# taz.de -- Europa, Populismus und die Pandemie: Was uns die Krise lehrt | |
> Verwirrung und Desinformation dient nur Tyrannen. Ein leidenschaftliches | |
> Plädoyer zur Verteidigung der humanistischen Werte Europas. | |
Bild: Demonstration gegen die Corona-Einschränkungen vor dem Parlament am 18.1… | |
Während der Corona-Ausgangssperre schwebte mein Vater zwischen Leben und | |
Tod im Krankenhaus in Paris. Ich erlebte Straßensperren, abgeschirmte | |
Krankenhäuser, die grausame Einsamkeit des Patienten in den Händen des | |
überlasteten Personals. Ich lernte die Angst der Angehörigen kennen, die | |
Ärzte darum anflehten, ihre Liebsten besuchen zu dürfen, und Polizisten um | |
die Erlaubnis anbettelten, die menschenleere Stadt zu durchqueren. | |
Ich spürte dieses Gefühl der Schwere: der Menschlichkeit anderer | |
ausgeliefert zu sein. | |
Das hat mich die Krise gelehrt. Jeder von uns hängt irgendwann in seinem | |
Leben von der Fähigkeit anderer ab, menschlich zu sein. Das Blatt kann sich | |
schnell wenden. Diejenigen, die heute gegen die Verordnungen zum Schutz vor | |
der Ausbreitung von Corona demonstrieren, können morgen die ersten sein, | |
die um Solidarität betteln. | |
Sie scheinen mir der Ausdruck eines triumphierenden Individualismus. Einer | |
Vorstellung, dass jede/r das Recht hat, seinen kleinen Komfort, seine | |
Wünsche und Meinungen grenzenlos zu verteidigen. Soziale Netzwerke haben | |
dieser Entwicklung die Mittel zum Erfolg gegeben. Ein Phänomen, das auf den | |
ersten Blick der Demokratie zu dienen scheint, sie in Wirklichkeit mit | |
seinen wahnwitzigen Auswüchsen aber bedroht. | |
## Wunsch und Kollektivität | |
Denn wenn jede/r unbedingt erwartet, dass ein jeder Wunsch von der Politik | |
umgesetzt werde, ist keine gemeinsame Entscheidung mehr möglich. Ein | |
kollektives Projekt kann aus der kompromisslosen Gegenüberstellung einer | |
Vielzahl unterschiedlicher und mitunter antagonistischer Empfindungen nicht | |
entstehen. | |
Die Demokratie hängt von der Fähigkeit ihrer Bürger:innen ab, die | |
Spielregeln zu verstehen. Sie zu respektieren. Den Dialog, den Konsens, die | |
Kompromisse. Und das bedeutet, zu akzeptieren, dass der eigene Wille nicht | |
immer absolut befriedigt werden kann. | |
Die Demokratie ist vielmehr in Gefahr, [1][wenn das Prinzip der | |
Repräsentation verleumdet, Bundestagsabgeordnete beleidigt und das | |
Parlament angegriffen werden]. Sie ist in Gefahr, wenn die Legitimität von | |
Expert:innen und Wissenschaftler:innen rundweg abgelehnt sowie | |
empirisch feststellbare Fakten diskreditiert werden. Wenn man die eigene | |
Meinung immer schon für Wissen hält. | |
Die Vergangenheit lehrt uns, dass eine gewisse Verwirrung zu einer | |
wahnwitzigen Darstellung der Welt führen und durchaus mörderische Aktionen | |
zur Folge haben kann[2][. In der „Dialektik der Aufklärung“ beschreiben | |
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer] 1944 eine solche Entwicklung. Wo man | |
sich weigert, die Meinung mit der von anderen zu konfrontieren, sie zu | |
überprüfen, wird sie zu einer simplen Überzeugung, zu einer einfachen | |
Erklärung von Welt, die kein eigenes Nachdenken erfordert. | |
## Vernunft und Absolutheit | |
Man flüchtet in die sture Ablehnung von Argumenten, von faktischen | |
Beweisen, die der eigenen Überzeugung widersprechen. Einer Überzeugung, die | |
oft aus einer Mischung von Gerüchten, Verschwörungstheorien und | |
Gefühlslagen besteht. Sie mündet in Paranoia, in der jeder Widerspruch als | |
persönlicher Angriff empfunden wird. Ein kleiner Schritt nur noch bis zur | |
wahnsinnigen Tat. | |
Pandemien sind nur eine der vielen Herausforderungen, die im 21. | |
Jahrhundert auf uns warten. Um sie zu meistern, werden humanistische Werte, | |
wie sie in der europäischen Verfassungen verankert sind, von maßgeblicher | |
Bedeutung sein. Wir müssen uns denen widersetzen, die versuchen, diese als | |
schwach, naiv oder trügerisch zu diskreditieren. Die gemeinsamen | |
humanistischen Werte sind die Voraussetzung für unser Überleben. | |
Das 20. Jahrhundert hat uns gezeigt, wozu der Mensch fähig ist, wenn er | |
seine Menschlichkeit verliert. Er zerstört sich selbst. Heute sind wir | |
erneut mit Weltanschauungen konfrontiert, die im Menschen ein Mittel und | |
nicht den Zweck sehen. Die ihn zum Instrument eines Staatsapparats, einer | |
Ideologie, einer Wirtschaftsordnung oder technologischer Experimente | |
machen. | |
Lügen werden von autoritären Regimen systematisch verbreitet, um die | |
Bevölkerungen besser instrumentalisieren zu können. Wo die Freiheit | |
eingeschränkt ist und repressive Mächte herrschen, fügen Menschen sich | |
bereitwilliger, um als Rädchen im Räderwerk zu dienen. | |
## Autoritäre Regime | |
Aber auch in den Demokratien Europas besteht die Gefahr, dass man die | |
Lehren der Geschichte aus den Augen verliert. Nicht selten begegne ich | |
Menschen, auch in meinem Bekanntenkreis, die den wirtschaftlichen Erfolg | |
Chinas oder die einer Weltmacht wie Wladimir Putins Russland offen | |
bewundern. Über die Faszination für das Gesetz des Profits oder die virile | |
Selbstinszenierung von Macht verblassen sogar Menschenrechtsverbrechen, wie | |
Pekings Völkermord an den Uiguren. | |
Manche wählen nicht unbedingt populistische Parteien. Sie betrachten sich | |
selber als tolerant und demokratisch. Doch sie bedienen sich der | |
populistischen Rhetorik. Ressentiment und Frust werden zum „Widerstand“ | |
gegen die „politische Korrektheit“ umgedeutet. Je oberflächlicher die | |
Kenntnisse sind, desto provokativer fallen die diffamierenden Slogans aus. | |
Man glaubt, es führe zu keiner Konsequenz, eine solche Haltung zu | |
verbreiten und sich leichtfertig auf den Relativismus der moralischen Werte | |
zu berufen. Man glaubt, Worte töten nicht. Und so vergisst man nach und | |
nach der Mensch zu sein, der man einmal war. Und schaufelt fleißig mit am | |
Grab für Freiheit und Demokratie, im Namen eines entmenschlichten Systems. | |
Gewiss lebt die Demokratie von Streit, Debatte und Meinungsvielfalt. Eine | |
offene Gesellschaft muss ihre Grenzen immer wieder neu bearbeiten. Gerade | |
das verschafft ihr Legitimation. Bedenken gegen die Gesundheitspolitik der | |
Behörden, die Schwachstellen der Demokratie, sie sollten ohne moralische | |
Zensur artikuliert werden. Aber nur eine Meinung zu haben, die sich aus | |
sich selbst heraus begründet, ist eine gefährliche Verkürzung. | |
## Fundamentale Missverständnisse | |
Es wäre ein fundamentales Missverständnis, Gewalt mit Stärke zu | |
verwechseln, Skrupellosigkeit mit Mut, Geld mit Erfolg, Quantität mit | |
Qualität, Meinungen mit Fakten. | |
Solche Verwechslungen zeigen, wie sehr Worte ihrer Bedeutung beraubt werden | |
können. Wenn Sprache in dieser Weise kontaminiert wird, kann es keinen | |
argumentativen Austausch mehr, keine echte Auseinandersetzung, kein Wissen | |
und keine Wahrheit, die wir miteinander teilen, mehr geben. [3][Ein Volk, | |
das in diesem Sinne nicht mehr urteilsfähig ist, kann unendlich manipuliert | |
werden, stellte Hannah Arendt] einst fest. | |
Es liegt an jedem von uns in Deutschland und Europa, der | |
Orientierungslosigkeit zu widerstehen, die eine Minderheit versucht | |
wirkmächtig zu befördern. Verwirrung und Desinformation dient nur Tyrannen. | |
Unsere Wertegemeinschaft braucht dagegen eine klare Orientierung. Europa | |
muss den Worten Demokratie, Gerechtigkeit, Mut und der Freiheit selbst ihre | |
Bedeutung zurückgeben, indem es diese humanistischen Werte | |
unmissverständlich lebt und sie den Bürger:innen über Bildung vermittelt. | |
Die geistige Entfaltung des Menschen muss in Europa als Maßstab des | |
Fortschritts gelten, und nicht nur Wirtschaftsleistungen oder | |
technologische Erfindungen. Sonst droht „die Faszination für große Zahlen�… | |
unsere Fähigkeit zu untergraben, das zu schätzen, was sich schlecht in | |
Zahlen messen lässt: die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Moral, die | |
Freiheit, das Schöpferische – der Mensch selbst und die Unschärfe der | |
conditio humana. | |
## Die irrationale Dimension | |
Der Mensch ist nicht reduzierbar auf Statistiken, Algorithmen, Daten. Er | |
ist sowohl rational als auch irrational. Wenn die irrationale Dimension des | |
Menschen geleugnet wird, dann nutzen Demagogen diese Leerstelle für ihre | |
politischen Zwecke, um an die niedrigsten Instinkte des Menschen zu | |
appellieren und ihre Anfälligkeit für Mythen und Verschwörungstheorien zu | |
befriedigen. | |
Humanistische Werte sind kein moralisches Accessoire, das uns ein hübsches | |
Aussehen verleiht. Sie helfen uns Herausforderungen zu bewältigen, die | |
Zukunft gemeinsam zu gestalten und die Gefahren zu erkennen. Sie helfen | |
uns, bewusster zu leben. | |
Je konsequenter Europa diesem Weg folgt, desto stärker wird sein normativer | |
Einfluss sein. Desto glaubwürdiger sein Bestreben, dem Anspruch des | |
Menschen zu dienen, seine Angst, seine Vorurteile und seine Urinstinkte zu | |
überwinden – sein Leid in Freiheit zu verwandeln und sich zur | |
schöpferischen Vernunft zu erheben. | |
28 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Géraldine Schwarz | |
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