# taz.de -- Vorstellungen und Realität: Können wir uns neu erfinden? | |
> Wir müssen so schnell wie möglich lernen, mit einer neuen Realität | |
> umzugehen. Auch wenn sie nicht in unsere bisherigen Denkmuster passt. | |
Bild: Zeigt er den Weg? Vize-Kanzler Habeck bei seiner Reise nach Katar am 21. … | |
Unsere bundesdeutsche Freiheit wird mit französischen, englischen und | |
amerikanischen Atombomben verteidigt. Das hat diese Woche [1][Daniel | |
Cohn-Bendit] gesagt, der Held der progressiven Revolte von 1968 und | |
Frontrunner der zeitgenössischen Aufklärung. Ich habe das lange nicht | |
wahrhaben wollen, weil es mir nicht in meinen Denk- und Gefühlskram passte. | |
Die paar Atombomben kriegen wir auch noch weg, dachte ich, denn sie müssen | |
weg. Nur die Ukrainer haben entsprechend gehandelt. Es hat sich als Fehler | |
mit furchtbaren Folgen herausgestellt. | |
Selbstverständlich muss man beim Überarbeiten des Denkens aufpassen, dass | |
Resilienz dabei herauskommt und nicht Militarismus. Aber Russlands | |
Angriffskrieg auf Europa zeigt ja eben, dass wir nicht richtig lagen. Bernd | |
Ulrich spricht in der Zeit von einem „verlogenen Pazifismus“, die | |
Militärexpertin Florence Gaub von einer „fehlenden strategischen Kultur“. | |
Viele dachten, die liberalen Demokratien seien gesetzt und wir könnten uns | |
jetzt nur noch auf die internen sozialen und emanzipatorischen Fortschritte | |
konzentrieren. Ich selbst dachte, wir müssten uns nur noch um die | |
sozialökologische Transformation und die Dekarbonisierung kümmern – und | |
vergaß dabei Putin. | |
Jetzt kommen Rechte und Linke vom gesellschaftlichen Rand oder vom Hochsitz | |
und höhnen, dass „ausgerechnet“ die Grünen nun zum Emir von Katar | |
buckelten, um Gas zu kaufen, dabei hätten sie doch 1896 noch ganz anders | |
geredet. Dahinter steckt neben Strategie und Selbstbefriedigung oft der | |
kurze Gedanke, wir seien unserer Vergangenheit oder gar nur der moralischen | |
Ästhetik verpflichtet. | |
Wir sind aber einer anständigen Gegenwart und Zukunft verpflichtet, das | |
genau meint [2][Joschka Fischers] „Nie wieder Auschwitz“. Es geht jetzt | |
darum, eben nicht das zu tun, was die Bundesrepublik fast immer gemacht hat | |
– Handel treiben und Hände in Unschuld waschen –, denn das reicht in einer | |
sich physikalisch und machtpolitisch radikal verändernden Welt hinten und | |
vorn nicht mehr. | |
## Die fossilen Volksparteien | |
Unsere überwiegend von den fossilen Volksparteien Union und SPD geführte | |
Gesellschaft hat eine Energie- und Außenpolitik gemacht, die sich jetzt als | |
Bedrohung gegen Deutschland und Europa wendet. Pars pro toto dafür steht | |
die Gasabhängigkeit von Russland, die der grüne Vizekanzler nun Schritt für | |
Schritt zu verringern sucht, noch zukunftsgefährdender war die jahrelange | |
Verhinderungspolitik eines zügigen Ausbaus der Erneuerbaren. | |
Wenn es jetzt eben nicht darum geht, sich und seinen Illusionen „treu zu | |
bleiben“, sondern sich entlang der Realität neu zu formieren, dann ist das | |
von Union und SPD wohl zu viel verlangt. Von vielen FDP- und | |
Grünen-Funktionären auch, weil sie ihr Denken und ihr Sein in einer Nische | |
des verantwortungsfreien Illusionismus zusammengenetzwerkt haben. | |
Es ist die große Frage, ob die Parteien, die wir haben, Thinktanks, | |
Universitäten und Medien, überhaupt schnell genug in der Lage sind, auf der | |
Grundlage einer Realität zu denken, die ihnen und ihrer Kundschaft nicht in | |
den Kram passt. Deshalb müssen jetzt Einzelne vorangehen, auch wenn das für | |
sie zunächst schwer sein wird. Sie müssen knallharte europäische | |
Machtpolitik, planetarische Zukunftspolitik und Hegels Anspruch | |
zusammenbringen, die Wirklichkeit vernünftig zu machen. | |
Zuvorderst meint das den Kanzler und den Vizekanzler. | |
27 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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