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# taz.de -- Die Grünen in der Regierung: Da hilft keine Kapitalismuskritik
> Während Aktivistinnen von Weltrevolution träumen, suchen die Grünen nach
> Instrumenten für funktionierende Gebäudedämmung. Gut so?
Bild: Habeck bei der Besetzung der Parteizentrale der Grünen 2020
An einem Freitagabend im Januar treffen sich sieben Klimaaktivistinnen
diverser Organisationen in Berlin-Kreuzberg, um bei einer Veranstaltung im
Theater HAU die Lage zu skizzieren. Ein Mann ist auch noch dabei.
„Kapitalismus, Kolonialismus, Extraktivismus“, sagt die
[1][Fridays-for-Future-Sprecherin Carla Reemtsma]. Nirgends sei das so
verwoben wie in der Autoindustrie, „aber wenn man diese Worte sagt, hat man
vermutlich schon 95 Prozent der Gesellschaft verloren.“
Es wird nicht ausgeführt, ob sie damit sich selbst kritisiert oder die
dummen Leute, die es nicht checken. Jedenfalls wird an diesem Abend klar,
dass die Protestbewegungen offenbar erstens ziemlich ratlos sind und
zweitens (daher?) umso entschlossener, den ganz großen Klassenkampf zu
beschwören, global und intersektional. Die Milliarden der Wachgewordenen
sollen die global agierenden Unternehmen weltweit in die Knie zwingen. So
heißt es.
Ja, ist denn schon wieder 1968 – oder immer noch?
Zwar wird völlig zu Recht beklagt, dass die demokratischen Parteien in
Deutschland sich im Wahlkampf zu 1,5-Grad-Politik bekannt hätten, ohne
dafür einen Plan zu haben. Doch über politische Instrumente zur Linderung
der Erderhitzung wird an diesem Abend im HAU überhaupt nicht gesprochen,
nicht mal über das Klimagesetz der EU. Geschweige denn über Unternehmertum,
Ideen, Erfindungen.
## Von Dutschke zu Habeck
Selbstverständlich haben Protestbewegungen eine bestimmte Rolle und
Funktion. Aber an so einem Abend im Theater fragt man sich schon, ob nicht
nur liberale Demokratie und politische Kultur, sondern gerade auch der
Protest sich zur Bewältigung einer imminenten Krise schleunigst neu und
realitätsnaher aufstellen sollte.
So gesehen sind ausgerechnet die aus Protestbewegungen hervorgegangenen
Grünen womöglich schon einen Schritt weiter; von Rudi Dutschke zu Robert
Habeck, vom Weltrevolutionsgeraune zum konkreten Ausbau der Erneuerbaren
und der Umgestaltung des Strommarktdesigns.
Der Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister ist in den ersten Monaten der
neuen Bundesregierung ohne Zweifel ihre öffentlich herausragende Figur,
obwohl die Partei nur von marginalen 14,8 Prozent gewählt wurde. Während
der Vizevizekanzler Christian Lindner (FDP) das Geld bewachen oder raustun
darf, und Kanzler Olaf Scholz sich öffentlich zurückhält, hat Habeck mit
bewährtem Pathos die ökosoziale Marktwirtschaft ausgerufen und beschrieben.
Es ist das zentrale Projekt dieser Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP,
und es ist politisch ungewöhnlich, weil es nicht Mehrheiten
hinterherdackelt, wie die deutsche Politikkultur das nicht nur Angela
Merkel vorgeschrieben hat. Es ist riskant. Es will Mehrheiten gewinnen,
während es sich vollzieht. Kurzum: Das kann krachend scheitern, und genau
deshalb kann es auch etwas werden.
## Habeck holt den Jackpot
Obwohl Habeck erst nicht recht wollte, hat sich schnell gezeigt, dass
dieses Ministerium für Wirtschafts- und Klimapolitik der Jackpot sein
könnte, sowohl für die Gesellschaft als auch für die Grünen; falls Habeck
das sozialpolitisch so ausbalancieren oder aufziehen kann, dass Scholz und
Lindner in relevantem Ausmaß mitgehen oder es zumindest zulassen müssen.
Aber wie kriegt man die asozial-fossile Politik (Dienstwagenpauschale und
vieles andere) umgedreht? Da hilft keine Kapitalismuskritik, da braucht es
neue Ideen und kompetente und innovative Gesetzestechnik. Darum geht es
jetzt um Instrumente, die den Unterschied machen.
Selbstverständlich ist das für die Klimaaktivistinnen im HAU alles zu
wenig, definitiv nicht der „Systemwechsel“, von dem sie träumen oder
zumindest sprechen, bestenfalls „grüner Kapitalismus“. Aber die
„Überwindung“ der Marktwirtschaft steht definitiv nicht an – außer durch
autoritäre Systeme – sehr wohl aber die Überwindung der fossilen
Industriegesellschaft.
Das Relevante und gleichzeitig Verstörende für manche Linksliberale wie
auch Turboliberale besteht darin, dass Habeck Zukunftspolitik eben nicht
als Verzichts- und Verbotsorgie anlegt (was auch nur ein Unsinns-Phantasma
ist), sondern Unternehmertum und Leistung will, die sich auf der Grundlage
neuer Politikinstrumente entfalten können.
## Das schwierige Wort: Leistung
„Leistung“ ist ein schwieriges Wort für alle Grünen, die von
Benachteiligungen her denken, weil die Privilegien nicht eingepreist
scheinen, die Leistung zugrunde liegen können. Gleichzeitig ist es aber so:
Wenn man sich selbst ernst nimmt in der Beschwörung der kurzen Zeit, die
uns bleibt, dann muss man die Leistung jetzt von all denen einsammeln, die
sie bringen können und ihnen den Rahmen dafür geben, und zwar politisch wie
emotional-kulturell.
So hat Habeck, der ja Obama in Sprechen und Coolsein nacheifert, in einer
„Yes, we can“-Einstandsrede nicht nur die jungen Grünen Weltretterinnen
adressiert, sondern auch den FDP-Jungs mit den Aktenköfferchen gesagt, dass
sie in dieser Gesellschaft gebraucht werden, dass sie hier etwas leisten
können und dafür etwas bekommen werden, und zwar nicht nur Geld, sondern
auch Wertschätzung.
Grüne und FDP haben bei den Unter-30-Jährigen eine absolute Mehrheit, die
Rentnerparteien SPD und Union sind hier auch offiziell bereits
Vergangenheit. Wenn es gelingt, diesen Führungsparteienwechsel nicht im
selbstgefälligen Antagonismus der derzeit noch herrschenden Kultur zu
belassen und ein grün-gelbes Bündnis der Jungen zu schließen, dann kommt
die Bundesrepublik in einen neuen kulturellen und politischen
Aggregatzustand und kann noch einmal Fahrt aufnehmen.
Selbstverständlich kann da aber viel dazwischenkommen, engagierte Kräfte
werden daran arbeiten. Nicht zuletzt, wie wir sie kennen, innerhalb der
Grünen.
## Wer hat's verloren…?
Die entschlossene Ignoranz gegenüber den Gründen für die am Ende krachend
verlorene Bundestagswahl zeigt, dass die Kretschmannisierung und
Habeckisierung der Partei, also die emanzipatorische Entwicklung hin zur
Gesamtgesellschaft, die Positionierung weg vom gesellschaftlichen Rand und
[2][hin zur ökologischen Wirtschaftspartei dort an die Grenzen stößt], wo
die Konturierung der eigenen Identität und Marke die Betonung angeblich
negativer Seiten des Mainstreams notwendig macht.
Die Merkel-Mittianer, die Scholz gewählt haben, haben das auch wegen
Annalena Baerbock gemacht, das muss man verstehen und darf es nicht
reduzieren auf eine reflexhafte Anklage gegen die angeblich misogyne
Gesellschaft.
Es ist kein Zufall, dass [3][die designierte Parteivorsitzende Ricarda
Lang], 28, ihren Aufstieg auch einer Minderheitenkonturierung verdankt, was
sowohl durch den Status als Darling der sogenannten Parteilinken als auch
durch ein desaströses Erststimmenergebnis bei der Bundestagswahl bestätigt
wird. Aber Lang ist auch eine negative Projektionsfläche der sogenannten
Realos, insofern sollte man sie erst mal machen lassen und dann urteilen.
Selbstverständlich gibt es aber Leute, die sich von ihr erhoffen, das
ideale Grün zu schützen und zu bewahren, gegenüber den grünen Ministern und
Staatssekretärinnen, die der Realität verpflichtet sind und von ihr
getrieben werden.
## Reale Ideale
Es wird genügend Momente geben, wo Ideale und Realität, Vergangenheit und
Gegenwart aufeinanderprallen werden. Etwa, wenn der deutsche Beitrag zu
europäischer Machtpolitik neu bestimmt werden muss. Oder wenn eine
Laufzeitverlängerung für die letzten deutschen Atomkraftwerke bevorstehen
sollte.
Man weiß es nie genau, aber es spricht doch etwas dafür, dass die Grünen
zwei Jahrzehnte nach ihrer ersten Regierungsbeteiligung verstanden haben,
dass sie die Welt nicht „retten“ können, sondern nur kleine Spielräume
haben, aber dass man die jetzt nutzen muss.
Das heißt nicht, dass die Partei nun schweigend zuzusehen hat, wie ihre
Minister wursteln. Aber das gute alte „Raus aus der Regierung“-Geheul zum
Schutz des eigenen Seelenheils steht definitiv nicht mehr zur Verfügung.
Die Grünen wurden gewählt, um zu regieren und mit der bundesdeutschen
Gesellschaft etwas hinzukriegen, wie sie nun mal ist.
Weggeduckt haben sie sich lange genug. Und ihre Wähler übrigens auch.
29 Jan 2022
## LINKS
[1] /Aktivistin-Reemtsma-ueber-Klimaerwaermung/!5809895
[2] /Die-Energiewende-voranbringen/!5825784
[3] /Gruenen-Duo-ueber-seine-Kandidatur/!5827984
## AUTOREN
Peter Unfried
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