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# taz.de -- Krise des Kapitalismus: Radikale Veränderung oder Untergang
> Kapitalismus und Demokratie stecken in einer Krise. Der Kapitalismus ist
> auf Wachstum angewiesen. Das kann es nicht geben, aber das sagt niemand.
Bild: Ende des Shopping-Wahns
Hatten wir nicht, über die Jahrzehnte nach dem Weltkrieg hinweg, die nicht
perfekte, aber alles in allem doch beste aller möglichen Ordnungen von
Politik, Kultur und Ökonomie? Wir hatten die parlamentarische Demokratie in
einer liberal grundierten Gesellschaft, in der alle Basisfreiheiten
garantiert waren: Wahl, Versammlung, Presse, Kunst, Mobilität und Beruf –
alles als Freiheiten nach eigenem Willen und eigenem Vermögen organisiert.
Und wir hatten den Kapitalismus, den wir lieber „freie Marktwirtschaft“
nannten und der vielleicht nicht ein Paradies der Gerechtigkeit erzeugte,
aber immerhin Entwicklung von Produktivität und Kreativität. Gewiss gab es
Menschen, die das eine oder das andere, die Demokratie oder den
Kapitalismus, aus moralischen oder ideologischen Gründen kategorisch
ablehnten.
Aber die Mehrzahl der Menschen verlangte nicht nach einer Abschaffung von
Demokratie und/oder Kapitalismus, sondern, wenn überhaupt, nach
Verbesserungen und Erneuerungen innerhalb dieses Doppelsystems. Ein paar
Krisen gehören offensichtlich zu beidem, und ebenfalls dazu schienen
bislang die Selbstheilungskräfte und die Anpassungsfähigkeiten des einen
wie des anderen zu gehören.
Doch nun deutet alles darauf hin, dass die beiden Systeme, in denen wir uns
eingerichtet haben, in Krisen geraten sind, die ihre Selbstheilungs- und
Anpassungsfähigkeiten überfordern. Jedes System steckt für sich in einer
Krise, und dann stecken sie auch noch in der Krise der Gemeinsamkeit, so
als könnte eines der beiden Systeme nur überleben, wenn es sich vom anderen
trennt: der Kapitalismus von der Demokratie oder die Demokratie vom
Kapitalismus. Beispiele dafür gibt es ja mittlerweile genug.
## Trügerische Lösungsmodelle
Die [1][Krise des Kapitalismus] ist dramatisch und universal: Der
Kapitalismus ist in seinem innersten Wesen auf Wachstum und Verbrauch
angewiesen. Die sich abzeichnende Klimakatastrophe und vor allem die
Unfähigkeit des Systems, diese Gefahr auch nur abzumildern, von Abwendung
kann schon keine Rede mehr sein, ist das dramatischste Zeichen dafür, dass
es in naher Zukunft nur zwei Möglichkeiten gibt: radikale Veränderung oder
Untergang.
Eine Mehrheit der Gesellschaft aber scheint zu verharren in der Hoffnung
auf eine technische Lösung, auf das eigene Überleben oder auf ein bisschen
„grünes Wachstum“, selbst wenn es augenscheinlich dafür schon rechnerisch
keine Chance gibt. Trotz [2][Untergangsstimmung] macht man weiter wie
bisher, denn die Furcht vor dem Ende des Kapitalismus und seiner
Wohlstandsversprechungen ist offenbar größer als die Furcht vor dem Ende
der Welt.
Das führt in das Dilemma der Demokratie-&-Kapitalismus-Einheit: Wer die
Wahrheit über den ökologischen Stand der Dinge und die Rolle, die der
Kapitalismus dabei spielt, aussprechen würde, der oder die würde einfach
nicht mehr gewählt. Es gibt keine Partei, die sich zu einer solch einfachen
wie unangenehmen Wahrheit durchringen würde.
Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der ein Drittel (wir sind ja
Optimisten) moralisch und intellektuell in der Lage ist, die Suche nach
Möglichkeiten aufzunehmen, den Planeten und die auf ihm lebende Menschheit
doch noch zu retten. Aber ein weiteres Drittel verfällt einem bösartigen
Leugnungsfaschismus, der lieber Kriege und Bürgerkriege anzettelt, als an
gemeinsamen Konzepten von ökologischer Vernunft zu arbeiten.
## Das demokratische Modell schrumpft
Und das letzte Drittel muss oder will einfach so weitermachen wie bisher,
weil sowohl Verzichten als auch Teilen Kategorien des Verlustes wären. Wie
entscheiden dann unsere Politikerinnen und Politiker? Als würden wir in
einem Auto sitzen, bei dem die einen Gas geben, weil sonst die Finanz-und
Sozialsysteme zerbrechen, und die anderen bremsen wollen, weil sonst die
ökologische und klimatische Katastrophe unaufhaltsam ist.
Während also der Kapitalismus seine Kräfte so weit überdehnt, dass sie
lebensbedrohlich für den Planeten werden, schrumpft das demokratische
Modell in sich zusammen, erstickt in gewisser Weise an sich selbst, und
selbst die „Restdemokratie“ ist gekennzeichnet von [3][Korruption], Zerfall
und Erschöpfung. Beide Systeme haben eine innere Struktur geschaffen, die
sie gegen Erneuerungen und Revisionen weitgehend immun macht.
Der Kapitalismus etwa hat sich im Neoliberalismus (in der entsprechenden
„Wissenschaft“ Neoklassik genannt) radikalisiert, statt sich den
ökologischen und sozialen Herausforderungen zu stellen. Und die Demokratien
des Westens haben sich mit ihren Arrangements mit autoritären Regimes, mit
ihrer Angst vor allem „Linken“ und dem Augenzwinkern nach rechts, mit einer
Kultur der politischen Kaste, die sich lebensweltlich von der des
„Wahlvolkes“ entfernt, mit der Entertainment-Medialisierung usw. ihrer
positiven Kräfte beraubt.
Während es immer mehr an Legitimation und Glaubwürdigkeit mangelt, wird die
Sprache und die Öffentlichkeit der Demokratie immer leerer und unwahrer. In
dieses Vakuum brechen mit Beharrlichkeit und Skrupellosigkeit die
[4][rechtspopulistischen und neofaschistischen Kräfte] ein. Für diese
Situation gäbe es nur zwei nachhaltige Rettungsversuche: den Kapitalismus
überwinden und die Demokratie fundamental erneuern.
Aber nicht nur in den autoritären Teilen des Weltwirtschaftssystems (das
bekanntlich selbst gerade seine große Krise erlebt) sind diese beiden
Forderungen schon mehr oder weniger im Rang des Staatsverrats und der
Sabotage gelandet. Auch hierzulande wird die unangenehme Wahrheit, dass die
Nicht-Überwindung des Kapitalismus das [5][Ende des Menschen-Planeten] und
die Nicht-Erneuerung der Demokratie das Ende dieses Projekts der
politischen Zivilisation bedeutet, nach Kräften bekämpft.
Solidarisch sein hieße derzeit, sich dieser (letzten) Zumutung gemeinsam
stellen. Uns wegen jedem Scheiß erbittert streiten können wir dann bitte
nachher wieder.
15 Sep 2022
## LINKS
[1] https://www.deutschlandfunk.de/ulrike-herrmann-sieht-kapitalismus-am-ende-1…
[2] /Krise/!t5012356
[3] /Schwerpunkt-Korruption/!t5008142
[4] /Rechter-Populismus/!t5280495
[5] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262
## AUTOREN
Georg Seeßlen
## TAGS
Schlagloch
Kapitalismus
Demokratie
Erderwärmung
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