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# taz.de -- Deutsch-ukrainisches Grabungsprojekt: Archäologie im Kriegsgebiet
> An der Ostgrenze der Kiewer Rus liegt das Gräberfeld Ostriv. Was dort
> gefunden wird, wirft ein neues Licht auf die Geschichte des damaligen
> Reichs.
Bild: Hinweise auf Menschen aus dem Baltikum im Gräberfeld: eine Hufeisenfibel…
Schleswig taz | Wissenschaftler*innen aus Deutschland und der Ukraine
erforschen gemeinsam ein Gräberfeld hundert Kilometer südlich von Kiew. Bei
der [1][archäologischen Forschung im Kriegsgebiet] geht es um
wissenschaftliche Fragen – aber eine politische Komponente schwingt mit.
Vjacheslav Baranov kann gerade nicht in die Videoschalte kommen. Zwar
herrscht an der Ausgrabungsstelle zwischen Ostriv und Pugačivka, wo Baranov
und sein Team arbeiten, Ruhe. Bomben schlagen in der ländlichen Region
nicht ein. Aber der Strom fällt immer wieder aus, schließlich sind seit
Tagen Kraft- und Umspannwerke unter Beschuss.
Archäologische Forschungen in Zeiten des Krieges: Das sei natürlich nicht
geplant gewesen, [2][sagt Jens Schneeweiß] vom Zentrum für Baltische und
Skandinavische Archäologie (ZBSA) mit Sitz in Schleswig, der das
Forschungsprojekt federführend leitet. Beteiligt sind die Ukrainische
Akademie der Wissenschaften in Kiew sowie Labore und Fachstellen in
mehreren Ländern.
Anfang Februar reichte die Gruppe den Förderantrag bei der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) ein. Zwei Wochen später, am 24. Februar,
marschierte die russische Armee in die Ukraine ein. Weitermachen oder
stoppen? „Wir haben unseren Antrag um ein weiteres Schreiben ergänzt, um
deutlich zu machen, dass wir unbedingt an diesem Projekt festhalten
wollen“, sagt Schneeweiß. Wann und wie gegraben wird, entscheiden die
Wissenschaftler*innen vor Ort.
## Untypische Grabbeigaben
„Grundsätzlich sind zwar die meisten archäologischen Gegenstände unter der
Erde sicherer als darüber“, so Schneeweiß. „Außer es besteht die Gefahr …
Raubgrabungen.“ Das sei in diesem Fall nicht auszuschließen.
Die ukrainischen Projektteilnehmer*innen haben daher direkt neben dem
Gräberfeld eine „Basis“ errichtet, in der unter einem festen Dach
Gegenstände gelagert und gesichtet werden können, bevor sie nach Kiew
gebracht und dort gelagert werden. Das Wichtigste sei dort, Fundstücke zu
scannen und digital zu sichern, falls Museen zerstört werden. Das
mittelalterliche Gräberfeld, das auf einer grünen Wiese zwischen Feldern am
Flüsschen Ros liegt, gilt bereits als eine der bedeutendsten Fundstellen in
der post-sowjetischen Ukraine.
Einen ersten Eindruck verschaffte sich im Jahr 2017 eine ukrainische Gruppe
des Kiewer Archäologischen Instituts um den heutigen Grabungsleiter
Baranov: „Sie hatten von einem alten Gräberfeld gehört, das damals schon
teilweise geplündert war“, berichtet Roman Shiroukhov, einer der
Initiatoren der Ostriv-Pilotstudie und heute ebenfalls beim ZBSA in
Schleswig beschäftigt. Der Archäologe stammt aus Kaliningrad, hat in
Litauen, Polen, Russland geforscht und kam über ein Humboldt-Stipendium
nach Schleswig.
Als Experte für das Baltikum bekam er eine Anfrage von der ukrainischen
Gruppe aus Ostriv. „Denn die Kollegen hatten Grabbeigaben gefunden, die für
[3][das Gebiet der Kiewer Rus] sehr untypisch waren“, berichtet Shiroukhov.
Bis dahin sei er nie in der Ukraine gewesen – „man hörte immer, es sei sehr
chaotisch und es gebe viele Probleme“ – aber die Zusammenarbeit lehrte ihn
eines Besseren: „Alles lief sehr gut, es gab Interesse von beiden Seiten,
zu guten Ergebnissen zu kommen.“
Mit dem ganzen wissenschaftlichen Besteck der Zunft nahm ein
internationales Forschungsteam die Funde unter die Lupe: Es gab
Laboranalysen und Gentests, das Alter der Knochen und Gegenstände wurden
mit der Radiokarbonmethode bestimmt. „Unser Ziel war, die Herkunft der
Leute herauszufinden“, sagt Shiroukhov. Schnell kam heraus: Ja, die Toten
waren Migrant*innen. Auf dem Gräberfeld an der Grenze der damaligen Kiewer
Rus lagen Menschen aus Skandinavien, dem Baltikum und aus dem
finnisch-ugrischen Kulturkreis.
Abzulesen lässt sich das an den Gen-Vergleichen, aber auch den
Grabbeigaben. Denn die Kiewer Rus war zu diesem Zeitpunkt – es geht um die
erste Hälfte des 11. Jahrhunderts, die Blütezeit des damaligen Reiches –
christlich. Die Gräber von Ostriv waren aber nicht von West nach Ost
ausgerichtet, wie nach christlicher Sitte üblich, und die Beigaben sprechen
davon, dass die Menschen an ein Leben nach dem Tod glaubten, in dem Schmuck
oder Waffen von Nutzen sein konnten.
„Die ersten Studien ab 2017 haben bewiesen, dass es eine externe Population
gab“, sagt Forschungsleiter Schneeweiß. „Aber woher genau kommen sie, wer
sind sie? Kamen nur Männer, brachten sie Frauen und Kinder mit oder
gründeten sie dort neue Familien?“ Eine weitere Frage lautet, ob das Feld
bei Ostriv – der Name bedeutet „Insel“ – einmalig ist. Denn es befindet
sich nahe einer Burganlage, die an der Grenze des damaligen Reiches lag.
„Eigentlich wollten wir mit dem jetzt laufenden Forschungsprojekt mit
Luftaufnahmen und Georadar den Grenzverlauf erkunden und mögliche weitere
Gräberfelder finden“, sagt Schneeweiß. Das ist unter den aktuellen
Bedingungen unmöglich. Zurzeit wird gegraben und untersucht, Grab für Grab.
Schneeweiß befasst sich mit Konfliktarchäologie, schaut also darauf, wie
Konflikte gelöst werden. Nicht ganz einfach, denn „friedliche Lösungen
hinterlassen, anders als Kriege, keine Spuren im Boden“, sagt der Forscher,
der in Berlin und in den 90er-Jahren in St. Petersburg studiert und über
eisenzeitliche Funde in Westsibirien promoviert hat. „Da können wir nur
über die Metaebene ran.“
Zum Beispiel: Eine Burganlage und viele Waffen in den Gräbern, aber
nirgendwo Zeichen eines Angriffs könnte bedeuteten, dass die Abschreckung
funktioniert hat. Eigentlich ein Nischenthema. „Dass es jetzt so eine
Aktualität hat, war nicht vorauszusehen“, sagt Schneeweiß.
Die Kiewer Rus ist sowohl für die Ukraine wie für Russland mit Bedeutung
aufgeladen. Beide Seiten sehen das Reich, das im 9. Jahrhundert gegründet
wurde, im 11. seine Blütezeit erreichte und um 1240 nach Angriffen
mongolischer Reitervölkern zerfiel, als Wiege ihrer heutigen Staaten.
Im Sommer 2021, als bereits erste Truppen an der Grenze der Ukraine
zusammengezogen wurden, erschien auf der Website des Kreml ein Aufsatz aus
der Feder von Russlands Präsident Wladimir Putin, in der er seinen Blick
auf die Geschichte erklärt: Russen, Ukrainer und Weißrussen, so heißt es
dort, bildeten einen mächtigen Staat, in dem „slavische und andere Stämme“
unter einer Sprache vereint gewesen seien, dem einen orthodoxen Glauben
anhingen und, unter Achtung der Rechte einzelner Fürsten, sich einer
zentralen Regierung beugten. Der Text „liest sich wie eine [4][Mischung aus
Seminararbeit und politischem Pamphlet]“, schrieb die Neue Zürcher Zeitung.
Wissenschaftlich fundiert sind die Thesen darin nicht, aber Putin leitet
daraus seinen Anspruch auf die Ukraine ab.
## Putin ist kein Historiker
Die politische Dimension der laufenden Grabung hätte das Team zwar im
Hinterkopf, sagt Jens Schneeweiß. „Aber auf eine Diskussion darüber würde
ich mich nicht einlassen, einfach weil Putin kein Historiker ist und nicht
historisch argumentiert.“ Hinzu kommt: „Selbst wenn es damals diese Einheit
gab, lässt sich daraus für heute nichts ableiten.“
Doch die These vom einen Volk, der einen Sprache und dem einen Glauben
steht angesichts der Funde von Ostriv auf wackeligen Füßen. Dort mischen
sich Riten und Glaubenssymbole. Spindeln mit eingeritzten Kreuzen liegen in
heidnischen Gräbern – Multikulti statt Leitkultur. Vielleicht zählt das
nicht besonders, weil die Toten Fremdarbeiter und bezahlte Söldner waren.
Vielleicht aber waren sie auch geachtete Mitbürger*innen: Vieles ist noch
unklar.
Das interdisziplinäre Forschungsprojekt der Ukrainischen Akademie der
Wissenschaften in Kiew und ZBSA läuft drei Jahre, es besteht die Chance auf
Verlängerung. „Dann wollen wir den weiteren Grenzverlauf in den Blick
nehmen“, sagt Schneeweiß.
3 Dec 2022
## LINKS
[1] https://zbsa.eu/baltische-migranten-an-der-ostgrenze-der-kiewer-rus-der-spa…
[2] https://zbsa.eu/jens-schneeweiss/
[3] /Russland-und-Ukraine-dekolonialisieren/!5839859
[4] https://www.nzz.ch/international/russland-und-ukraine-putin-schreibt-brisan…
## AUTOREN
Esther Geißlinger
## TAGS
Archäologie
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Ukraine
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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