anfeindungen? | |
| Allein für ein paar warnende Kommentare vor dem Krieg auf Facebook schlug | |
| mir nicht nur eine Hasswelle entgegen, prompt wurde ich in einem Artikel | |
| der wichtigsten westukrainischen Nachrichtenplattform als Putinversteher | |
| und Befürworter der Kapitulation abgestempelt. Obwohl ich weder die | |
| Verantwortung des russischen Regimes noch seinen Militarismus bestritten | |
| habe. | |
| Belasten solche Tabuisierungen auch die Forschung? | |
| Ja. Es gab zu Beginn des Kriegs Kolleg*innen, die mich freundschaflich | |
| gewarnt haben: Roman, mit deiner Position schadest du der Ukrainistik und | |
| zerstörst auch deine eigene Reputation. Ich bin mir nicht sicher, ob diese | |
| sehr geschätzten Kolleg*innen jetzt genauso denken wie damals, Anfang | |
| März: Der russische Angriffskrieg hatte ein klares Urteil eingefordert, auf | |
| Basis von Völkerrecht und Ethik. | |
| … die doch eindeutig sind?! | |
| Ja, die sind eindeutig. In der internationalen Politik geht es aber auch um | |
| Fragen der Macht, des Einflusses, letztlich des guten Willens. Das Denken | |
| in absoluten Kategorien, auch des Guten, kann Desaster produzieren, wenn es | |
| um das Schicksal von Millionen Menschen geht. Fragt man die Menschen aus | |
| der Kampfzone oder auf der Flucht, würde man womöglich andere Töne als aus | |
| der Politik hören … | |
| Trotz der exterminatorischen Verbrechen von Butscha? | |
| Sie sind schlimm und machen sprachlos. Es ist klar, dass dort | |
| Kriegsverbrechen, wahrscheinlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit, | |
| begangen wurden. Aber gewinnen wir etwas, wenn wir ihnen vorschnell einen | |
| genozidalen Charakter zuschreiben? Geht es hier um die Opfer oder um | |
| Skandalisierung? | |
| Als Kulturwissenschaftler misstrauen Sie den Bildern? | |
| Nein, sie sind wichtige Zeugnisse der Zerstörung und Wunden der | |
| ukrainischen Gesellschaft. Dennoch bedürfen sie einer Kontextualisierung. | |
| Es ist wichtig, sich klarzumachen, wie wir auf diese Verbrechen schauen, | |
| und wie wir sie in Beziehung zu anderen Schauplätzen setzen. Gerade in | |
| Deutschland, wo es das propagandistisch instrumentalisierte Bild der | |
| mordenden und vergewaltigenden russischen Soldaten gab, bedarf es einer | |
| besonderen Vorsicht. Man muss sich ständig fragen: Was soll das bewirken, | |
| wenn die westlichen Politiker*innen hinfahren und ihnen dann vor Ort | |
| die Zerstörung gezeigt wird? | |
| Diese Fragen stehen sehr direkt in Verbindung mit Ihren Forschungen. | |
| Ich habe mich damit beschäftigt, wie die politischen Handlungshorizonte | |
| [4][durch historische Diskurse wie den Heroismus geprägt werden]. Denn die | |
| stehen im Zentrum der ukrainischen Identität, vom Freiheitskampf der | |
| Kosaken übers Heldengedenken von Kruty und die nationalistische | |
| Guerilla-Armee der UPA bis zu den Cyborgs vom Prokofijew-Flughafen. Und sie | |
| wirken fort – bis dahin, dass man sagt: „Wir haben selbst vor einem | |
| Atomschlag keine Angst. Die Kosaken kapitulieren nicht. Wir gewinnen, weil | |
| wir bereit sind, alles zu opfern, Freiheit oder Tod.“ | |
| Wer sagt das? | |
| Das wird von der ukrainischen Politik, von ihren höchsten Repräsentanten, | |
| von Wolodymyr Selensky selbst und seiner Entourage so ausgesendet, in die | |
| Öffentlichkeit. | |
| Wobei es doch schien, dass Selensky nach Petro Poroschenkos offen | |
| russophober Politik für Entspannung stand? | |
| Das schien uns allen so. Da waren wir alle zu optimistisch. In der Tat | |
| verzichtete er darauf, die Fragen der Sprache, Religion und das | |
| Militärische in den Vordergrund zu stellen. Stattdessen wurden | |
| Kontrollpunkte liberalisiert, Gefangene ausgetauscht, Brücken im | |
| Grenzgebiet zu separatistischen Gebieten gebaut … | |
| Aber dann kam der Krieg? | |
| Nein, es hat sich schon vorher gezeigt, dass Selensky mit diesem liberalen | |
| Vorgehen keine Basis hat. Es gab kein historisches Narrativ, auf das er | |
| sich hätte stützen können. Das ganze Feld war besetzt von Erzählungen eines | |
| heroischen Widerstandes und einer Traumatisierung durch den Krieg. Die | |
| haben eine normative Kraft entfaltet, die Schritt für Schritt Selensky | |
| einen Handlungskorridor vorgegeben haben, aus dem er nicht mehr hat | |
| ausbrechen können. Jeder Kompromiss, jede Annäherung, selbst jeder mildere | |
| Ton gegenüber Russland ist sofort [5][mit unglaublicher Hetze] beantwortet | |
| worden. | |
| Klingt tragisch. | |
| Ja, so sehe ich das: Es ist eine Tragödie shakespearianischen Ausmaßes von | |
| einem Hoffnungsträger, der aufrichtig Frieden bringen will – und sich dabei | |
| aufreibt zwischen einer realen Bedrohung durch einen aggressiven Nachbarn | |
| und [6][einem entfesselten gesellschaftlichen Diskurs], der ihn schließlich | |
| auffrisst. Weil, und das ist die wirklich beklemmende Erkenntnis meiner | |
| Forschung, journalistische, wissenschaftliche und künstlerische Stimmen | |
| fehlten, die seine liberale, friedensstiftende Politik durch einen | |
| Gegendiskurs hätten festigen können. | |
| 27 Jun 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.geistes-und-sozialwissenschaften-bmbf.de/de/Kleines-Fach-Ukrain… | |
| [2] https://www.lvivart.center/exhibitions/davyd-chychkan-strichky-ta-trykutnyk… | |
| [3] https://artsvit.dp.ua/en/exhibitions/during-the-war-david-chichkan/ | |
| [4] https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/234/geschichtspolitik-unte… | |
| [5] https://laender-analysen.de/russland-analysen/397/wagner-affaere-in-belarus/ | |
| [6] https://ukraineverstehen.de/wagnergate-bellingcat-daniela-prugger/ | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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