# taz.de -- Forschung über Kriegsschäden: Kriegsopfer Natur | |
> Der Krieg zerstört auch die Umwelt in der Ukraine. Von Hamburg aus | |
> erforscht ein Projekt das Ausmaß der Schäden an Naturschutzgebieten. | |
Bild: Ein Feuer, ausgelöst durch russischen Beschuss, zerstört ein Weizenfeld… | |
HAMBURG taz | Mächtig sind die Eichen, Linden und Ahornbäume am Ufer des | |
Siwerskyj Donez, rund um das [1][Kloster Swjatohirsk]. Die älteste Eiche | |
der östlichen Ukraine wächst dort, 29 Meter ragt der 600 Jahre alte Baum in | |
die Luft. Ein ganz besonderer Naturraum ist der Nationalpark Swjati Hory, | |
auf Deutsch sinngemäß: „Heilige Berge“. | |
Eigentlich liegt er in einer Steppenzone. Aber hier finden Bäume ein | |
bergiges Relief und genug Wasser, links und rechts des Flusslaufs sind | |
weitläufige Laub- und Kieferwälder entstanden. An den Kreidefelsen im Park, | |
die es fast in die Liste der „[2][Sieben Naturwunder der Ukraine]“ | |
geschafft haben, gedeihen voreiszeitliche Kreidekiefern, eine seltene | |
Reliktpflanzenart. | |
943 Pflanzenarten gibt es im Park, 48 von ihnen sind in der Roten Liste der | |
Ukraine aufgeführt. Endemische Pflanzengemeinschaften gibt es dort, auf | |
Ablagerungen aus der Kreidezeit, Steppen-, Wiesen- und Sumpfvegetation. | |
Rund 300 Wirbeltierarten leben dort, 50 von ihnen werden in der Roten Liste | |
seltener Arten der Ukraine aufgeführt. | |
Vor dem russischen Einmarsch am 24. Februar war der Nationalpark ein | |
beliebtes Urlaubs- und Ausflugsziel. Doch lange verlief direkt hier, nahe | |
der Stadt Lyman, die Front. [3][Anfang Oktober erst] zogen sich die | |
russischen Truppen angesichts der groß angelegten Offensive der | |
ukrainischen Armee in der Ostukraine aus dem Gebiet zurück. | |
## Schäden durch Kriegshandlungen | |
Wer den [4][Frontverlauf auf Google Maps verfolgt] und sich Fotos anschaut, | |
die dort verlinkt sind, sieht Familien vor Ferienresorts, spielende und | |
badende Kinder, Menschen, die Ausflüge zum Kloster machen, zu den | |
zahlreichen archäologischen Stätten oder [5][zum Monument], das an den | |
Deutsch-Sowjetischen Krieg dort vor bald 80 Jahren erinnert. | |
Wenn auf Twitter in den vergangenen Monaten Bilder aus dem Gebiet | |
auftauchten, sah man auf ihnen Soldaten in Schützengräben, zerstörte Panzer | |
und Artillerie, durch Bomben vernarbte Böden und Brände, die durch | |
Geschosse verursacht wurden. | |
Wie sehr die Natur in der Ukraine vom Krieg bereits zerstört ist, erkenne | |
man schon auf aktuellen Satellitenfotos, erzählt Maria Fedoruk. Einige der | |
durch den Krieg verursachten Waldbrände seien so groß, dass sie [6][vom | |
Weltraum aus zu sehen sind]. | |
## Natur kennt keine Grenzen | |
Die [7][ukrainische Ökologische Ökonomin] ist im März vor dem Krieg nach | |
Hamburg geflohen. An der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) | |
erforscht sie nun als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungs- und | |
Transferzentrum Nachhaltigkeit und Klimafolgenmanagement gemeinsam mit | |
dessen Leiter Walter Leal, welche Schäden die Kriegshandlungen in den | |
Naturschutzgebieten in der Ukraine verursachen. | |
[8][„Ukraine-Nature“] heißt das bis Ende 2023 von der Deutschen | |
Bundesstiftung Umwelt finanzierte Projekt. Ziel ist „die Untersuchung und | |
Erstellung eines Profils der Schäden an Naturschutzgebieten und der | |
natürlichen Ressourcen, die sie beherbergen“, sowie „das Ausmaß der Schä… | |
zu kartieren“, heißt es auf der Internetseite des Projekts. | |
Vor ihrer Flucht leitete Fedoruk in der Ukraine die Abteilung für | |
Kreislaufwirtschaft [9][bei einer NGO] und führte verschiedene | |
Forschungsprojekte durch, gut vernetzt mit anderen ukrainischen | |
Umweltschutzorganisationen. Einige ihrer Kolleg*innen, erzählt sie, hätten | |
damals bereits begonnen, Daten über Umweltverbrechen und die Folgen des | |
Kriegs für die Umwelt zu sammeln und täten dies noch immer. | |
Fedoruk will nun gemeinsam mit ihren Kolleg*innen und Leal auf der | |
Grundlage dieser Daten exakt erforschen, welche Auswirkungen die | |
Kriegshandlungen auf die Natur haben, will ihr Ausmaß messen und bewerten. | |
Gut ein Fünftel der geschützten Naturgebiete in der Ukraine seien bereits | |
von den Kampfhandlungen betroffen, sagt sie, und betont, dass die | |
Zerstörung der Natur in der Ukraine – wie der Krieg ohnehin – ganz Europa | |
betrifft. „Das Motto unseres Projektes ist, dass Ökosysteme keine Grenzen | |
haben.“ | |
Die Parks in der Ukraine sind Teil des [10][Smaragd-Netzwerkes] von | |
Schutzgebieten, das auf der Grundlage des Übereinkommens über die Erhaltung | |
der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen | |
Lebensräume eingerichtet worden war. Die Ukraine hatte Stand 2020 [11][377 | |
Smaragd-Gebiete ausgewiesen]. Rund 2,9 Millionen Hektar dieses Netzwerkes | |
seien bedroht, sagt Fedoruk. „Wenn etwas in den Parks in der Ukraine | |
passiert, beeinflusst es das Netzwerk in ganz Europa.“ | |
Von Zerstörung bedroht seien vor allem im Osten und Süden der Ukraine auch | |
16 nach der [12][Ramsar-Konvention] geschützte Feuchtgebiete, die wegen | |
ihrer Biodiversität von internationaler Bedeutung sind, insgesamt 600.000 | |
Hektar. | |
## Zwei Nationalparks befreit | |
Acht Naturreservate und zehn Nationalparks seien bislang von der russischen | |
Armee besetzt worden, zwei Nationalparks wieder befreit worden, sagt | |
Fedoruk. Derzeit untersucht das Projekt die Auswirkungen der | |
Kriegshandlungen im Nationalpark Hetman und im Nationalpark | |
Desna-Starohutskyi in der Oblast Sumy sowie im Holosiivskyi Nationalpark | |
und im Biosphären-Reservat rund um das havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl | |
in der Oblast Kyiv. | |
Methodisch stellt der Krieg die Erforschung der durch ihn verursachten | |
Schäden vor große Probleme. Mehr als 1.000 wissenschaftliche Artikel zu | |
Kriegsfolgen in verschiedenen Ländern hätten Fedoruk und ihre | |
Kolleg*innen ausgewertet, erzählt sie. Aber die Bedingungen in der | |
Ukraine seien kaum vergleichbar. | |
Vergleiche mit historischen Daten oder Interviews vor Ort seien kaum | |
möglich, auch wissenschaftliche Daten seien verloren gegangen und | |
Messstationen möglicherweise zerstört worden, etwa in Tschernobyl. Mit den | |
Verwaltungen der Nationalparks ist Fedoruk in Kontakt, aber auch deren | |
Gebäude seien zum Teil zerstört, die Mitarbeiter*innen vertrieben | |
worden. „Bislang sind die Satelliten unsere besten Freunde“, sagt Fedoruk. | |
Dazu kämen Open-Source-Daten und staatliche Daten etwa zur Luftqualität und | |
zur radioaktiven Strahlung. | |
Ihre Kollegin Anastasia Splodytel sammele vor Ort Boden- und Wasserproben. | |
Aber das sei kompliziert und hochgefährlich, vor allem in Gebieten, die | |
sich in der Nähe der Front befinden. Vergangene Woche sei es Splodytel | |
gelungen, in den [13][Nationalparks Desna-Starohutskyi und Hetman] Proben | |
zu sammeln – aber nur mit Hilfe der Parkadministrationen und des | |
Staatlichen Dienstes für Notfallsituationen. Immer noch ist die Gefahr | |
groß, dort von Raketen getroffen zu werden. Ein anderes großes Problem | |
seien die Minen, die beide Seiten gelegt haben. | |
## Komplexe Auswirkungen | |
Insgesamt seien die [14][Auswirkungen des Krieges auf die Umwelt | |
kompliziert] und ein systemisches Problem, weil alles miteinander verknüpft | |
sei. Giftige Gase und Partikel werden durch die Waffen in die Luft | |
geschleudert, Schwermetalle gelangen in Boden und Wasser. | |
Ganz gezielt greifen russische Truppen Fabriken an, damit Gifte ins Wasser | |
gelangen. Feuer, Explosionen und der Lärm bedrohen und töten Tiere und | |
zerstören ihre Lebensräume. Viele Delfine verhungern etwa, weil Sonare und | |
Explosionen ihre feinen Navigationsorgane zerstören, sagt Fedoruk. Und | |
schon kleine Einschüsse und Minensplitter verletzten Bäume so stark, dass | |
sie zu sterben beginnen. | |
Wenn sie erzählt, merkt man, wie sehr die Ereignisse Fedoruk auch | |
persönlich bewegen, viele ihrer Familienangehörigen und Freunde sind in der | |
Ukraine. Dennoch ist das Projekt trotz der Bestandsaufnahme all der | |
Zerstörung auf das Leben nach dem Krieg gerichtet. „Irgendwann werden wir | |
wieder aufbauen müssen, restaurieren. Und wir müssen darauf vorbereitet | |
sein, damit es schneller geht. Es ist gut, jetzt schon damit zu beginnen, | |
auch wenn der Krieg noch nicht vorbei ist. Wir wollen bereit sein.“ | |
15 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://discover-ukraine.info/de/index/eastern-ukraine/sviatohirsk | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Sieben_Naturwunder_der_Ukraine | |
[3] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5885097 | |
[4] https://www.google.de/maps/place/Lyman,+Oblast+Donezk,+Ukraine,+84401/@49.0… | |
[5] https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:National_Landscape_Park_%C2%ABS… | |
[6] https://firms.modaps.eosdis.nasa.gov/map/#d:24hrs;@0.0,0.0,3z | |
[7] https://www.haw-hamburg.de/detail/news/news/show/wir-stehen-fuer-eine-demok… | |
[8] https://www.haw-hamburg.de/forschung/forschungsprojekte-detail/project/proj… | |
[9] https://warm.if.ua/en | |
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Smaragd-Netzwerk | |
[11] https://interecocentre.weebly.com/result-emerald-network-of-ukraine.html | |
[12] https://www.bmuv.de/themen/naturschutz-artenvielfalt/naturschutz-biologisc… | |
[13] https://en.wikivoyage.org/wiki/Ukrainian_national_parks | |
[14] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5891262 | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
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