# taz.de -- Comic über Proust und sein Dienstmädchen: Im Dienst bei Marcel Pr… | |
> Céleste Albaret war Assistentin und Inspiration des Autors Marcel Proust. | |
> Chloé Cruchaudet widmet der Beziehung zwischen den beiden einen Comic. | |
Bild: Das Mädchen vom Land und der schreibende Dandy: So wird die erste Bezieh… | |
Eines Nachts kommt Marcel Proust zurück in seine Pariser Wohnung am | |
Boulevard Haussmann 102. Er war ausgegangen, und seine treue Haushälterin | |
Céleste ist nun sofort zur Stelle, um den Lebemann zu umsorgen, dem | |
Fröstelnden die obligatorische Wärmflasche zu reichen. | |
Da beginnt er, Céleste von einer Begegnung mit einem alten Bekannten zu | |
erzählen, dem er einst Möbel schenkte, und dem anschließenden Besuch in | |
dessen „Hotel“, wo sich Männer näherkommen. Céleste, eben noch hundemüd… | |
spitzt die Ohren, was ihr „Monsieur“ da Ungeheuerliches erzählt. | |
Die beiläufig erzählte Geschichte hat etwas von einem nächtlichen | |
Geständnis. Doch kaschiert Proust gegenüber der Hausangestellten seine | |
eigene Rolle in dem nächtlichen Ereignis. Trieb ihn Voyeurismus oder | |
eigenes sexuelles Verlangen nach Ausschweifung unter dem Vorwand, Recherche | |
für seinen Roman zu betreiben? | |
Die aktuell erschienene Graphic Novel „Céleste – ‚Gewiss, Monsieur Prous… | |
“ widmet sich einer besonderen Beziehung mit literarischen Folgen. Der von | |
Céleste Albaret (1891–1984) zum 20 Jahre älteren Schriftsteller Marcel | |
Proust, dessen Haushalt sie von 1914 bis zu seinem Tod 1922 führte. | |
## Ihr Stil hat sich deutlich verfeinert | |
Die Französin Chloé Cruchaudet hat die Memoiren Albarets, die auf | |
Interviews des Journalisten und Schriftstellers Georges Belmont basieren | |
und erstmals 1973 erschienen sind (Céleste Albaret, „Monsieur Proust. | |
Erinnerungen. Aufgezeichnet von Georges Belmont“, 2021), neben zahlreichen | |
weiteren Quellen ihrer Comicbiografie zugrunde gelegt. Sie hat daraus ein | |
eigenständiges Kunstwerk geschaffen, dessen erster Teil nun vorliegt. Der | |
abschließende zweite Band soll in einem Jahr erscheinen. | |
Cruchaudet wurde 1976 in Lyon geboren, hat Kunst und Animation in Paris | |
studiert. 2014 hatte sie einen ersten Achtungserfolg mit der Graphic Novel | |
„Das falsche Geschlecht“ (auf Deutsch im Avant Verlag). [1][Es war die | |
Geschichte eines Deserteurs im Ersten Weltkrieg, der sich als Frau | |
verkleidet und tarnt – und seine neue Identität auch nach dem Krieg | |
weiterlebt]. | |
Diese Transgendergeschichte erntete gute Kritiken und war grafisch gut | |
erzählt. Für „Céleste“ hat Chloé Cruchaudet ihren Stil nun aber deutlich | |
verfeinert. Sie setzt dabei auch stärker auf Humor und Ironie. | |
## Das Dienstmädchen steht im Mittelpunkt | |
Im Mittelpunkt steht nicht der Jahrhundertschriftsteller Proust, der auf | |
den ersten 20 Seiten gar nicht auftritt, sondern Céleste selbst. So beginnt | |
die Erzählung mit einem Besuch von Proust-Forschern in den 1950er Jahren, | |
die das Ehepaar Albaret in ihrer bescheidenen Altbauwohnung in Paris | |
besuchen. Während Célestes Ehemann Odilon, ein früherer Taxifahrer, der | |
bereits vor ihrer Anstellung Proust als Chauffeur diente, weniger in | |
Erinnerungen schwelgt, wird seine Frau angesichts einiger Erinnerungsstücke | |
gesprächig – der „Madeleine-Effekt“, den ihr einstiger Arbeitgeber in | |
seinem Werk beschwor, überkommt sie. | |
Die Rahmenhandlung ist ein geschickter Kunstgriff, um zum Kern der | |
Geschichte vorzudringen. Zu Beginn noch naiv und mit wenig Erfahrung in der | |
Haushaltsführung bei „feinen Leuten“, wird das 22-jährige Mädchen aus der | |
Provinz, die erst nur als Vertretung eines Dieners eingesprungen war, bald | |
zur Vertrauten des Schriftstellers. | |
## „Monsieur“ schätzt Célestes Fürsorglichkeit | |
Proust war zu dieser Zeit schon gesundheitlich sehr anfällig, litt an | |
Asthma und verbrachte oft Tage im Bett. Er stand erst nachmittags auf und | |
schrieb meist nachts an seinem Manuskript. 1914 hatte Proust gerade | |
„Unterwegs zu Swann“, den ersten Teil seines insgesamt siebenbändigen | |
Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ veröffentlicht, und | |
musste sich finanziell an den Druckkosten beteiligen. | |
„Monsieur“ schätzt Célestes Fürsorglichkeit und amüsiert sich über ihre | |
Ausdrucksweise (zu Beginn ist ihm etwa aufgefallen, dass sie die „dritte | |
Person“ in der Anrede von Bediensteten zu den Herrschaften nicht kennt). | |
Bald wird sie sogar zu seiner Assistentin, da sie die unübersichtliche | |
Zettelwirtschaft in seinen Manuskripten als Einzige zu ordnen versteht (die | |
berühmten „Paperolles“ für seine überbordenden Korrekturen in den | |
Druckfahnen). So wird sie zu einer Geburtshelferin von Marcel Prousts | |
literarischem Mammutwerk. | |
Zudem hat Céleste Proust zu verschiedenen Charakteren seiner Romane | |
inspiriert, die jeweils Dienerinnen der Familie darstellten, etwa zu | |
Célestine in „Sodom und Gomorrha“ oder zu Françoise, die im gesamten Zykl… | |
auftaucht und im letzten Teil „Die wiedergefundene Zeit“ eine größere Rol… | |
spielt. | |
## Hinreißende Charakterporträts | |
Cruchaudet gelingen hinreißende Charakterporträts. Insbesondere Céleste | |
selbst wird zur anrührenden, manchmal schelmischen Figur, deren gutes Herz | |
immer durchscheint. Ebenso wird ihr Mann Odilon als kauzige „echte Type“ | |
gezeichnet. Marcel Proust selbst gerät unter ihrem Zeichenstift zu einer | |
leicht karikierten Version des intellektuellen, hochbegabten und | |
feinsinnigen Schriftstellers. Der Weltkrieg hindert den Dandy etwa nicht | |
daran, ins normannische Cabourg (Vorbild für „Balbec“ im Zyklus) ans Meer | |
zu fahren. | |
Die in zarten Pastelltönen aquarellierten, feinen Tuschezeichnungen gleiten | |
geradezu ineinander über, so fließt die Erzählung dahin. Erzählerische | |
Ellipsen werden zeichnerisch elegant aufgelöst. Dabei verzichtet Cruchaudet | |
fast völlig auf Panelrahmen, was den Lesefluss noch begünstigt. Gegen Ende | |
führt eine Verstimmung zwischen Proust und Céleste zur ersten | |
„Beziehungskrise“, doch haben sich die beiden schon zu sehr aneinander | |
gewöhnt – und liebgewonnen. | |
## Die Sympathie liegt bei Céleste | |
Chloé Cruchaudet zeichnet ein inniges Porträt zweier Menschen ganz | |
unterschiedlicher Herkunft am Ende der Belle Époque. Aus dem Zusammenprall | |
dieser verschiedenen Milieus – das eine vornehm-versponnen, das andere | |
bodenständig und etwas unterwürfig – zieht sie oft ihren bissigen Witz, | |
ohne sich dabei auf eine Seite zu schlagen. Die Sympathie liegt bei | |
Céleste, aber auch der zu Blasiertheit neigende Dandy Marcel Proust wird | |
nicht ohne Respekt dargestellt. | |
Für seine tiefsinnigen Gedanken über die Erinnerung oder die | |
„Telefonfräulein“ (ausgesuchte Zitate aus dem Zyklus sind sehr dosiert | |
verteilt), seine oft ausufernden Satzkaskaden findet sie originelle, sehr | |
freie grafische Ideen. In Erzählweise wie zeichnerisch ist der Französin | |
ein Meisterwerk gelungen, auf dessen Fortsetzung man sich freuen kann. | |
23 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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