# taz.de -- Geschichte des Antisemitismus: 2000 Jahre Judenhass | |
> Antisemitismus hat seine Wurzeln im Christentum. Mit der | |
> Judenemanzipation und der Staatsgründung Israels wurde auch der | |
> islamische Judenhass mörderisch. | |
Bild: Julius Streicher (in weiss) und andere Nationalsozialisten während einer… | |
Die christlichen Wurzeln des Antisemitismus werden bis heute zu wenig zur | |
Kenntnis genommen. Die Shoah war nur möglich, weil christlich geprägte | |
judenfeindliche Vorstellungen im Denken und Fühlen der Täter und Mitläufer | |
tief verwurzelt waren. Auch der verbreitete Hass auf Israel hat eine | |
religiöse Grundlage. | |
„Wir feiern heute ein Fest, das die ganze Welt einig feiert“, hallte es vor | |
gut hundert Jahren durch den Festsaal des Münchner Hofbräuhauses. 4.000 | |
Menschen waren zur Weihnachtsfeier der NSDAP gekommen. „Die Juden“, fuhr | |
der Redner Adolf Hitler fort, „haben den Weltbefreier feige ans Kreuz | |
geschlagen.“ | |
Ein Jahr später, zu Weihnachten 1922, mahnte er, man solle sich „ein | |
Beispiel an diesem Manne nehmen, der arm in einer Hütte geboren wurde, der | |
große Ideale verfolgt hat und den die Juden aus diesem Grunde später an das | |
Kreuz geschlagen haben“. Immer wieder griff Hitler auf die | |
Leidensgeschichte des „Geistesriesen“ Jesus zurück. Er sei der erste große | |
Antisemit gewesen, schrieb er in „Mein Kampf“, schließlich habe er gegen | |
die Juden zur Peitsche gegriffen, und weiter: „Dafür wurde dann Christus | |
freilich an das Kreuz geschlagen.“ | |
## Echos der Gottesmordlegende | |
Die Legende einer kollektiven jüdischen Schuld am Märtyrertod Jesu ist aus | |
christlicher Sicht das jüdische Urverbrechen schlechthin. Zentrale | |
antijüdische Verleumdungen erweisen sich als Echo dieser Erzählung. | |
Die den Juden angedichteten Ritualmorde und Hostienfrevel, die | |
Hunderttausende das Leben kosteten, seien eine Reinszenierung ihres | |
Gottesmordes, hieß es etwa. Die Jesuiten verbreiteten die | |
Ritualmordlegenden noch Ende des 19. Jahrhunderts. | |
Dreißig Jahre später betrieb dann vor allem das nationalsozialistische | |
Kampforgan Der Stürmer eine zügellose Ritualmord-Propaganda. Das Blatt | |
thematisierte auch regelmäßig die jüdische Schuld am Tod Jesu und verwies | |
zwischen 1923 und 1944 173 Mal auf den „Verräter“ Judas oder den | |
„Judaslohn“ von 30 Silberlingen. | |
[1][Der Herausgeber Julius Streicher], der im Urteil der Nürnberger | |
Prozesse als „Judenhetzer Nummer eins“ bezeichnet wurde, bekundete 1945, | |
die Leidensgeschichte Jesu habe ihn zum Antisemiten gemacht. Schon 1924 | |
hatte er im Jargon eines besorgten Bürgers gefragt: „Wer weiß, ob nicht | |
noch einmal die Zeit kommt, da man überhaupt nicht mehr sagen darf, dass | |
Christus von den Juden gekreuzigt worden ist?“ | |
Die historisch unhaltbare Erzählung des Neuen Testaments, wonach der | |
unschuldige römische Statthalter auf Druck der Juden Jesus hinrichten ließ, | |
nachdem ihn der vom jüdischen Hohepriester bestochene Judas verraten hatte, | |
imaginiert die Juden als die Strippenzieher hinter den Entscheidungen der | |
römischen Obrigkeit: Den Nazarener, so heißt es in der Apostelgeschichte, | |
hätten die Juden „durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen“. Die | |
„Gesetzlosen“, also die ohne das mosaische Gesetz lebenden Römer, | |
erscheinen mithin nur als Marionetten der hinterlistigen Juden. | |
## Antijüdische Verschwörungslegende | |
Die Autoren des Neuen Testaments schufen damit die erste große antijüdische | |
Verschwörungslegende. Sie ist zu einem festen Bestandteil der europäischen | |
Kultur geworden und bildet die Urform des für den Antisemitismus so | |
essenziellen Bildes von der Übermacht der „schachernden“ Juden und ihrem | |
unheilvollen Einfluss auf – vor allem politische – Entscheidungsträger. | |
Als auf dem ersten Konzil zu Nicäa im Jahr 325 beschlossen wurde, Jesus sei | |
göttlicher Natur, avancierten die Juden von Christus-Mördern gar zu | |
Gottesmördern. Und nur im Bunde mit dem Teufel, so folgerten die Christen, | |
konnten die Juden es bewerkstelligen, einen veritablen Gottesmord zu | |
begehen. Spätestens damit war das Bild von der teuflischen Allmacht der | |
Juden geboren. | |
Seit den Brunnenvergiftungslegenden waren die Christen davon überzeugt, | |
dass die Juden nicht nur Christus ans Kreuz schlugen, sondern [2][die ganze | |
Christenheit im Visier] hatten. Die modernen deutschen Antisemiten | |
halluzinierten dann gar von einer jüdischen Bedrohung für Deutschland als | |
Nation. | |
Das ist nicht verwunderlich, denn die Deutschen identifizierten sich als | |
rein christlich. Es gab, wie Daniel Goldhagen einmal bemerkte, seit dem 19. | |
Jahrhundert eine „gedankliche Verschmelzung von Deutschtum und Christentum, | |
wobei allein schon der Begriff ‚deutsch‘ ein christliches Element | |
beinhaltete“. Die NSDAP wolle „vermeiden, dass auch unser Deutschland den | |
Kreuzestod erleidet“, meinte Hitler schon 1923. In derselben Bildsprache, | |
die als Nachhall der Vorstellung von den kreuzigenden Juden verstanden | |
werden kann, fabulierte der Stürmer 1933, die Juden hätten „Deutschland ans | |
Kreuz geschlagen“. | |
## Die Shoah als Vollstreckung des Blutfluchs | |
Der Wahn vom Gottesmord begleitete selbst noch den | |
NS-Vernichtungsantisemitismus. 1946 berichtete Hans Frank, Hitlers | |
Generalgouverneur in Polen, wie der „Führer“ 1938 Ausrottungsfantasien | |
gegen die Juden entwickelte und davon sprach, er müsse womöglich den | |
„Blutfluch“ vollstrecken, jene Selbstverfluchung, die den Juden aufgrund | |
ihres „Gottesmordes“ im Matthäusevangelium zugeschrieben wird: „In den | |
Evangelien riefen die Juden dem Pilatus zu, als dieser sich weigerte, Jesus | |
zu kreuzigen: ‚Sein Blut komme über uns und unsere Kinder‘“, habe Hitler | |
erklärt, um fortzufahren: „Ich muss vielleicht diese Verfluchung | |
vollstrecken.“ | |
Die Shoah als Vollstreckung des „Blutfluchs“, als Vergeltung also für die | |
Kreuzigung Jesu? Mit dieser Sicht war Hitler nicht allein, ähnlich äußerte | |
sich etwa der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber. Und im Ulmer | |
Einsatzkommando-Prozess von 1958 antwortete ein Pfarrer auf die Frage, | |
warum er nichts gegen die Massenerschießungen unternommen habe, er | |
habe gedacht, den Juden geschehe dies recht, denn an ihnen erfülle sich nun | |
das Wort „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“. Die Shoah war | |
nur möglich, weil die christliche Vorstellung von der Ur-Schuld der Juden | |
im Denken und Fühlen der Täter und Mitläufer tief verwurzelt war. | |
## Kreuzigung Palästinas | |
Heute ist die Gottesmordlegende fester Bestandteil israelfeindlicher | |
Ressentiments. Palästinensische Medien beschuldigen die Juden regelmäßig, | |
Jesus ans Kreuz geschlagen zu haben. So wie Jesus vor 2.000 Jahren das | |
angebliche Opfer der Juden war, so erscheinen heute die Palästinenser als | |
ewige Opfer der Israelis. Und so wie einst die deutsche Nation, so wollten | |
die Juden heute ganz Palästina ans Kreuz schlagen. | |
Ein berühmtes Plakat der Fatah aus den 1970er Jahren zeigt Palästina | |
gekreuzigt an einem Davidstern – also von den Juden. „Das Kreuzigungssystem | |
der israelischen Regierung ist täglich in Betrieb“, gab der anglikanische | |
palästinensische Priester Naim Ateek zum Besten. Auch der lutherische | |
Pastor Mitri Raheb aus Bethlehem bringt die Situation der Palästinenser | |
immer wieder mit der Kreuzigung Jesu in Verbindung. Zum antisemitischen | |
Blutbad vom 7. Oktober schrieb der mit dem Aachener Friedenspreis und dem | |
Deutschen Medienpreis ausgezeichnete Gottesmann unumwunden, die | |
Palästinenser zeigten „neue Formen des kreativen Widerstands“. | |
## Die schlimmste Strafe | |
„Jesus, unser Herr, ist Palästinenser, die Juden kreuzigten ihn an der Via | |
Dolorosa“, erklärte Abbas Zaki, Mitglied des ZK der Fatah und sunnitischer | |
Muslim. Als den ersten „palästinensischen Guerillakämpfer“ würdigte ihn … | |
palästinensische Premier Mohammad Schtajjeh bei einer Weihnachtsfeier im | |
Jahr 2019. | |
Tatsächlich teilen nicht nur christlich geprägte Gruppen wie [3][die | |
Terrororganisation PFLP], sondern auch viele Muslime diese Sicht. | |
Schließlich thematisiert der stark von den Evangelien geprägte Koran | |
explizit die Kreuzigung Jesu, der im Koran über hundertmal erwähnt wird und | |
als bedeutender Prophet gilt. | |
Indessen weicht die koranische Interpretation des Geschehens von der | |
christlichen an einem Punkt ab: Zwar sollen die Juden versucht haben, Jesus | |
– und auch den Propheten Mohammed – zu töten, doch sie scheiterten jedes | |
Mal. Über die Jahrhunderte hinweg galten die Juden im Islam daher zwar als | |
böse, aber zugleich als schwach, eher als Versager denn als Verbrecher. | |
Doch mit der Judenemanzipation im Allgemeinen und der Staatsgründung | |
Israels im Besonderen [4][näherte sich der islamische Judenhass] dem | |
eliminatorischen Antisemitismus in Wort und Tat an. [5][Sayyid Qutb, der | |
wichtigste Vordenker] der Muslimbruderschaft und ihres palästinensischen | |
Zweigs Hamas, erläuterte 1950, was Juden erwarte, die dem alten Bild des | |
Verlierers nicht entsprechen: „Dann schickte Allah Adolf Hitler, um über | |
sie zu herrschen. Und nun sind die Juden wieder zum Bösen zurückgekehrt, in | |
Gestalt von ‚Israel‘, das den Arabern Kummer und Leid bereitet. So möge | |
Allah Menschen auf die Juden herabsenden, die die schlimmste Art von Strafe | |
verhängen.“ | |
„Die schlimmste Art von Strafe“: [6][Das Massaker vom 7. Oktober] gab eine | |
Ahnung davon, wie diese Strafe aussehen soll. | |
23 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Prozess-gegen-Judenhass-Symbol-an-Kirche/!5654859 | |
[2] /Fake-News-und-Antisemitismus/!5844733 | |
[3] /documenta-fifteen--eine-Bilanz/!5883282 | |
[4] /Zweiter-Weltkrieg-im-juedischen-Palaestina/!5758613 | |
[5] /Die-Kulturgeschichte-der-Enthauptung/!5028697 | |
[6] /Israel-und-seine-Gegner/!5972476 | |
## AUTOREN | |
Tilman Tarach | |
## TAGS | |
wochentaz | |
Antisemitismus | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Religion | |
Islam | |
Judentum | |
Israel | |
Christentum | |
PLO | |
GNS | |
Christentum | |
Antisemitismus | |
Politisches Buch | |
Antisemitismus | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Antisemitismus | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Autoren:innenverband PEN | |
wochentaz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Zeit für Selbstreflexion: Kein Antisemit zu sein, ist Arbeit | |
Den eigenen Rassismus zu hinterfragen, ist normal. Das Eingeständnis, | |
antisemitische Stereotype mit sich rumzutragen, ist dagegen tabuisiert. | |
Gedenken an die Shoah im Bundestag: Das Leid der Nachfahren | |
Der Schmerz endet nicht mit dem Tod der Überlebenden. Er lebt in | |
nachfolgenden Generationen weiter. Das machte die Gedenkstunde im Bundestag | |
bewusst. | |
Geschichte des Antisemitismus: Von der Antike bis zur Documenta | |
Der Historiker Sebastian Voigt legt mit „Der Judenhass“ ein gerade jetzt | |
wichtiges Buch vor. Es zeigt die Tradition antisemitischer Judenbilder auf. | |
Antisemitismusbeauftragter über Proteste: „Wir haben eine extreme Eskalation… | |
Judenhass ist ein breites gesellschaftliches Problem, sagt Samuel Salzborn. | |
Das sei historisch begründet. Weniger als ein Prozent waren zur NS-Zeit | |
oppositionell. | |
Nachruf auf Franz Michalski: Vom Flüchtling zum Zeitzeugen | |
Franz Michalski wurde als jüdisches Kind verfolgt. Er überlebte versteckt | |
und erfuhr auch nach der NS-Zeit Antisemitismus. Er starb mit 89 Jahren. | |
Jüdisch sein nach dem 7. Oktober: Das verdrängte Erbe | |
Das Judentum meiner Familie war ein von außen aufgedrückter Stempel. Meine | |
Vorfahren bauten die DDR mit auf. Der 7. Oktober hat alles verändert. | |
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: Verstärkte Offensive in Gaza | |
Das israelische Militär verstärkt seine Offensive gegen die Hamas im | |
südlichen Gaza. Die UN schätzen, dass es 50.000 Schwangere im umkämpften | |
Gazastreifen gibt. | |
Graphic Novel über Emmie Arbel: „Ich war nicht schwach“ | |
Barbara Yelin erzählt in einer Graphic Novel von der in Israel lebenden | |
Emmie Arbel. Von Kindheit und Überleben mit dem Holocaust. | |
Streit um Israel im PEN Berlin: Keine Frage der Balance | |
Im PEN Berlin mehren sich die Austritte. Ehemalige Mitglieder kritisieren | |
die fehlende Positionierung des Schriftstellerverbands zu Israel. | |
Israel als Symbol des Bösen: Das projizierte Feindbild | |
Eine Weltsicht, die die Menschheit in Unterdrücker und Unterdrückte | |
einteilt, bietet keinen Platz für distanzierte Betrachtung. Ein Blick in | |
die USA. |