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# taz.de -- Graphic Novel über Emmie Arbel: „Ich war nicht schwach“
> Barbara Yelin erzählt in einer Graphic Novel von der in Israel lebenden
> Emmie Arbel. Von Kindheit und Überleben mit dem Holocaust.
Bild: Aus: Barbara Yelin, „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“
Zwei Bilder eines kleinen Mädchens. Auf dem ersten lacht es, sorgfältig
gekleidet, in die Kamera eines Fotostudios. In seinem Haar steckt eine
große Schleife; auf dem Schoß hält es einen Spielzeug-Pinguin.
Auf dem zweiten Bild, das 1945 aufgenommen wurde, ist das Mädchen acht
Jahre alt – und kaum mehr wiederzuerkennen. Mit kurz geschnittenen Haaren,
einfach angezogen, schaut es androgyn und vorzeitig gealtert aus. Das liegt
vor allem an seinem Blick, der tief und forschend ist, misstrauisch und
leicht rebellisch. Das ist kein Kinderblick mehr, sondern der eines
seelisch zutiefst versehrten Menschen, der die Hölle auf Erden gesehen hat.
Das Mädchen heißt Emmie Arbel; aus ihm wurde eine Frau, die inzwischen 86
ist und in Israel lebt. Geboren 1937 in Den Haag, wurde sie 1942 mit ihrer
Familie in das Sammellager Westerbork, 1944 dann mit ihrer Mutter und ihrem
älteren Bruder Rudi nach Ravensbrück deportiert.
Das Kriegsende erlebte sie in Bergen-Belsen; kurz nach der Befreiung des
Lagers starb Emmies Mutter. Ihr Vater wurde in Buchenwald ermordet, ihre
Großeltern in Auschwitz. Menachem, ein weiterer Bruder, überlebte und kam
in Holland wieder mit seinen Geschwistern zusammen.
## Kinder nicht im Focus der Forschung
Eine Million jüdischer Kinder wurde im Holocaust umgebracht. Für
diejenigen, die davonkamen, hat sich die Forschung zum Nationalsozialismus
lange nicht besonders interessiert.
[1][Ging es um Berichte von Zeitzeugen], lag der Fokus auf den erwachsenen
Überlebenden. Erst seit aus den damaligen Kindern Hochbetagte geworden
sind, hat sich dies geändert. So konnte diese Graphic Novel entstehen, im
Rahmen eines von Kanada ausgehenden internationalen Projekts, das den
bislang wenig Beachteten eine Stimme geben und zugleich neue Formen
wissenschaftlicher und künstlerischer Vermittlung des Holocausts erproben
will.
Im vorigen Jahr erschien bereits [2][der Band „Aber ich lebe“ (taz vom 14.
8. 22)], in dem Barbara Yelin auf 40 Seiten zentrale Erlebnisse Emmie
Arbels wiedergab. „Die Farbe der Erinnerung“ erlaubt nun einen genaueren
Einblick in das Leben dieser außergewöhnlichen Frau.
„Ich mag das Wort ‚Überlebende‘ nicht“, sagt Arbel in einem der vielen
Gespräche, das Yelin mit ihr geführt hat. „Der Arme, die Arme, sie hat
überlebt. Ich mag es nicht, wenn man mich bemitleidet oder denkt, ich sei
schwach. Ich war nicht schwach. Das weiß ich. Ich weiß, dass ich stark
bin.“
## Unerschütterlicher Lebensmut
Dieser unerschütterliche Lebensmut ist umso bemerkenswerter, als Arbel
weitere belastende Erfahrungen nicht erspart geblieben sind. Die
schwerwiegendste unter ihnen: In Holland wurde sie von ihrem Pflegevater,
der Auschwitz überstanden hatte und einen besten Ruf als Erzieher und
Menschenfreund genoss, ein Jahr lang systematisch sexuell missbraucht.
Weder darüber noch über ihre KZ-Erfahrungen wollte und konnte Arbel
jahrzehntelang sprechen. Im jungen Staat Israel, in den sie 1949 mit ihrer
Pflegefamilie auswanderte, war das Reden über den Holocaust verpönt: „Es
war nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg. Die Leute fühlten sich
stark. Man sprach nicht darüber, was geschehen war. Lange Zeit nicht.“
Die paradoxe Konsequenz dieser Haltung war, dass die Opfer sich schuldig
fühlten: „Damals sagten viele Leute in Israel, die Juden in Europa hätten
sich wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen. Wir schämten uns.“ Die
Kehrseite von Arbels Stärke ist die Abkapselung ihrer Traumata.
## Dramatischer Auftakt
Erst 1977, als sie mitten in der Nacht mit dem Auto zu ihrer
Psychotherapeutin gerast ist, kann Arbel das, was man ihr angetan hat,
äußern. Die Szene bildet den dramatischen Auftakt der Graphic Novel.
Die plötzliche, explosive Freisetzung des Verdrängten setzt Barbara Yelin
virtuos in Bildern um, die wie locker auf die Seiten geworfen wirken und
sich nicht dem sonst dominierenden Viereckformat fügen wollen. „Wir saßen
die ganze Nacht“, heißt es an einer Stelle; darüber ist das Haus der
Therapeutin zu sehen, das in einem See aus Nachtblau und Schwarz zu
versinken scheint.
„Die Farbe der Erinnerung“ ist das Gegenstück [3][zu der grandiosen Graphic
Novel „Irmina“ (2014)], in der Barbara Yelin die zunehmende ideologische
Verstrickung einer im Grunde emanzipierten, weltoffenen jungen Deutschen
zur Zeit des Nationalsozialismus geschildert hat.
Emmie Arbel hat Yelin erstmals 2019 auf dem Gelände von Ravensbrück und
danach immer wieder getroffen, sei es in Israel oder zu Zoomgesprächen. Aus
der Arbeitsbeziehung ist beidseitig eine enge persönliche Bindung
entstanden.
## Starke emotionale Wirkung
Im Comic tritt Yelin immer wieder als Interviewerin auf. Sich selbst nimmt
sie allerdings völlig zurück. Nur im Nachwort offenbart sie, wie stark die
Begegnungen mit Arbel gedanklich und emotional auf sie eingewirkt haben.
Sowohl auf der Ebene der Gegenwart als auch jener der Vergangenheit ist
„Die Farbe der Erinnerung“ nicht linear erzählt. Mehr noch. Analog dazu,
dass für Arbel die Schrecken ihrer Kindheit nie vergehen können, lässt
Yelin die Zeiten und Orte in einer Weise einander überlagern, die nur im
Comic, in keinem anderen Medium möglich ist.
So schließt die Szene, in der Arbel sich ihrer Therapeutin öffnet, mit
einer Seite, in der vor einem überwiegend schwarzen Hintergrund grauweiße
Kringel an das unaufhaltsame Aufsteigen von Kohlensäurebläschen erinnern.
Das lässt sich als eine treffende Visualisierung der Wiederkehr von Arbels
verdrängten Erinnerungen begreifen.
Auf der nächsten Seite verwandeln sich die Kringel aber in den Kies, der
unter Yelins Füßen knirscht, als sie erstmals Ravensbrück aufsucht.
Für die Schilderung ihrer Besuche in Israel verwendet Yelin helle, aber
nicht leuchtende Farben. Als sie Arbel die titelgebende Frage stellt, was
denn die Farbe der Erinnerung sei, lautet die Antwort: „Schwarz“.
## Gefühl der Erniedrigung
Mit dieser Farbe verbindet Arbel das Gefühl der Erniedrigung. Schwarz
überwiegt daher in den KZ-Szenen, in denen Yelin die Häftlinge teilweise
nur als Schemen zeichnet, geisterhaft, als seien sie schon gestorben. Auch
ohne das grafische Ausbreiten grausiger Details sind diese Bilder unendlich
bedrückend. Sie zeigen den nicht überbietbaren Schrecken und wahren
zugleich die Würde der Opfer.
Es gibt nicht viele Comics, die den Holocaust und seine psychischen Folgen
so eindrücklich darstellen wie „Die Farbe der Erinnerung“.
19 Dec 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Christoph Haas
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