# taz.de -- Neuer Roman von Hernan Diaz: Verrenkungen des Geldes | |
> Beim Börsencrash von 1929 wird ein Spekulant zum reichsten Menschen der | |
> Welt. Hernan Diaz’ Kapitalismus- und Eheroman „Treue“ zieht einen in den | |
> Sog. | |
Bild: Wie geht es weiter? Aufgeregte Menschenmenge in der Wall Street nach dem … | |
„Es bewegt sich, es frisst, wächst, pflanzt sich fort, erkrankt und kann | |
sterben. Aber es ist sauber.“ Als aseptischen Organismus beschreibt Hernan | |
Diaz das Finanzkapital, um dessen Anziehungskraft sein neues Buch „Treue“ | |
kreist. Es ist der zweite Roman des Autors, der in Argentinien und Schweden | |
aufwuchs, über seine Beschäftigung mit Borges früh eine Leidenschaft für | |
amerikanische Literatur entwickelte und nun seit Langem in New York lebt. | |
Andrew Bevel heißt der Protagonist des Romans, er schert sich kaum um das | |
Leben jenseits der Wall Street und hat mit seinem Vater, einem | |
Tabak-Unternehmer und Lebemann, wenig gemein. Statt paffend auf Kuba | |
verbringt er seine Zeit am liebsten mit Blick auf den Börsenticker im Büro | |
und beobachtet, wie das Vermögen „wunderschöne Muster auf seinem Weg in | |
Reiche zunehmender Abstraktion“ zeichnet, bis der Börsencrash von 1929 | |
schließlich ihn, den Profiteur, an die einsame Spitze der Weltwirtschaft | |
katapultiert. Bevel ist nun der reichste Mann der Welt, und die Legenden, | |
die sich um ihn ranken, liefern den Stoff, aus dem „Treue“ konstruiert ist. | |
Aus vier verschiedenen Perspektiven blickt Diaz auf das Geld als „Illusion, | |
die wir alle bereitwillig unterstützen“, und auf die Werdegänge, die es in | |
seinen Sog zieht. Das Verhältnis der Leserin zum Text, das Vertrauen in die | |
Erzähler*innenstimme, strapaziert der Autor mit jedem Teil aufs Neue, denn | |
immer wieder verpuppen sich die Geheimnisse des Bevel-Vermögens in anderer | |
Form: Die unterkühlte Grandeur des ersten Kapitels, vorgeblich ein Roman | |
des fiktiven Schriftstellers Harold Vanner, ähnelt einer | |
Henry-James-Erzählung. | |
Darauf folgt Bevels Autobiografie, geschrieben im großspurigen Ton eines | |
Mannes, dem sich die Welt zu unterwerfen hat, ganz anders als die | |
Aufzeichnungen seiner ehemaligen Privatsekretärin im dritten Teil, die von | |
Zweifeln und persönlichen Erinnerungen geprägt sind. Ida Partenza, Tochter | |
eines italienischen Anarchisten, die nun als Schriftstellerin Erfolg hat, | |
blickt auf ihren Anteil an der Konstruktion der öffentlichen Figur des | |
Financiers zurück und entkommt dabei nicht der Leerstelle, die seine Frau | |
hinterlassen hat. | |
Im Archiv findet Ida schließlich Mildred Bevels Tagebuch aus einem | |
Schweizer Sanatorium, das den letzten Teil bildet. Trotz mancher | |
Unterbrechungen, die ihrer fortschreitenden Krankheit geschuldet sind, | |
kommt darin eine intelligente Frau zu Wort, die schonungslos auf ihre Welt | |
blickt. Mit ihrem wesentlich älteren Ehemann verbindet die hochbegabte | |
Mathematikerin und Mäzenin moderner Musik zwar wenig, doch ist Mildred | |
ohnehin überzeugt, „dass man erst dann wahrlich verheiratet ist, wenn man | |
sich mehr seinem Gelübde verpflichtet sieht als dem Menschen, dem dieses | |
gilt“. | |
## Den Markt manipulieren | |
Die Distanz zwischen den beiden Vertragspartnern überbrückt allein der | |
gemeinsame Enthusiasmus für die kristalline Klarheit der Abstraktion in | |
Mathematik, Musik und Finanzgeschäften. Doch während Mildreds | |
Feinfühligkeit ihr in jeglichen Registern Virtuosität verleiht, verharrt | |
Andrew, der Investor, in der „künstlichen, leblosen Symmetrie“, spielt | |
lediglich die „richtigen Noten ohne jegliches Rhythmusgefühl“. | |
Schlussendlich ist es nicht sein vermeintliches Genie, auf dem Bevels | |
Vermögen beruht, sondern Skrupellosigkeit; die Bereitschaft, den Markt zu | |
manipulieren und die Arbeit anderer unsichtbar zu machen. | |
Der Roman hält die Balance zwischen formalem Wagnis und erzählerischer | |
Spannung mit großem Geschick. [1][Anders als bei Fitzgerald] ist Diaz’ | |
Blick auf den Ostküsten-Kapitalismus nicht von der Romantisierung einer | |
champagnertrunkenen Glitzerwelt getrübt. Er stellt den erfolgreichen | |
Financier als denkbar langweilige Persönlichkeit dar, gesegnet mit dem | |
Charisma eines Scheckbuchs und einzig an den „Verrenkungen des Geldes“ | |
interessiert. | |
## Original und Reproduktion | |
Das Fraktal – eine Form, die ihre eigenen Kopien gebiert, wie die | |
Stahlspitze des Chrysler-Buildings – ist die schwindelerregende | |
Schlüsselfigur, die sowohl den verschachtelten Aufbau des Romans als auch | |
die Selbstvermehrung des Geldes beschreibt. Fraktales Wachstum steht zudem | |
am „Anfang des Wahnsinns,“ den Harold Vanner als unheimlichen Nebeneffekt | |
der Spekulation beschreibt: „endlos betrachtete ein Bild im | |
schwindelerregenden Tunnel das nächste und fragte sich, ob es das Original | |
oder die Reproduktion sei“. | |
An solchen Stellen erinnert „Treue“ an Borges, aber auch an Jean | |
Baudrillards Aufzeichnungen aus dem Westen der USA, wo heute Tech-Vermögen | |
gescheffelt werden. Als nächstes möchte man sich deshalb Diaz’ Erstling, | |
dem Western „In der Ferne“, widmen, um die Verbindung zwischen Wahnwitz, | |
Westküsten-Milliarden und „Pioniergeist“ besser zu verstehen. | |
Trotz der Vielschichtigkeit des Buches bleiben in „Treue“ zwei | |
entscheidende Gründe des Reichtums im Hintergrund: Sklaverei und | |
(neo-)koloniale Ausbeutung. Besonders die Seiten aus dem Schweizer | |
Sanatorium lassen an zwei Werke denken, deren Autoren in der | |
Abgeschiedenheit der Alpen von genau dieser Vergangenheit eingeholt werden: | |
[2][James Baldwins] Essay „Stranger in the Village“ und, auf dessen Spuren, | |
[3][Teju Coles] „Fernweh“. | |
Wie hätten Cole und Baldwin wohl auf Andrew Bevel geblickt? Die Antwort | |
darauf bleibt – wie passend – Spekulation. | |
4 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Luise Mörke | |
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