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# taz.de -- Daniel Cohn-Bendit über Frankreich: „Das ist mir zu billig“
> Daniel Cohn-Bendit ist linke Ikone und Kenner Frankreichs. Ein Gespräch
> über die Wiederwahl-Chancen Macrons, den Ukrainekrieg – und die atomare
> Frage.
Bild: High Tech für neue AKWs: Präsident Macron beim Turbinenhersteller GE St…
taz: Herr Cohn-Bendit, Sie pendeln immer noch zwischen Frankfurt und Paris?
Daniel Cohn-Bendit: Ja. Ich habe wöchentlich eine Fernsehsendung im TV, bei
einem französischen Nachrichtensender. „Die Debatte“, zusammen mit dem
liberalkonservativen Luc Ferry. Da bilanzieren wir, was politisch in der
Woche so angefallen ist.
Zuletzt sicher auch den Krieg in der Ukraine. Wie nahe ist die Ukraine von
Frankreich aus betrachtet?
Sehr nah. Der Krieg in der Ukraine ist natürlich jetzt auch Thema im
Präsidentschaftswahlkampf. Emmanuel Macron war als Vermittler und Sprecher
der Europäischen Union gegenüber Putin sehr präsent.
Wie sind Macrons Bemühungen in der französischen Öffentlichkeit angekommen?
Also bezüglich der Ukraine sehr gut. Seine Position genießt eine hohe
Akzeptanz, Frankreich steht ganz klar auf der Seite der Ukraine und
unterstützt diese im Krieg gegen Putin. Im Gegensatz zu US-Präsident Biden
beschimpft Macron aber Putin nicht verbal. Er versucht bei aller Distanz zu
Putin-Russland sich weiterhin als Vermittler anzubieten. Was sich aber
derzeit als eher schwierig erweist.
Waren Frankreich und Macron besser als Deutschland auf den Angriff Putins
vorbereitet?
Ja und nein. Also in Frankreich ist das Bewusstsein, sich im Zweifelsfall
auch militärisch verteidigen zu müssen, sicher viel stärker verbreitet als
in Deutschland. Das hat mit der Geschichte zu tun. Macron vertrat in den
letzten Jahren dabei auch ziemlich einsam die Idee einer autonom
funktionierenden Verteidigungsfähigkeit Europas. Für ihn hängt die
Verteidigungsfähigkeit Frankreichs von einer gemeinsamen Europas ab. Man
muss auf Eventualitäten wie den Einmarsch der Russen in die Ukraine
vorbereitet sein. Aber er ging sicher nicht davon aus, dass Putin
tatsächlich so handelt, wie er es jetzt tut.
Hat Frankreich ein anderes Realitätsbewusstsein für mögliche unangenehme
Entwicklungen als Deutschland?
Absolut. Frankreich hat nach 1945 nicht allein von einer unendlichen
Friedensdividende geträumt, sondern auch auf die Verteidigung seiner
Unabhängigkeit durch die Bejahung militärischer Dominanz gesetzt, inklusive
atomarer Abschreckung. Ähnlich ist das auch bei der Atomenergie. Man will
zwar erneuerbare Energien entwickeln, aber solange die
Energieunabhängigkeit nicht gesichert ist, will man an der Atomenergie
festhalten.
Hat man in Frankreich verstanden, warum die Deutschen die letzten
Jahrzehnte so unverdrossen an der Energiepartnerschaft mit Russland
festhielten und diese immer weiter ausbauten?
Nein, das erscheint hier als ein großes Rätsel. Ist es mir selber auch.
Diese Blindheit. Das hatten ja weder die deutsche Politik, Gerhard Schröder
oder Angela Merkel, noch Wirtschaft, Mehrheitsgesellschaft und Medien
wirklich in Frage gestellt. Es wäre von daher falsch, die Fehler allein der
deutschen Politik in die Schuhe zu schieben. Billige Energie war den
Deutschen mehrheitlich wichtiger als jegliche andere Überlegung. Dass man
in Deutschland so schnell aus der Atomenergie ausgestiegen ist, bevor man
aus der schmutzigen Kohleenergie rauskam, das versteht man in Frankreich
aber auch nicht. Vom CO2-Ausstoß müsste es andersherum sein.
Herr Cohn-Bendit, für das erste Kabinett Präsident Macrons wurden Sie 2018
als künftiger Umweltminister gehandelt. Warum sind Sie es nicht geworden?
Ich bin nicht ministrabel.
Warum nicht?
Damals habe ich das so begründet: Angenommen, ich bin jetzt Umweltminister.
Dann kann ich wichtige Entscheidungen zur ökologischen Transformation
vorantreiben. Stimmt. Aber gleichzeitig hätte ich zum Beispiel die
französische Flüchtlingspolitik mittragen müssen. Und das kann ich nicht.
All die Flüchtlinge auf den Schiffen da, die Frankreich abweist. In eine
solche Kabinettsdisziplin kann ich mich nicht einbinden. Und da hätte ich
ganz schnell wieder zurücktreten müssen. [1][Ich bin immer ein überzeugter
Abgeordneter im Europäischen Parlament gewesen], aber Minister sind besser
andere geworden.
Sie sprachen es an, die Franzosen gelten klimapolitisch als relativ
unbekümmert und bei Atom geradezu als unerschrocken. Der Ukrainekrieg hat
dies wohl eher noch verstärkt?
Wenn wir den Klimawandel als Herausforderung betrachten, ist der schnelle
Ausstieg aus der Kohleenergie wichtiger als der aus der Atomenergie.
Sagt der grüne Dany oder sagen die Franzosen?
Sagen diejenigen, die rasch eine bessere CO2-Bilanz wollen. Aufgrund der
kriegerischen Situation wird sich jetzt jedoch einiges verschieben. Es gibt
schmerzhafte Diskussionen. In Belgien haben die Grünen gerade akzeptieren
müssen, dass der Ausstieg aus der Atomenergie sich um zehn Jahre verzögern
wird. Auch die Deutschen werden nun manches überdenken, ohne dass man sich
gleich in Verratsvorwürfen ergehen sollte.
Verstanden, wir stehen vor neuen Herausforderungen, aber wie sieht der
französische Energiemix derzeit aus? Plant Macron bei einer zweiten
Amtszeit größere Veränderungen in Richtung der Erneuerbaren?
Macron wird derzeit keine weiteren Atomkraftwerke mehr abschalten. Er will
die bestehenden rundum erneuern und sie länger laufen lassen. Gleichzeitig
plant er eine Offensive in Richtung erneuerbare Energien. Wobei man wissen
muss, die Ablehnung von Windenergie ist in Frankreich geradezu
atemberaubend.
Warum das?
Die französische Kultur hat ein ästhetisches Problem damit. Man will sie
nicht in der Landschaft stehen sehen. Aber auf dem Meer,
Offshore-Windparks, das geht. Sonnenkollektoren fördern, das auch. Macron
will auch in neuste Atomkraftwerke investieren, solche, wie in Finnland
gebaut werden. Die Sicherheitsanforderungen sind sehr hoch; bis sie in
Betrieb gehen, wird es dauern. Für die Mobilität setzt man zugleich sehr
stark auf Energie durch CO2-neutralen Wasserstoff. Bis das alles so weit
ist, setzt Frankreich für den Übergang auf die Atomenergie.
Und der grüne Dany?
Der hört sich alles an und sagt: Die Texte, die wir in den 1970er Jahren
geschrieben haben, waren gegen die Atomenergie. Es ging um die Gefahren
durch Verstrahlung, den Atommüll, die einseitigen Interessen der
Energiewirtschaft. Aber die Dramatik des Klimawandels hatten wir noch gar
nicht richtig auf dem Schirm. [2][Das ist heute eine andere Diskussion.]
Aber noch einmal zu Frankreich und seinem Verhältnis zu Atomenergie und
Atomwaffen: In Frankreich bedeutet die Parole „Nie wieder …“ etwas anderes
als in Deutschland. In Frankreich meint dieses „Nie wieder …“ nie wieder
feindliche Soldaten auf unserem Gebiet. Während man in Deutschland mit „Nie
wieder …“ meint: nie wieder deutsche Soldaten außerhalb der deutschen
Grenzen. Das waren zwei unterschiedliche Lehren aus zwei Weltkriegen. Für
Frankreich bedeuten Atomenergie und Atomwaffen die Garantie für seine
Souveränität.
Die französischen Grünen sind im jetzigen Wahlkampf relativ blass
geblieben. Links von Macron werden die besten Chancen dem sehr
klassenkämpferisch auftretenden Jean-Luc Mélenchon eingeräumt. Warum ist
das so?
Ich glaube, da zeigt sich ein grundsätzliches Problem der französischen
Linken, einschließlich der Sozialistischen Partei. Man träumt immer noch
gerne von Revolution, schätzt demokratische Reformprozesse gering. Da ist
viel verbale Rhetorik dabei, vom Generalstreik, der Mythos des Mai 68 …
An dem [3][Sie einst selbst führend beteiligt waren] …
Ja, aber ohne das für immer nostalgisch zu verklären. Aber auch die
französischen Grünen wollen im traditionellen Sinne sehr radikal sein,
reden vom Bruch mit dem Kapitalismus. Doch als Grüne haben sie eben auch
einen Anspruch auf Vermittlung und ein Funktionieren der gesamten Ökonomie.
Mélenchon hingegen setzt kulturell auf den Mythos des Proletariers. Er
versucht das Erbe von François Mitterrand und der Sozialistischen Partei in
Besitz zu nehmen. Wer den Kapitalismus nicht mindestens rhetorisch
überwinden will, gehört da nicht dazu.
Mélenchon ist autoritär, zentralistisch, Putin konnte er auch immer ganz
gut verstehen, und Venezuela oder Kuba sollen vornehmlich Opfer des
Yankee-Imperialismus sein. Man sollte nicht vergessen: Trotz der Millionen
Opfer von Gulag- und Sowjetsystem kam die KP in Frankreich bis Anfang der
1980er Jahre immer auf über 20 Prozent der Stimmen. Das ist alles nicht
leicht zu begreifen. Aber in dieser Tradition steht ein Mélenchon.
Links außen Mélenchon, auf der populistischen Rechten wütende Gelbwesten,
die für billigen Sprit Geschäfte demolieren, dazu wahrscheinlich über ein
Drittel rechtsextreme Wähler für Le Pen und Éric Zemmour – wie stabil
erscheint die französische Demokratie im Jahr 2022?
Der rechtsextreme Éric Zemmour scheint derzeit wieder im freien Fall. Er
hetzt ja gegen alles und jeden. Zu ukrainischen Flüchtlingen hat er gesagt,
sie sollen in Polen bleiben. [4][Marine Le Pen ist vorsichtiger und dagegen
gemäßigter], auch wenn sie ebenfalls grundsätzlich gegen Migration ist.
Zemmour und Le Pen eint, dass sie Frankreich in seiner Bevölkerungsstruktur
biologisch bedroht sehen, sie sprechen vom „großen Austausch“. Es sind
rassistische Vorstellungen, die auch große Teile der ehemaligen
Sarkozy-Partei vertreten. Etwa 35 bis 40 Prozent der französischen Wähler
dürften wieder für solche Positionen stimmen, die in Deutschland als
AFD-affine gelten würden.
Was ist Ihre Prognose für die erste Wahlrunde am 10. April?
Macron wird vorne liegen. Aller Wahrscheinlichkeit werden wir einen zweiten
Wahlgang haben mit Macron und Le Pen. Mélenchon steigt gerade wieder ab.
Laut letzten Umfragen stabilisiert sich Marine Le Pen bei 20 Prozent,
Macron bei 27, 28 Prozent. Das Problem in Frankreich ist, dass wir eine
radikal gespaltene Gesellschaft haben. Die Rechtsextremen kommen zusammen
auf an die 40 Prozent. Debatten rational zu führen wird immer schwieriger.
Etwa um die Rentenreform. Macron will den Renteneintritt von 62 auf 65
Jahre anheben. Da tritt dann der linke Populist Mélenchon auf den Plan und
bekämpft das Vorhaben mit all den alten rhetorischen Finessen.
Was würden Sie ihm entgegnen?
Man lebt doch heute viel länger als früher! Und man kann doch nicht jede
Reform als rechte Politik denunzieren. Das ist mir zu billig, zu
ideologisch, egal ob man jetzt einen Vorschlag teilt oder nicht. Ich habe
auch Kritik an Macron. Er ist in seinen Formulierungen, seinem Vorgehen oft
zu technokratisch. Er hat wenig Gespür dafür, wie man mit der ganzen
Gesellschaft spricht oder mit Gewerkschaften verhandelt. Das ist ihm fremd.
Aber das Gefährlichste für Frankreich ist diese Präsidialdemokratie.
In Deutschland gibt es das Verhältniswahlrecht, die Parteien müssen nach
dem Anteil ihrer Stimmen Koalitionen bilden. In Frankreich muss ein Macron
mit einer Mehrheit von 28 Prozent der Stimmen gegen eine Marine Le Pen mit
20 Prozent der Stimmen antreten. Aber auch wer es am Ende schafft, mehr als
50 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang auf sich zu vereinigen, hat
keine 50 Prozent der Franzosen hinter sich. Und das bleibt ein reales
Problem.
3 Apr 2022
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## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
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