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# taz.de -- Frankreich vor den Parlamentswahlen: Scheidung auf Französisch
> Links in der Hauptstadt, rechts in der Provinz. Unsere Autorin beschreibt
> ein Land, das sich gründlich auseinandergelebt hat.
Bild: Streut Ressentiments, kommt damit aber gut an: Jean-Luc Mélenchon, hier …
In Frankreich gibt es zwei Orte an denen ich mich oft bei Verwandten
aufhalte. Paris sowie Bandol, eine kleine Stadt am Mittelmeer. In Paris
driften meine Freunde immer mehr nach links, in Bandol bin ich von
rechtsextremen Nachbarn umzingelt. Eine Beobachtung, die kein Einzelfall
ist. Vielmehr scheint sie symptomatisch für die extreme Polarisierung der
französischen Gesellschaft, die die Demokratie bedroht.
Jede Kritik an der Linken wird als Rechts zurückgewiesen und umgekehrt. Es
geht zumeist nicht mehr um bessere Argumente und Fakten, sondern darum, den
politischen Gegner mit abgründiger Rhetorik und Demagogie zu erledigen.
Über die Hälfte der französischen Wähler wählt inzwischen extrem.
Bandol befindet sich in einer der rechtsextremsten Regionen Frankreichs,
Provence-Alpes-Côte d’Azur, abgekürzt PACA. In diesem verführerischen
Paradies zwischen Riviera-Chic und provencalischem Charme ist es kein Tabu
mehr, sich damit zu brüsten, den Rassemblement National (RN) von Marine Le
Pen zu wählen.
Wie der Sportclublehrer oder der Juwelier von Bandol. Letzterer lässt
ununterbrochen den Nachrichtensender CNews laufen, eine Art französisches
Fox News, der in einer Endlosschleife über Kriminalität in Frankreich
berichtet. Marseille, 50 Kilometer von Bandol entfernt, ist oft in den
Schlagzeilen. Die nördlichen Stadtteile, in denen viele Menschen mit
Migrationshintergrund in heruntergekommenen Sozialbauten aus den 1960er und
1970er Jahren wohnen, gelten als gesetzlose Zonen, die von Drogendealern
und bewaffneten Banden in Beschlag genommen wurden.
## Rechts an der Côte d’Azur
In den kleinen touristischen und wohlhabenden Küstenstädten der Côte d’Azur
ist davon nichts zu spüren. „Aber die Leute sehen im Fernsehen, was dort
los ist und haben Angst, dass es hier auch passiert“, sagt ein Nachbar,
pensionierter Notar. Islamistische Anschläge wie in Nizza während der
Feierlichkeiten zum 14. Juli 2016 hätten Rassismus und Furcht vor dem Islam
der Einwohner weiter verstärkt. Und manche lassen ganz ungeniert Dampf ab.
Wie etwa die pensionierte Französischlehrerin, die voller Hass von
„dreckigen Moslems“ und „kleinen Negerlein“ spricht, als sie meine Mutt…
sieht. Dabei geben sich die RN-Wähler und Anhängerinnen Le Pens von der
Politik oft resigniert. Nach dem Motto: „Wir haben es vergeblich mit
Sozialisten, Konservativen und dann Macron versucht, uns bleibt nur noch Le
Pen.“ Sie haben vergessen, dass die rechtsextreme Karte bereits schon
einmal gespielt wurde. Und gekostet hat.
Bei den Kommunalwahlen 1995 und 1997 gewann der Front National (Vorläufer
des RN) erstmals mehrere Städte. Alle gehörten zur PACA-Region. Es folgte
ein politisches Desaster. In Vitrolles etwa wurde eine Prämie von 5.000
Franc für „französische Neugeborene europäischer Eltern“ ausgelobt. In
Orange wurden Bücher von Autoren, die des „Kosmopolitismus“ bezichtigt
wurden, aus der Stadtbibliothek entfernt.
In Toulon wurde schließlich der Bürgermeister wegen Veruntreuung zu einer
Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Doch manche Wähler haben ein kurzes
Gedächtnis, auch was ihre früheren Überzeugungen betrifft. Der pensionierte
Notar beteuert, „immer ein linkes Herz“ gehabt zu haben. Jetzt aber wählt
er rechtsextrem.
## Französischer Lafontaine: Jean-Luc Mélenchon
Das akute Misstrauen gegenüber Institutionen und traditionellen Parteien
hat in Frankreich zu einer gefährlichen Orientierungslosigkeit geführt.
Nicht nur rechts, sondern auch links. Bis vor ein paar Monaten waren viele
meiner eher links wählenden Pariser Freunde und Bekannte aus Kultur- und
Medienkreisen keine Anhänger von Jean-Luc Mélenchon, dem Anführer der
linksradikalen Bewegung La France Insoumise (LFI).
Er war ihnen zu anti-europäisch, zu populistisch. Ein Teil von ihnen hatte
dennoch im ersten Gang der Präsidentschaftswahlen für ihn gestimmt. Vor
allem in der Hoffnung, Le Pen so daran zu hindern, als Zweitplatzierte in
die Entscheidungsrunde gegen Macron zu kommen. Vergeblich. Mélenchon
erreichte nur den dritten Platz. Doch mit dem erstaunlich guten Ergebnis
von 22 Prozent der Stimmen.
Auf den Wahlerfolg aufbauend, schaffte er es nun, verschiedene Parteien der
notorisch zerstrittenen französischen Linken hinter sich zu sammeln:
Kommunisten, Grüne und Sozialisten. Sie verständigten sich auf gemeinsame
Positionen und den Namen Nupes („Neue ökologische und soziale Volksunion“).
Und hoffen auf eine Mehrheit bei den jetzigen Parlamentswahlen, die Macron
verpflichten würde, einen Premierminister aus ihren Reihen zu ernennen.
Logischerweise Mélenchon.
Nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen, als die Sozialistische
Partei auf 1,75 Prozent der Stimmen abstürzte und die Grünen bei 4,63
Prozent lagen, schien das geradezu unvorstellbar. Doch seit Mélenchon die
strategische Meisterleistung des Bündnisses gelang, ist es für viele
Sozialisten ein Tabu, ihn zu kritisieren. Auch in meinen Kreisen. Man
schämt sich vielleicht ein wenig, mit ihm zu paktieren, den man vor Kurzem
noch missbilligte. Aber man beruhigt sich und sagt, dass nur so die Linke
gerettet werden könne.
## Viele Versprechen
Auf den ersten Blick scheint dies tatsächlich nachvollziehbar. In einer
Gesellschaft, die seit fünf Jahren von der Auseinandersetzung Le Pen gegen
Macron dominiert wird, ist es ein Segen für die Demokratie, dass die Linke
mit einer Fülle von Vorschlägen (insbesondere in den Bereichen Umwelt und
Soziales!) nun wieder Teil der politischen Debatte ist.
Das sehr umfangreiche Programm der Nupes umfasst über 650 attraktiv
klingende Vorschläge wie eine Verminderung der Treibhausgasemissionen um 60
Prozent bis 2030. Oder eine dringend notwendige Reform der Institutionen
der V. Republik, um das Parlament zu stärken. Im sozialen Bereich will
Nupes den Mindestlohn auf 1.500 Euro netto anheben, Arbeitszeiten auf 32
Wochenstunden reduzieren, das Rentenalter auf 60 Jahre senken und vieles
mehr.
Nur, wie diese Maßnahmen alle finanziert werden sollen, in einem Land mit
dem im Vergleich zu allen anderen OECD-Ländern höchsten Sozialausgaben und
niedrigsten Rentenalter, bleibt ungeklärt. Führungskräfte der Nupes sagen
dazu lediglich: Die Reichen sollen bezahlen. Unter anderem durch die
Wiedereinführung einer Vermögenssteuer, die Macron abgeschafft hat. Wer
auch immer mit „die Reichen“ gemeint ist, es wird kaum ausreichen. Es sei
denn, Nupes setzt auf weitere Verschuldung, was wohl auch so ist.
Und dies, obwohl Frankreich bereits auf einem gewaltigen Schuldenberg
sitzt. Im Jahr 2021 betrug die Staatsverschuldung Frankreichs rund 112,3
Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Für 2022 wird eine ähnliche
Schuldenquote prognostiziert. Nupes will sich offenbar nicht an die von der
EU festgelegte Schuldengrenze von 3 Prozent des BIP halten. Und sie will
„zur Not“ wohl auch mit anderen europäischen Regeln brechen, falls diese
ihrem Projekt im Weg stehen.
## Ein lupenreiner Demokrat
Mit Sorge schauen die deutschen Sozialdemokraten auf das von Mélenchon
geführte Bündnis. In Frankreich selbst kritisieren einige Sozialisten und
Grüne die Zusammenarbeit mit Mélenchon. Der frühere Präsident François
Hollande oder [1][der Grüne Daniel Cohn-Bendit sehen die Gefahr einer
populistischen Radikalisierung] und einen Verrat an europäischen und
sozialdemokratischen Werten. Mélenchon scheint tatsächlich ein
zweifelhafter Demokrat zu sein.
Innerhalb seiner Bewegung gilt er als autoritär und cholerisch. Wer nicht
für ihn ist, ist gegen ihn. Die antidemokratischen Tendenzen zeigen sich
auch in seiner unverhohlenen Bewunderung für Diktatoren wie Hugo Chávez
oder in seiner Verteidigung der Krim-Annexion durch Putin im März 2014;
oder auch in seiner gewalttätigen Reaktion gegen französische Justizbeamte
bei der Durchsuchung seiner Wohnung vor einigen Jahren.
Mélenchon ist zudem ein Nationalist, der gerne der EU und Deutschland die
Schuld an allen Problemen Frankreichs gibt. Sein Buch von 2015 mit dem
Titel „Der Bismarckhering – das deutsche Gift“ sprüht nur so vor Hass ge…
Deutschland. Als Demagoge hat er mit dazu beigetragen, Macron zu
dämonisieren und den Diskurs zu banalisieren, indem er Macron immer wieder
auf eine Stufe mit Le Pen gestellt hat.
Vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen sagte er, dass es für ihn
auch als Premierminister „ziemlich zweitrangig“ wäre, ob er einmal mit
Macron oder mit Marine Le Pen zusammenarbeiten werde.
Populisten gab es immer schon viele, aber wieso sind die Franzosen heute so
anfällig für sie geworden? Verantwortung für die Entfremdung von der
Demokratie tragen viele: [2][Parteien und Politiker, die sich der
populistischen Rhetorik bedienen], Medien, die mit Provokationen und
Vereinfachung die Einschaltquoten hochtreiben.
Intellektuelle, die unfähig sind, überparteilich zu denken. Auch Macron,
der mit seiner „Nicht links, nicht rechts“-Politik dazu beitrug, das
traditionelle Parteienspektrum zu sprengen. Und nicht zuletzt ein
präsidentielles Regierungssystem, das die vertikale Ausübung der Macht
zulässt.
Doch vor allem verstehen viele Franzosen die Politik nicht mehr als eine
des demokratischen Dialogs, sondern als erbitterten identitären Kampf. Sie
verteidigen blind und unnachgiebig, fast schon religiös, ihre jeweiligen
Lager, ohne sie zu hinterfragen. Ohne ehrlichen Austausch der Ansichten,
ohne Respekt vor dem politischen Gegner und der Konsenssuche, die den Geist
der Demokratie erst ausmachen.
11 Jun 2022
## LINKS
[1] /Daniel-Cohn-Bendit-ueber-Frankreich/!5842931
[2] /Europa-Populismus-und-die-Pandemie/!5729585
## AUTOREN
Géraldine Schwarz
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