| # taz.de -- Europäische Comics auf Weltniveau: Chaoten, Cowboys und die Apokal… | |
| > Morris und Franquin sind Comiclegenden. Die Schöpfer von „Lucky Luke“, | |
| > „Gaston“ und „Spirou und Fantasio“ kamen vor 100 Jahren in Belgien auf | |
| > die Welt. | |
| Bild: Franquins Figuren-Ensemble in Aktion | |
| Mit einem Cowboy, „der schneller schießt als sein Schatten“, begann seine | |
| Karriere, und diesem blieb er bis zum Ende treu: Der belgische | |
| Comiczeichner Morris (Maurice De Bevere), Schöpfer des Wildwesthelden Lucky | |
| Luke, kam vor 100 Jahren, am 1. Dezember 1923, in Kortrijk in Westflandern | |
| zur Welt. | |
| Einen Monat später, am 3. Januar 1924, wurde sein Kollege André Franquin im | |
| Brüsseler Bezirk Etterbeek geboren. Dessen Comichelden waren der Hotelpage | |
| Spirou, das liebenswerte Pärchen Mausi und Paul, der schluffige Bürobote | |
| Gaston oder das Fabeltier Marsupilami. Morris starb 2001, Franquin bereits | |
| 1997. | |
| Die beiden Zeichner lernten sich 1944 im Brüsseler Trickfilmstudio CBA | |
| kennen. Sie trafen dort auf die späteren „Luc Orient“-Zeichner Eddy Paape | |
| oder „Schlümpfe“-Erfinder Peyo. Es galt Zeichentrickfilme nach dem Vorbild | |
| Walt Disneys und der Fleischer Studios (Popeye) zu entwerfen. Doch CBA ging | |
| nach Kriegsende schnell bankrott. Morris fand danach beim Dupuis-Verlag | |
| Beschäftigung, bald ebenso sein arbeitslos gewordener Freund Franquin. | |
| Beide zeichneten sie unzählige Cover für die Illustrierten des Verlages, | |
| Bonnes Soirées und Le Moustique. Doch schon 1946 entwarf Morris für das | |
| (bereits 1938 gegründete) Comicmagazin Spirou seine erste | |
| Lucky-Luke-Episode „Arizona 1880“. Die Serie sollte sich zu einem der | |
| besten Westerncomics aller Zeiten entwickeln. | |
| ## Lustig, unterhaltsam und klug | |
| Mit einer Mischung aus scharfsinniger Parodie und humorvoller | |
| Geschichtsstunde [1][begeistert sie bis heute Kinder wie Erwachsene in | |
| aller Welt]. In der nun erscheinenden anspruchsvoll gestalteten | |
| Gesamtausgabe des Egmont Verlags werden die klassischen Lucky-Luke-Hefte | |
| von kenntnisreichen Begleittexten umrahmt. Sie beschäftigen sich etwa mit | |
| den filmischen Vorbildern des eifrigen Kinobesuchers Morris. | |
| So könnte Lukes treuer Begleiter, das Pferd Jolly Jumper, an den Schimmel | |
| Duke angelehnt sein. Auf diesem ritt der junge Kinostar John Wayne in | |
| Westernfilmen der 1930er über die Leinwände. Das Pferd wurde wie ein | |
| Darsteller auf den Filmplakaten beworben. | |
| Morris selber lebte sieben Jahre in den USA und Mexiko und betrieb dort | |
| aufwendige Studien. Er zeichnete Landschaften, sammelte alte Bildbände. In | |
| New York lernte [2][er den französischen Comicautor René Goscinny] | |
| (1926–77) kennen, ebenso die Redaktion des 1952 gegründeten MAD-Magazins. | |
| Der neuartige, freche Humor inspirierte zu eigenen Versuchen in die | |
| parodistische Richtung. | |
| 1955 – Goscinny lebte inzwischen in Paris, Morris war nach Brüssel | |
| zurückgekehrt – begannen beide dann ihre Zusammenarbeit an der Comicserie | |
| „Lucky Luke“. In ihrem ersten Album „Die Eisenbahn durch die Prärie“ r… | |
| der Cowboy nun erstmals in den Sonnenuntergang, „I’m a poor lonesome | |
| Cowboy“ trällernd. | |
| ## Die Wiedergeburt der Daltons | |
| Auch die Wiederauferstehung der Daltons war ihre gemeinsame Idee. Denn im | |
| Debüt, in Morris’ Solo-Album „Gesetzlos“ (1951/52), traten zunächst die | |
| vier „echten“ Dalton-Brüder auf. Doch Morris ließ Bob, Grat, Bill und | |
| Emmett Dalton am Ende von Lucky Luke erschießen. | |
| Morris erreichten allerdings zahlreiche Zuschriften, er möge doch bitte | |
| weitere Geschichten um das an Orgelpfeifen erinnernde Ganoven-Quartett | |
| erzählen. Wie konnte eine glaubwürdige Neuinszenierung aussehen? Goscinny | |
| hatte da eine Idee. Es müssten „Söhne oder Cousins“ sein. So bekamen Joe, | |
| William, Jack und Averell in „Vetternwirtschaft“ (1957) ihren ersten | |
| längeren Auftritt. | |
| Goscinny setzte verstärkt auf Humor. Die Darstellung der Banditen zeichnete | |
| sich fortan eher durch Dummheit und Gerissenheit aus als durch eine | |
| dargestellte rohe Gewalt. Dass die Co-Autorschaft Goscinnys auf Anweisung | |
| des Verlags erst nicht genannt werden sollte, zeigt, dass der Beruf des | |
| Szenaristen noch keineswegs anerkannt war. | |
| In der Gesamtausgabe sind nun auch seltene kurze Comics (wie die Auszüge | |
| aus dem Pariser Unterwelt-Comic „Fred le Savant“, Text von Goscinny) sowie | |
| realistische Illustrationen von Morris zu finden. Sie zeigen, wie breit | |
| Morris’ zeichnerisches Spektrum war. | |
| ## Alles über Lucky Luke | |
| Pünktlich zum Jubiläum hat taz-Autor Georg Seeßlen zudem einen sehr | |
| lesenswerten Essayband verfasst. Sein Buch „Lucky Luke. Fast alles über den | |
| (gar nicht so) einsamen Cowboy und seinen Wilden Westen“ nimmt viele | |
| Details der Serie unter die Lupe. Seeßlen analysiert auch heute rassistisch | |
| anmutende Klischees, etwa bei der Darstellung von Indianern und anderen | |
| Minderheiten. | |
| Sie waren in dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Doch konstatiert Seeßlen | |
| auch, dass sie in „Lucky Luke“ in nicht hetzerischer Absicht stattfanden, | |
| anders als in so manch heute zu Recht vergessenen Comics. | |
| Auch die frühen Episoden der ebenfalls weltberühmten Comic-Serie „Spirou | |
| und Fantasio“, die André Franquin 1946 von Joseph Gillain alias Jijé | |
| (1914–80) übernahm, enthält diskriminierende Stereotype. So sahen Gangster | |
| oft südländisch oder asiatisch aus, wie es die „Spirou und | |
| Fantasio-Gesamtausgabe Band 1“ dokumentiert. Doch Franquin machte rasch | |
| Fortschritte und entwickelte sich entgegen solch Stereotypie weiter. | |
| Sein dynamischer und verspielter Strich wurde zum Vorbild einer ganzen | |
| Zeichengeneration bei Dupuis. „Spirou und Fantasio“, die Titelserie des | |
| Spirou-Magazins, wurde dank Franquins Ideenreichtum und den weiteren von | |
| ihm dazuerfundenen Figuren zu einem riesigen Erfolg. [3][Selbst | |
| Tim-und-Struppi-Schöpfer Hergé] bewunderte ihn und behauptete: „Verglichen | |
| mit ihm bin ich ein armseliger Zeichner.“ | |
| ## Bravo-Brothers deluxe | |
| Die Deluxe-Ausgabe von „Bravo Brothers“ enthält eine von Franquins | |
| Lieblings-Spirou-Storys von 1965. Sie handelt von einem Affentrio, das die | |
| Spirou-Redaktion auf den Kopf stellt. Kommentierte Faksimiles der | |
| Originalseiten ergänzen den Band, sodass man Franquins ganze Zeichenund | |
| Erzählkunst gut erfassen kann. | |
| Einige Neuausgaben widmen sich auch dem 1957 erstmals im Spirou-Magazin | |
| aufgetauchten „Gaston“. Sie ist wohl Franquins anarchischste Figur. Als | |
| höchst fauler Gehilfe im (fiktiven) Carlsen-Verlag nervt Gaston durch | |
| nutzlose Erfindungen wie dem ohrenbetäubenden „Gastophon“ die Belegschaft | |
| und sabotiert (Running Gag!) wichtige Vertragsunterzeichnungen mit „Herrn | |
| Bruchmüller“. | |
| Der Gaston-Schuber umfasst eine prägnante Auswahl seiner frühen Streiche im | |
| originalen Querformat der belgischen Erstausgabe. | |
| Der Einzelband „Gaston: Aus dem Leben eines Chaoten“ wiederum birgt von | |
| Franquin überarbeitete Strips, die bisher nicht auf Deutsch erschienen | |
| waren. Einen künstlerischen Höhepunkt innerhalb seines Werks stellen wohl | |
| die „Schwarzen Gedanken“ dar. Diese schuf Franquin 1977 bis 1982 unter | |
| anderem für das Satiremagazin Fluide Glacial. | |
| ## Schwarze Schattenrisse | |
| Die meist auf einer Seite abgehandelten Strips zeichnete Franquin | |
| ausschließlich in der Form schwarzer Schattenrisse. Mit ihnen entwirft er | |
| ein düster-makaber wirkendes, ins Absurde gesteigertes Bild von Gegenwart | |
| und Zukunft. | |
| Er kritisiert hemmungslosen Konsum, Umweltverschmutzung, | |
| Lebensmittelindustrie, Tierhaltung oder Wettrüsten. Für Franquin waren | |
| diese One-Pager ein Experimentierfeld, auf dem er seine düstere Weltsicht | |
| kompromisslos und zugespitzt verwirklichen konnte – er selbst umschrieb sie | |
| als „rußverschmierter Gaston“. | |
| In einem dieser finsteren Streifen reden intelligente Insekten beiläufig | |
| über jene ausgestorbene Spezies, die ihnen „diese netten Städte“ | |
| hinterlassen hätten. Im letzten Panel wird klar: Sie krabbeln durch Berge | |
| menschlicher Gebeine. Franquin präsentierte sich in „Schwarze Gedanken“ als | |
| gereifter, moderner Künstler, der eine Botschaft vermitteln will – dies wie | |
| immer auf humorvolle Weise. | |
| Morris war der eigenwillige „lonesome cowboy“ unter den belgischen | |
| Zeichnern, ein Meister der grafischen Erzählung. Franquin prägte maßgeblich | |
| die „Marcinelle-Schule“. Jenen verspielt-humorigen Zeichenstil aus dem | |
| Hause Dupuis, der einen ästhetischen Gegenentwurf zu Hergés „Klarer Linie“ | |
| darstellte. | |
| Morris und Franquin erfanden zahllose visuell-narrative Kniffe. Beide | |
| trugen dazu bei, dass der europäische Comic Weltniveau erreichte. | |
| 15 Jan 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Lucky-Luke-Comic-Rantanplans-Arche/!5890544 | |
| [2] /Der-neue-Asterix-und-der-Greif/!5806251 | |
| [3] /Drei-Comic-Klassiker-in-Belgien/!5608353 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralph Trommer | |
| ## TAGS | |
| Comic | |
| Graphic Novel | |
| Literatur | |
| Belgien | |
| Amerika | |
| wochentaz | |
| Comic | |
| Marcel Proust | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Buch | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neuer „Lucky Luke“-Comic: Lucky Luke und Karl Marx gegen die Bierindustrie | |
| In „Letzte Runde für die Daltons“ widmet sich der Cowboy der Kultur | |
| deutscher Einwanderer im Wilden Westen. Auch ein Trump tritt auf. | |
| Comic über Proust und sein Dienstmädchen: Im Dienst bei Marcel Proust | |
| Céleste Albaret war Assistentin und Inspiration des Autors Marcel Proust. | |
| Chloé Cruchaudet widmet der Beziehung zwischen den beiden einen Comic. | |
| Graphic Novel über Emmie Arbel: „Ich war nicht schwach“ | |
| Barbara Yelin erzählt in einer Graphic Novel von der in Israel lebenden | |
| Emmie Arbel. Von Kindheit und Überleben mit dem Holocaust. | |
| Illustratorin über Argentinien: „Wie man mit Farbe erzählt“ | |
| Sole Otero zeichnet Graphic Novels über ihr Herkunftsland. Ein Gespräch | |
| über Häuser italienischer Einwanderer und eine neue Generation von | |
| Illustratorinnen. |