# taz.de -- Präsidentenwahl in Frankreich: Regieren wie Gott? | |
> Im Amt des französischen Präsidenten konzentriert sich die Staatsgewalt | |
> viel stärker als in allen anderen europäischen Ländern. Warum ist das so? | |
Bild: Emmanuel Macron ist ein kleiner König mit großer Macht – aber: Wird d… | |
## Kann man den französischen Präsidenten mit unserem Bundespräsidenten | |
vergleichen? | |
Nein, ihre Aufgaben und Befugnisse sind kaum vergleichbar. Während der | |
deutsche Bundespräsident vor allem repräsentative Amtspflichten erfüllt, | |
ist der französische Präsident mit mehr Macht ausgestattet als jedes andere | |
Staatsoberhaupt der westlichen Welt. Seit 1965 erhält er sein Mandat und | |
seine Legitimität durch eine direkte Volkswahl. | |
Er fungiert also gewissermaßen als „Wahlmonarch“, wie manche es | |
formulieren. Diese Personenwahl erfolgt in zwei Runden: Wenn im ersten | |
Durchgang kein Kandidat und keine Kandidatin mehr als 50 Prozent der | |
Stimmen erhält, kommt es zur Stichwahl zwischen den zwei Erstplatzierten – | |
so wie nun, [1][am 24. April, zwischen dem bisherigen Amtsinhaber Emmanuel | |
Macron und seiner rechtspopulistischen Herausforderin Marine Le Pen]. Die | |
Amtszeit im Élysée-Palast beträgt dann fünf Jahre. | |
## Wie ist dieses Wahl- und Machtsystem entstanden? | |
Es geht auf den früheren Staatschef General Charles de Gaulle zurück. Im | |
Zweiten Weltkrieg hatte dieser den französischen Widerstand gegen | |
Nazi-Deutschland angeführt, von 1944 bis 1946 war er Präsident einer | |
provisorischen Regierung. 1958, auf dem Höhepunkt des Kriegs in Algerien | |
gegen Frankreich, wurde de Gaulle zum Ministerpräsidenten ernannt und mit | |
der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. | |
Dabei setzte er eine massive Verfassungsreform durch: Die Streitereien | |
zwischen den Parlamentsparteien und die daraus resultierenden ständigen | |
Regierungskrisen sollten ein für alle Mal eingedämmt werden – der Präsident | |
der „Fünften Republik“ erhielt die volle Kontrolle über die Exekutive. De | |
Gaulles damaliger Gegner, der Sozialist François Mitterrand, bezeichnete | |
die Reform als „permanenten Staatsstreich“. Als Mitterrand jedoch selbst | |
als Kandidat der Vereinten Linken von 1981 bis 1995 zum Präsidenten gewählt | |
wurde, änderte er so gut wie nichts am Zuschnitt des Amtes, genauso wenig | |
wie seine Nachfolger. | |
## Welche Befugnisse hat der französische Präsident? | |
Er ernennt den Premierminister und die Regierung. Die Abgeordnetenkammer | |
der „Assemblée nationale“ kann er im Grunde jederzeit auflösen und | |
Neuwahlen anordnen – oder eine Volksabstimmung über ein von ihm gewünschtes | |
Thema organisieren. Alle wesentlichen Entscheidungen, vor allem in der | |
Außen- und Sicherheitspolitik, gehen über seinen Tisch. Artikel 16 der | |
französischen Verfassung sieht zudem vor, dass der Präsident in einer | |
innen- oder außenpolitischen Krise mit besonderen Vollmachten handeln kann. | |
Mit seiner Billigung oder auf seine Anweisung hin kann der von ihm | |
eingesetzte Premierminister auch dank einer außerparlamentarischen Prozedur | |
eine Gesetzesvorlage kurzerhand für verabschiedet erklären, sozusagen an | |
den Abgeordneten vorbei. | |
## Und was ist mit der demokratischen Gewaltenteilung? | |
Sie existiert in Frankreich nur bedingt. Der Präsident ernennt die | |
Spitzenfunktionäre und ein Drittel der Mitglieder des Verfassungsrats. Er | |
bürgt mit der Leitung des „Conseil de la Magistrature“ für die | |
Unabhängigkeit der Justiz, hat gleichzeitig aber das Privileg, Verurteilte | |
begnadigen zu können. Der Präsident ist außerdem der oberste Chef der | |
Streitkräfte und hat als Einziger die Verfügungsgewalt über die | |
französischen Atomwaffen. Auch Frankreichs Geheimdienste brauchen seine | |
Zustimmung für die Tötung von Terroristen im Ausland. | |
So wurden in den letzten Jahren mehrere Dschihadisten in Syrien, Irak oder | |
in der Sahelzone im Auftrag des französischen Staatschefs „neutralisiert“. | |
Vor dem Parlament muss er sich für seine Entscheidungen nicht verantworten, | |
und er kann auch nicht abgewählt, sondern nur in Extremfällen, etwa bei | |
Unzurechnungsfähigkeit oder Landesverrat, seines Amtes enthoben werden. | |
## Welche weiteren Privilegien genießt der Staatschef? | |
Er steht unter strafrechtlicher Immunität und kann von der Justiz während | |
und nach seiner Amtszeit nicht für etwaige Vergehen belangt werden. Dies | |
schützt ihn jedoch nicht vor einer Strafverfolgung für Taten aus der Zeit | |
vor und nach seinem Mandat, wie die Ex-Präsidenten Jacques Chirac und | |
[2][Nicolas Sarkozy leidvoll erfahren mussten]. Das Staatspräsidentensalär | |
beläuft sich zurzeit zudem auf 15.203 Euro brutto im Monat. Nach dem Ende | |
des Mandats bleibt der Präsident auf Lebenszeit Mitglied des | |
Verfassungsrats und bezieht weiterhin ein Monatsgehalt von 13.500 Euro. | |
Zudem finanziert die Staatskasse jedem „Ex“ ein Sekretariat mit Personal, | |
Dienstfahrzeug und Leibwächtern. | |
Annähernd königlich ist der Präsident während seiner Amtszeit | |
untergebracht: Neben dem Haupt(wohn)sitz im Elysée-Palast verfügt er über | |
die Pariser Stadtvilla „Hôtel de Marigny“, den „Palais de l’Alma“ am | |
Seine-Ufer, den „Pavillon de la Lanterne“ auf dem Schlossgelände von | |
Versailles und kann das „Fort de Brégançon“ an der Côte d’Azur als | |
Sommerresidenz nutzen. Darüber hinaus sind bestimmte Jagdreviere allein dem | |
Staatsoberhaupt und seinen Gästen vorbehalten. | |
## Was sind die Vor- und die Nachteile dieser sehr speziellen Rolle? | |
Seine zentralisierte Macht erlaubt es dem Staatsoberhaupt, Entscheidungen | |
rasch zu fällen und durchzusetzen, ohne im Voraus langwierige Kompromisse | |
mit der parlamentarischen Regierungsfraktion oder der Opposition eingehen | |
zu müssen. Freunde und Gegner im Ausland haben zudem eine konkrete und | |
verlässliche Ansprechperson in Paris. Zum Nachteil gereicht dem | |
französischen Präsidenten, dass er für die politischen und wirtschaftlichen | |
Entwicklungen in seiner Amtszeit höchstpersönlich verantwortlich gemacht | |
wird – was sich oft in hitzigen Protestkundgebungen äußert. Man könnte dies | |
auch „das Guillotine-Syndrom“ nennen: Wenn der Quasi-Alleinherrscher | |
[3][die Erwartungen der Bürger*innen enttäuscht], fordern sie mitunter | |
ganz archaisch „seinen Kopf“, so gesehen etwa bei [4][Demos der | |
Gelbwesten]. | |
## Welchen Einfluss hat dann eigentlich noch das Parlament? | |
Zwei Mal in der jüngeren Geschichte sah sich ein Präsident mit einer | |
Mehrheit der politischen Gegner in der Nationalversammlung konfrontiert. | |
„Kohabitation“ wird diese Aufstellung genannt. Sie stellt für den | |
Präsidenten durchaus eine gewisse Behinderung dar. Verfassungsänderungen | |
etwa kann er dann kaum durchführen, denn für einen solchen Schritt ist eine | |
Dreifünftelmehrheit der beiden zum Kongress vereinten Parlamentskammern, | |
von Senat und Nationalversammlung, erforderlich. Gegebenenfalls bleibt dem | |
Staatschef dann noch die Möglichkeit, eine Volksbefragung anzustrengen. | |
Falls er mit seinem Anliegen dabei verliert, erwartet das Wahlvolk seinen | |
Rücktritt, so wie 1969 bei Charles de Gaulle. | |
## Sind die Französ*innen denn zufrieden mit diesem politischen System? | |
Sowohl linke als auch [5][rechte Oppositionsparteien] fordern dieser Tage | |
verschiedene institutionelle Änderungen: [6][Die linke „France insoumise“] | |
wünscht sich eine Totalrevision der Verfassung und einen Wechsel zu einem | |
neuen System, zur dann „Sechsten Republik“. Marine Le Pens | |
rechtspopulistische Bewegung „Rassemblement National“ hingegen verspricht | |
mehr Demokratie durch häufigere Volksabstimmungen – etwa über den Austritt | |
Frankreichs aus der Europäischen Union oder über die Wiedereinführung der | |
Todesstrafe. | |
16 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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