# taz.de -- Dokumentation des Alltags: Im Leben mit dem Krieg | |
> In Lemberg versuchen ukrainische Historiker, möglichst viel Alltag im | |
> Krieg zu dokumentieren. Sie wollen Geschichte in ihrer Komplexität | |
> einfangen. | |
Bild: Geflüchtete in einem Schutzraum in Lemberg hören einem Geigenspieler zu | |
Nach dem 24. Februar war dem Historiker Taras Nazaruk eines klar: Die | |
ukrainische Gesellschaft wird eine andere sein. Durch einen solchen Moment | |
der historischen Disruption verändern sich die Wirklichkeit und die | |
Erfahrungen, die in jener Wirklichkeit gemacht werden, komplett. Dies ließ | |
Nazaruk ratlos zurück. | |
Während er sich bisher mit der Geschichte der Vergangenheit | |
auseinandersetzte, überholte die Geschichte der Gegenwart ihn plötzlich. Er | |
fragte sich: Welche Rolle nimmt er als Historiker ein, wenn jeden Tag | |
Geschichte geschrieben wird? | |
Gemeinsam mit seinen Kolleg:innen überlegte er, wie sie ihr Land und | |
ihre Gesellschaft unterstützen können. Taras Nazaruk arbeitet bei dem | |
Zentrum für Urbane Geschichte in Lemberg (Lwiw). Vor dem Krieg koordinierte | |
er digitale Projekte, die sich mit der Stadtgeschichte Lembergs | |
auseinandersetzen. Mit dem Krieg wurde das Zentrum zur Unterkunft für | |
ukrainische Geflüchtete. | |
Gleichzeitig vermittelt das Zentrum für Urbane Geschichte zwischen | |
Forschungsinstituten im Ausland, organisiert Stipendien für Kolleg:innen, | |
die flüchten mussten, und leistet anderweitig humanitäre Hilfe. So versucht | |
das Team von Historiker:innen ihr Land auf einer materiellen Ebene zu | |
unterstützen. | |
## Chatverläufe festhalten | |
Gleichzeitig dokumentiert das Zentrum den Krieg. Denn Geschichte lebt immer | |
von Dokumentation. Je besser die Gegenwart dokumentiert wird, desto mehr | |
wird man sie in Zukunft verstehen. In einer Gesellschaft, in der sich die | |
Formen der Kommunikation durch soziale Medien verändert haben, stellt das | |
die Historiker:innen aber auch vor Herausforderungen. Wie lassen sich | |
Alltagserfahrungen von Ukrainer:innen festhalten? Was denken sie über | |
den Krieg, was macht der Krieg mit ihnen? | |
Seit Kriegsbeginn laufen weite Teile der Kommunikation über Telegram. | |
Tausende Kanäle vernetzen Ukrainer:innen im ganzen Land. Es werden | |
Schlafplätze organisiert, vor Raketeneinschlag wird gewarnt oder Essen | |
verteilt. Nazaruk hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese alltägliche | |
Kommunikation zu dokumentieren. | |
„Ich kann natürlich nicht alles festhalten, aber ich versuche, so viele | |
unterschiedliche Channels wie möglich zu dokumentieren“, sagt er bei einem | |
Telefongespräch. Denn anders als klassische, historische Dokumente wie etwa | |
Zeitzeugeninterviews, sind Chatverläufe kurzlebiger, sie können jederzeit | |
gelöscht werden. | |
## Tagebücher von Jugendlichen | |
Umso wichtiger ist es für Nazaruk, so viel wie möglich zu bewahren. So | |
wühlt er sich durch 500 Telegram-Channels und beobachtet, wie der Krieg den | |
Alltag der Menschen verändert. In einem Channel kommunizieren etwa Menschen | |
aus dem von der Ukraine kontrollierten Mykolajiw mit Menschen in dem von | |
Russland okkupierten Cherson darüber, wann Raketen abgeschossen werden. | |
Telegram wird also zum Teil des militärischen Kriegsgeschehens. | |
Neben Telegram-Kanälen sammelt das Team Fotos, Interviews von Geflüchteten | |
und [1][Tagebücher von Jugendlichen in Lemberg]. Das wirft ethische Fragen | |
auf. Die Historiker:innen wollen mit ihren Aufzeichnungen die Menschen | |
nicht retraumatisieren. Sie versuchen die Gespräche so offen wie möglich zu | |
führen, mehr auf die Alltäglichkeit des Krieges einzugehen als auf | |
Gewalterfahrungen. | |
Die Geflüchteten sollen etwa nur die Geschichten erzählen, die sie erzählen | |
wollen. So hofft das Team, den Konflikt auf vielfältige Weise abzubilden | |
und Menschen eine Stimme zu geben. | |
Da das Team selbst Teil des Krieges ist, fehlt es dabei an einer | |
klassischen Distanz zum Gegenstand der Forschung. „Gleichzeitig haben wir | |
einen ganz anderen Blick auf das Geschehen und können so die Komplexität | |
von dem, was um uns herum passiert, vielleicht besser begreifen als jemand, | |
der von außen kommt“, sagt Nazaruk dazu. | |
## Den Krieg besser verstehen | |
Die Archivierung der Zeitzeugeninterviews kann in Zukunft dazu beitragen, | |
den Krieg besser zu verstehen. Doch welche Rolle nimmt Geschichte in der | |
Gegenwart ein? „Ich glaube nicht, dass Geschichte klare Antworten geben | |
kann“, sagt Nazaruk. Für ihn ist Geschichte immer eine Art | |
Kommunikationsplattform, das Vergangene lässt einen die Gegenwart besser | |
verstehen. | |
So fühle er sich seit Kriegsbeginn den Erfahrungen der Menschen in Lemberg | |
im Zweiten Weltkrieg sehr viel näher. Auch sie erlebten einen Moment der | |
historischen Disruption. Wegen der stalinistischen Deportationen und des | |
Holocausts verstarben im Zweiten Weltkrieg etwa 90 Prozent der | |
Stadtbevölkerung in Lemberg. Natürlich könne man heute nicht mit damals | |
vergleichen, aber es war auch ein Moment, in dem sich das Leben der | |
Menschen in Lemberg komplett veränderte, so Nazaruk. | |
Auch Bohdan Shumylovych arbeitet an dem Zentrum für Urbane Geschichte in | |
Lemberg. Das Gespräch läuft über Zoom, auf die Frage, wie es ihm geht, | |
antwortet er nur: „Ich bin noch am Leben.“ Der Historiker, der vor allem zu | |
Kunstgeschichte forscht, hat gemeinsam mit einer Gruppe von | |
Student:innen ein Tagebuchprojekt gestartet. Derzeit werden an der | |
Ukrainischen Katholischen Universität, wo er lehrt, keine Kurse angeboten. | |
Shumylovych wollte mit seinen Studierenden in Kontakt bleiben, sie in | |
dieser schwierigen Zeit unterstützen. In den Tagebüchern schreiben die | |
Jugendlichen ihre Erfahrungen im Krieg auf. Aber sie sollen auch träumen, | |
wie ein Leben nach dem Krieg aussehen könnte. Sie stellen sich dabei Fragen | |
wie: Was bedeutet es, sicher zu sein? Was macht der Krieg mit ihrem Alltag? | |
In was für einem Land wollen sie künftig leben? | |
## Individuelle und kollektive Erfahrungen | |
Dabei geht es um die individuelle Erfahrung der Studierenden, aber auch um | |
die kollektive Erfahrung des Krieges. Unter vielen hat sich mittlerweile | |
ein Gefühl der Erschöpfung eingestellt, das sich auch in Frustration und | |
Wut äußert. Einige der Studierenden verspüren auch Wut auf jene | |
Ukrainer:innen, die das Land verlassen haben. Gleichzeitig fühlen sich | |
jene, die geflüchtet sind, schuldig dafür, in Sicherheit zu sein. | |
[2][Die Tagebücher sind also emotionale Momentaufnahmen des Kriegs], die in | |
Zukunft Einblick geben können in den Alltag damals. „Die Studierenden | |
arbeiten mit den Tagebüchern für die Zukunft“, sagt der Kunsthistoriker. So | |
könne man ein Vergessen verhindern. Denn Menschen tendieren nach Kriegen | |
dazu, sich immer nur an einzelne Held:innen-Geschichten zu erinnern, nicht | |
aber an die Banalitäten des Alltags. | |
Für Shumylovych ist Geschichte immer eine Form der Literatur. Es zähle die | |
subjektive Erfahrung der Menschen, da diese Geschichte erfahrbar mache. | |
Allerdings könne Geschichte immer auch politisch instrumentalisiert und | |
manipuliert werden. Die Aufgabe von Historiker:innen sei es, diese | |
Instrumentalisierung aufzuhalten, falsche Narrative zu widerlegen und die | |
Geschichte in ihrer Komplexität zu erzählen. | |
## Momente historischer Disruption | |
So würden in Momenten der historischen Disruption auch immer bestimmte | |
Begriffe, die man davor als für abgeschlossen erklärt hat, neu definiert. | |
Man denke etwa an russische Propaganda und die Erzählung, dass Russland die | |
Ukraine angeblich von „Faschisten“ und „Nazis“ befreit. Daher sei es | |
wichtig, dass Historiker:innen im Dialog bleiben und sichtbar sind in | |
der Öffentlichkeit. | |
Trotzdem sieht Shumylovych die Rolle von Historiker:innen als begrenzt | |
an. Für ihn sind sie nur eine kleine Minderheit, die wenig ausrichten | |
können. „Solange es politische Systeme gibt, die an ihren historischen | |
Lügen festhalten, können wir wenig verändern“, sagt er. Geschichte versuche | |
sich über Fakten der historischen Wahrheit anzunähern, aber die Politik | |
erfinde ihre eigene Geschichte. Trotzdem müsse man sich mit diesen | |
Narrativen auseinandersetzen. | |
Auch für den Kunsthistoriker war der 24. Februar eine Zäsur, gewisse | |
historische Wahrheiten müssen nun neu geprüft werden: Ist die Sowjetunion | |
wirklich 1991 zerfallen? Oder hat sie sich in den letzten 30 Jahren in ein | |
neues, russisches Imperium gewandelt? Fehlte es an einer kritischen | |
Auseinandersetzung mit deren Geschichte und Erinnerungskultur? All das sind | |
Fragen, die ihn derzeit beschäftigen. Und ihn wohl noch einige Zeit | |
beschäftigen werden. | |
13 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sabina Zollner | |
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