# taz.de -- Graphic Novel über Hannah Arendt: Die Monster aus der Normalität | |
> Heidegger oder Apfelstrudel? „Die drei Leben der Hannah Arendt“ – eine | |
> scharfsinnige Denkerin unter Männern, Nazis und als deutsche Jüdin im | |
> Exil. | |
Bild: „Eine Träne im Kosmos“, Hannah Ahrendt 1943, gezeichnet von Ken Krim… | |
„Zu früh. Zu wütend. Zu klug. Zu dumm. Zu ehrlich. Zu versnobt. Zu jüdisch. | |
Zu wenig jüdisch. Zu liebend, zu hassend, zu männlich, nicht männlich | |
genug“. Der nordamerikanische Autor Ken Krimstein stellt diese Zeilen | |
seiner Graphic Novel „Die drei Leben der Hannah Arendt“ einführend voran. | |
Auf der gegenüberliegenden Seite hat er ein Zitat aus einem Song von Bob | |
Dylan platziert: „Don’t follow leaders, watch the parking meters“. Folge | |
keinen Führern, behalte die Parkuhren im Auge. | |
Hannah Arendt wurde, wie Krimstein weiter kurz und prägnant vorweg | |
schreibt, „zu einer anderen Zeit in einer verlorenen Welt in einem | |
verlorenen Land geboren, sie war Flüchtling, Philosophin, Denkerin“. | |
Als junge Denkerin faszinierte sie Intellektuelle in den 1920ern beim | |
Studium in Marburg, Freiburg und Heidelberg, im Romanischen Café in Berlin. | |
Als Flüchtling gelangte sie 1933 ins Pariser Exil. 1937 bürgerten die Nazis | |
sie als jüdische Deutsche aus. Nach der Besetzung Frankreichs durch die | |
deutschen Truppen flüchtete sie weiter nach Lissabon. Sie konnte auch ihre | |
Mutter retten, neue Heimat wurden die USA. Arendt galt als scharfsinnige | |
wie streitbare Persönlichkeit. | |
„Kein Mensch hat bei Kant das Recht, zu gehorchen,“ sagte sie in einem | |
Interview, wobei der Satz gerne ohne „bei Kant“ weiterverwendet wurde. Er | |
charakterisiert ihre individualistische, liberale und freiheitliche | |
Grundhaltung ganz gut. | |
## Banalität des Bösen | |
Ihre Werke wie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1950) oder | |
„Vita activa oder Vom tätigen Leben“ (1958) sind heute Klassiker der | |
Demokratie- und Totalitarismusforschung. Mit „Eichmann in Jerusalem. Ein | |
Bericht von der Banalität des Bösen“ (1963) löste sie eine lange anhaltende | |
Kontroverse aus. SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann ist einer der | |
Hauptorganisatoren bei der Vernichtung der europäischen Juden gewesen. | |
Nachdem ihn israelische Agenten 1960 in Argentiniens Hauptstadt Buenos | |
Aires aufspürten – wo er kaum getarnt bei Daimler-Benz arbeitete und | |
anderen Nazis wie Willem Sassen ungeniert Interviews gab –, konnte er nach | |
Jerusalem entführt und vor Gericht gestellt werden. Hannah Arendt | |
beobachtete den Prozess. Dass sie das Böse in Gestalt des kalten | |
Technokraten Eichmann als banal bezeichnete, darüber entrüsteten sich | |
viele. Heute ist es [1][gängige Redewendung und Denkmodell]. Das Böse ist | |
mitten unter uns, der Normalität entspringen die Monster. Und Eichmann? | |
„Eine mit Sägemehl ausgestopfte Puppe.“ | |
Arendts Biografie einer Frau, Jüdin, Meisterdenkerin allein unter Männern | |
und im Angesicht des Holocaust, ihre herausgehobene Stellung in der | |
Geschichte der Politischen Theorie könnte leicht zu einer gewissen Heroik | |
in der Darstellung verführen. Der Comicautor Ken Krimstein widersteht dem | |
zum Glück. | |
Er unterstreicht in seiner Erzählung die Ambivalenz der Existenz, es gibt | |
keine glatten Lebensläufe. Im Stile des Bad Painting berichtet er Episoden | |
aus Arendts Königsberger Kindheit, dem säkular eingestellten jüdischen | |
Elternhaus, dem frühen Tod des Vaters, erzählt von ihren philosophischen | |
Liebschaften (Heidegger), den Enttäuschungen, ihrem Freiheitswillen, den | |
philosophischen Freundschaften (Walter Benjamin!), Zionismus, Nazis, | |
Lagern, New York und dem Weiterleben nach 1945. | |
## Antisemitismus und Liebe | |
Krimsteins antiautoritärer Witz erinnert ein wenig an das Duo | |
Sempé/Goscinny und den schelmenhaften „kleinen Nick“. Aber mit dem | |
Vergleichen ist das so eine Sache. Auf alle Fälle verweigert sich diese | |
Graphic Novel dem häufig üblichen Glattbügeln menschlicher Widersprüche. Im | |
ersten Kapitel, „Die Sorgen der kleinen Hannah“, hebt Krimstein eine | |
Episode hervor, in der ein Junge Hannah in Königsberg antisemitisch | |
beschimpft. | |
Später wird derselbe Junge Hannahs erster Liebhaber sein. Und das auch, | |
wenn für Hannah Arendt seit der Jugend außer Frage stand, was ihre Mutter, | |
sie lehrte: „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude | |
verteidigen.“ | |
Krimstein folgt in seiner zeichnerischen Interpretation der | |
Arendt-Biografin Elisabeth Young-Bruehl. Und er erweist sich dabei selber | |
als ausgezeichneter Kenner des Werks Arendts, der politischen | |
Theoretikerin, die selber keine Philosophin genannt werden wollte. Auf | |
humorvolle Weise, aber auch mit dem nötigen Respekt versehen, gelingt es | |
ihm, zentrale Motive der Arendt’schen Theorie in eine überzeugende | |
Comic-Fiktion zu übertragen, und mit ihrem spannenden und engagierten Leben | |
zu verbinden. | |
Alltägliches und Zeitereignisse, Banales und Theoretisches bilden eine | |
Einheit, ohne dass die Leser*innen aus Ehrfurcht vor einem überhöhten | |
Kathederwissen in die Knie gehen müssten. | |
## Dämon Heidegger | |
Krimstein stilisiert Arendt oft mit spitzem, schmalem und kantigem Gesicht. | |
Sie hat in jüngeren Jahren einen fragenden, trotzigen, eigensinnigen Blick, | |
der später milder und melancholischer erscheint. In einer Hand hält sie | |
zumeist die vor sich hin qualmende Zigarette. Die Bilder sind in | |
Schwarz-Weiß angelegt, einzige Ausnahme sind Einsprengsel von Patinagrün. | |
Damit betupft der Zeichner Blusen, Kleider, Mäntel und manchmal auch | |
Schmuck seiner Hauptfigur. Dies wirkt irgendwie selbstverständlich und hebt | |
sie von den vielen anderen Personen der Erzählung dezent ab. | |
Etwa von jenem Dämon namens Martin Heidegger, den sie seit ihren | |
Studienjahren in Marburg kannte, liebte und nie mehr wirklich loswerden | |
sollte. „Mein Verstand schlägt Kapriolen. Zum ersten Mal hat einer die | |
Kühnheit, die Seinsfrage zu stellen.“ Die beiden waren ein geheimes | |
Liebespaar, bis er sie wegschickte. Schon bevor Hannah Arendt 1933 ins Exil | |
gehen musste, wandte sich Heidegger begeistert der neuen Zeit zu und | |
gedachte seine völkisch-elitären Ideen in die Nazibewegung einzubringen. | |
Er trat der NSDAP im Mai 1933 bei und führte als Rektor in Freiburg die | |
Universität ins Dritte Reich. Ein Jahr später schmiss er hin. Die Nazis | |
waren ihm nicht radikal genug. Im Kapitel „Heideggers Hütte“ erzählt | |
Krimstein von einem Besuch Arendts bei den Heideggers in deren | |
Schwarzwaldhütte nach 1945. „Was ist in seinen Augen? Liebe, Lust, Lügen?“ | |
Und an anderer Stelle hält sie ihr einsames Zwiegespräch mit dem | |
Abwesenden: „Hast Du es immer noch nicht begriffen? Die Wahrheit gibt es | |
nicht – nur Wahrheiten.“ | |
Krimsteins sarkastisch-schnoddriger Erzählstil sorgt dafür, dass diese | |
große Geschichte trotz ihres ernsten Hintergrunds und ihrer theoretischen | |
Genauigkeit eine gewisse Unaufgeregt- und Lockerheit behält. | |
„Was ist der Sinn des Lebens?“, wird Arendt in einer Episode von einer | |
berühmten, sehr berühmten Person in der Graphic Novel gefragt. Krimstein | |
lässt die Philosophin, die keine sein wollte, schlicht und präzise | |
antworten: „Der Apfelstrudel im Romanischen.“ | |
20 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Milo-Rau-am-Nationaltheater-in-Gent/!5531954 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
## TAGS | |
Graphic Novel | |
Comic | |
Literatur | |
Hannah Arendt | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Politisches Buch | |
Hannah Arendt | |
Verschwörungsmythen und Corona | |
Hannah Arendt | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Exilkunst | |
Hannah Arendt | |
Comic | |
Comic | |
Milo Rau | |
Martin Heidegger | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Graphic Novel über Emmie Arbel: „Ich war nicht schwach“ | |
Barbara Yelin erzählt in einer Graphic Novel von der in Israel lebenden | |
Emmie Arbel. Von Kindheit und Überleben mit dem Holocaust. | |
„Hans Jonas Handbuch“: Philosophie des Lebens | |
Ein Buch widmet sich dem Philosophen Hans Jonas. Dessen „Prinzip | |
Verantwortung“ gilt als eine systematische Grundlage der ökologischen | |
Bewegung. | |
Flüchtlinge in der Weihnachtsgeschichte: Nackter Überrest des Fremden | |
Wandern, fliehen, migrieren, sich niederlassen, heimisch werden – die | |
Solidarität mit Flüchtlingen ist von jeher die Grundlage aller Ethik. | |
Europa, Populismus und die Pandemie: Was uns die Krise lehrt | |
Verwirrung und Desinformation dient nur Tyrannen. Ein leidenschaftliches | |
Plädoyer zur Verteidigung der humanistischen Werte Europas. | |
Hannah-Arendt-Ausstellung in Berlin: Königin der Chuzpe | |
Hannah Arendts Denken erlebt eine Renaissance. Das Deutsche Historische | |
Museum in Berlin widmet ihr nun eine Ausstellung. | |
Theaterstück in Linz: Eine Oper als Geschichtslabor | |
Der Künstler Peter Androsch inszeniert mit Jugendlichen eine Geschichte aus | |
Oberösterreich: „Die Schule“ im Musiktheater Linz. | |
Ein Ort für Exilkunst: Suchen. Finden. Weitersuchen | |
Thomas B. Schumann sammelt Werke von Künstler*innen, die von den Nazis ins | |
Exil getrieben wurden. Sie stapeln sich in seiner Wohnung. | |
Hannah Arendts Band „Wir Juden“: Aktueller denn je | |
Ein Band versammelt Texte der Philosophin Hannah Arendt. Ihr Plädoyer für | |
den Kampf gegen Antisemitismus macht sie zu unserer Zeitgenossin. | |
Comic „Alack Sinner“: Erst hard boiled, dann Noir-Poesie | |
Mit „Alack Sinner“ von Carlos Sampayo und José Muňoz ist ein Meilenstein | |
der Comic-Moderne nun auf Deutsch erschienen. | |
Posy Simmonds über ihre Graphic Novels: „Was für ein Schatz!“ | |
Posy Simmonds ist die große alte Dame der britischen Graphic Novel. Die | |
Chronistin der Mittelschichten spricht über ihr Werk. | |
Milo Rau am Nationaltheater in Gent: „Klassiker verboten!“ | |
Regisseur Rau schlug eine Intendanz am Züricher Schauspielhaus aus und geht | |
nach Belgien. Ein Gespräch über Homophobie und die Banalität des Bösen. | |
Nach den „Schwarzen Heften“: Austreibung der Metaphysik | |
Auch nachdem das Ausmaß von Heideggers Antisemitismus nun bekannt ist, | |
ziehen Intellektuelle ihn für die Kritik des Zionismus heran. |