Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Historiker über Orbáns Verhältnis zu Russland: „Ungarn ist ihm…
> Verstöße gegen die rechtsstaatliche Verfassung in Ungarn tragen den
> Stempel Russlands, sagt Historiker Krisztián Ungváry. Imperiale Neurosen
> habe nicht nur Putin.
Bild: Ministerpräsident von Ungarn, Viktor Orbán
taz: Herr Ungváry, wie kann man sich das weiterhin enge Verhältnis zwischen
Wladimir Putin und Viktor Orbán erklären?
Krisztián Ungváry: Orbán will einen antiliberalen Staat aufbauen. Was in
Ungarn an Verstößen gegen die rechtsstaatliche Verfassung stattfindet,
trägt den Stempel Russlands. Der Unterschied ist, dass in Ungarn niemand
auf offener Straße vergiftet oder erschossen wird. Neben der
Geistesverwandtschaft von Orbán mit Putin gibt es sicher auch gemeinsame
ökonomische Interessen. Orbán hat auch immer gesagt, Ungarn ist ihm zu
klein, er wolle in Europa Politik machen. Er hat ja auch die halbe
slowenische Medienlandschaft aufkaufen lassen.
Mit der Visegrád-Gruppe (Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei) hat Orbán
eine regionale Lobby-Gruppe innerhalb der EU. Doch zuletzt reisten
Regierungschefs aus drei Visegrád-Staaten sowie aus Slowenien nach Kiew.
Sie demonstrierten so ihre Solidarität mit der von Russland überfallenen
Ukraine. Ist Orbán nun auch im eigenen Lager isoliert?
Offensichtlich ja. Allerdings finanziert Orbán mit seinen Hintermännern
gerade [1][den Wahlkampf von Marine Le Pen mit] und es kann sogar sein,
dass er wesentlich mächtigere Verbündete bekommt als die frühere
Visegrád-Gruppe.
Auch die EU hat neue Sanktionen gegen Orbán angekündigt. Bewirkt das
irgendwas?
Ja, unbedingt. Ungarn hängt vollständig von den Geldtransfers aus der EU
ab. Es ist sogar so, dass sich dieses Orbán-System eigentlich nur durch die
Finanzierung aus der EU richtig entfalten konnte. Die „Errungenschaften“,
derer sich Orbán zu Hause rühmt, kommen alle aus den Geldtöpfen aus
Brüssel. Ich finde es sehr tragisch, dass man in Brüssel mehr als zehn
Jahre lang nichts gegen diesen Verräter der europäischen Wertegemeinschaft
unternommen hatte. Schlimmer sogar: Man hat ihn eher begünstigt. Im
ungarischen Fall würden Sanktionen extrem schnell ihre Wirkung zeigen,
anders als in Russland.
Es wurde viel darüber spekuliert, ob der Ukrainekrieg Orbán wegen seiner
Nähe zu Putin bei den Wahlen schadet. Doch Orbán hat erneut triumphiert,
woran liegt das?
Durch die erdrückende Übermacht der staatlichen Medien und die Unmengen von
Geld, die die Regierung in Kampagnen über soziale Medien steckt, beherrscht
Orbán den Diskurs, wenn auch total verlogen. Die Parteibasis von Fidesz ist
wie eine Kirchengemeinde, die in ihrem Glauben schwer zu erschüttern ist.
[2][Bei der Wahl ging es nicht darum,] Überläufer zu gewinnen, sondern
verunsicherte Menschen, die die Situation als bedrohlich und
existenzgefährdend erleben, zu überzeugen. Die Benzinpreise müssten um 80
Prozent erhöht werden, waren aber bis nach der Wahl eingefroren. Die
Teuerung ist in vielen Sparten kaum zu übersehen. Das Mantra, dass an allem
Brüssel schuld sein soll, glauben trotzdem viele nicht. Brüssel und George
Soros werden ja von Orbán als Ursache allen Übels dargestellt.
Wie steht Orbán nun zu dem russischen Märchen von der „begrenzten
militärischen Spezialoperation“ gegen die Ukraine?
[3][Orbán und seine Leute haben mit Putins System jahrelang kooperiert.]
Sie sehen auch heute in Ungarn nirgends ukrainische Fahnen, die
Solidarität signalisieren. Manche Fidesz-Anhänger finden auch, den
Ukrainern geschieht es recht. Weil sie einst in der Karpato-Ukraine die
Ungarn unterdrückt haben. Es gibt sogar Stimmen, die meinen, Ungarn sollte
sich die Region zurückholen
Und die mediale Öffentlichkeit?
Die regierungsnahen Medien übernahmen anfangs die Darstellung von Russia
Today. So ist das mittlerweile nicht mehr haltbar. Jetzt geht die Tendenz
in die Richtung, zu behaupten: Das ist nicht unser Krieg, sondern eine
innerslawische Angelegenheit. Es sei verbrecherisch, jungen Menschen in der
Ukraine Waffen zu geben, damit sie sich wehren können. Man müsse Frieden
schließen. Den Krieg durch Widerstand zu verlängern, dies sei ein großer
Fehler von Selenski. Die Überlegung, dass die Ukrainer dort auch unsere
Freiheit verteidigen, kommt nicht vor, obwohl sie in der Praxis zutrifft.
Glauben Sie, Putin würde einen Nato-Staat direkt angreifen?
Nicht unmittelbar. Aber er möchte geostrategisch zurück auf die alten
Grenzen der Sowjetunion. Und: Es gibt viele Möglichkeiten, einen
Stellvertreterkrieg zu führen. Auch innenpolitisch: Einst hat Putin in
Ungarn die rechtsextreme Partei Jobbik finanziert. Das war, bevor er auf
Orbáns Fidesz einschwenkte. Putin hat 2015 auch die Flüchtlingskrise
absichtlich mit ausgelöst. Er ließ Aleppo und halb Syrien dem Erdboden
gleichmachen, um die EU mit der erwartbaren Flüchtlingswelle zu
destabilisieren. Das war ein Riesen-Erfolg für Putin. Rechtsextreme
Parteien wie die AfD bekamen Zuwachs und die EU wurde von innen geschwächt.
Dafür musste er nicht einmal zahlen.
Kann man ernsthaft glauben, dass es in Russland eine echte Furcht gibt, man
werde von der Ukraine bedroht?
Putins Politik beruht auf einer Lebensraumdoktrin, die für die angebliche
Überlegenheit der eigenen „Rasse“ Tag für Tag über die Medien trommelt. …
ist ähnlich wie bei Hitler, der überzeugt war, der Stärkere müsse den
Schwächeren besiegen. Aber nach Putin kann auch der Stärkere besiegt
werden, und wenn nicht, kommt er dann ja immerhin in den Himmel.
Würden Sie Putin als Faschisten bezeichnen?
Wie soll man einen Politiker nennen, der die Überlegenheit der eigenen
Rasse postuliert und mehr Lebensraum fordert? Für deutsche Ohren klingt das
nicht unbekannt.
In der Ukraine gibt es ja tatsächlich einflussreiche rechtsextreme Gruppen.
Ich habe mich damit sehr eingehend beschäftigt und dies seit dem Zweiten
Weltkrieg untersucht. Es gab damals mindestens so viele russische
Faschisten wie ukrainische. [4][Die geistigen Wurzeln des Faschismus waren
in Russland viel fester] als in der Ukraine. Das ist ein Produkt des KGB.
Wie sah die größte ukrainische Partei in den 30er Jahren in Polen aus (ein
Teil der Westukraine gehörte damals zu Polen)? Sie war bürgerlich liberal,
ein Block der Minderheiten wurde von zionistischen Juden angeführt und
hatte 60 Sitze im Sejm. Die ukrainischen Rechtsextremisten hatten vier bis
sechs Sitze.
Putin sagt, er fühle sich von der Nato bedroht, die bis an die Grenzen der
Russischen Föderation vorgerückt ist.
Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis, wenn wir jetzt vom Krieg gegen
Jugoslawien wegen des Kosovo absehen. Und damals hatte sie ein klares
Mandat. Ich glaube, das sind nur Ausreden, weil Putin nicht in der Lage
ist, aus Russland ein attraktives Land zu machen. Die USA haben ein
Immigrationsproblem, aber wer will schon nach Russland?
Wenn die USA so ein schreckliches System haben, wie Putin immer wieder
behauptet, verstehe ich das nicht ganz. Er hätte eine Menge anderer
Möglichkeiten, seine politischen Ziele zu erreichen, als andere Staaten
platt zu walzen. So hätte er nur zehn Prozent des Staatsvermögens sinnvoll
aufwenden müssen, um aus Russland eine attraktive Gesellschaft zu machen.
So aber reicht es zu nichts.
19 Apr 2022
## LINKS
[1] /Daniel-Cohn-Bendit-ueber-Frankreich/!5842931
[2] /Ausgang-der-Parlamentswahl-in-Ungarn/!5845904
[3] /Wahl-in-Ungarn/!5841130
[4] /Russland-und-Ukraine-dekolonialisieren/!5839859
## AUTOREN
Ralf Leonhard
## TAGS
Ungarn
Viktor Orbán
Wladimir Putin
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Ukraine-Krise
Ukraine
Russland
Geschichte
GNS
Ungarn
Forschungsprojekt
Ungarn
Giro d’Italia
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Autokratie
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Proteste in Ungarn: Marsch gegen Orbán
Rund 80.000 Menschen demonstrieren in Budapest gegen die Bildungspolitik
der Regierung. Dabei geht es auch um die schlechte Bezahlung von
Lehrkräften
Dokumentation des Alltags: Im Leben mit dem Krieg
In Lemberg versuchen ukrainische Historiker, möglichst viel Alltag im Krieg
zu dokumentieren. Sie wollen Geschichte in ihrer Komplexität einfangen.
Ungarn verhängt „Gefahrenzustand“: Orbán kann besser durchregieren
Nach Corona zieht Ungarns Premier jetzt den Krieg in der Ukraine für
Sondergesetze heran. Erste Maßnahme: eine Sondersteuer für Großunternehmen.
Ungarn-Abstecher des Giro d'Italia: … und jetzt zum Sport
Aus dem Giro dell’Ungheria wird nun wieder eine Italien-Rundfahrt. Und das
Politische? Wurde beim Ausflug der Radprofis an den Balaton ausgeblendet.
Sicherheitsexpertin über russische Hacks: „Cyberkrieg braucht Personal“
Schon vor Russlands Angriffen auf die Ukraine wurde im Westen oft vor
russischen Hackerattacken gewarnt. Die potenziellen Folgen sind
weitreichend.
Narrativ der verfolgten Russen: Sich als Opfer sehen
„Der Russe ist nun wie ein Jude im Berlin des Jahres 1940“, singt die Band
Leningrad. Die Selbststilisierung als Verfolgte befeuert Putins Narrativ.
Buch über Ungarn, Europa und Russland: „Bis gerade eben an Putins Seite“
Seit dem Ukraine-Krieg zeigt sich Viktor Orbán der EU gegenüber
konsensfähig. Lacy Kornitzer über den Zustand Ungarns vor den Wahlen.
Irina Scherbakowa über Putin: „Donbass ist nicht gleich Krim“
Russland überfällt die Ukraine. Historikerin Irina Scherbakowa über Putins
Lügen, die Stimmung in Moskau und die Blindheit des Westens.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.