| # taz.de -- Zeit für Selbstreflexion: Kein Antisemit zu sein, ist Arbeit | |
| > Den eigenen Rassismus zu hinterfragen, ist normal. Das Eingeständnis, | |
| > antisemitische Stereotype mit sich rumzutragen, ist dagegen tabuisiert. | |
| Bild: Erfurt, 25. April 2018: Zwei Frauen tragen Kippas bei einer Demonstration… | |
| Obwohl es auf den Straßen längst nicht mehr sichtbar ist: Auch in | |
| Deutschland hat [1][Black Lives Matter] seit seiner Hochphase 2020 die | |
| Gesellschaft nachhaltig geprägt. Menschen wurde bewusst, dass Rassismus | |
| nicht erst dort beginnt, [2][wo Nazis prügeln], sondern tief eingeschrieben | |
| ist in die Handlungen jedes Einzelnen im Alltag. | |
| Bis weit ins rechtsextreme Lager lehnen Menschen für sich die Bezeichnung | |
| „Rassist*in“ ab. Aber seit 2020 bemerken viele, dass diese Abwehr nicht | |
| produktiv ist. In einer Gesellschaft, die im Kern auf der rassistischen | |
| Ungleichheit der Menschen beruht, sind alle Teile dieser Gesellschaft | |
| rassistisch. In weiten Kreisen der Linken gehört es zum guten Ton, das | |
| einzugestehen: unbewusst rassistisch zu handeln und gerade darum aktiv | |
| gegen Rassismus arbeiten zu müssen. | |
| [3][Einen solchen Turn hat es beim Antisemitismus nie gegeben]. Warum | |
| eigentlich nicht? Selbst Menschen, die bei sich rassistische Muster | |
| entdecken und reflektieren, würden nie offen sagen, dass sie auch | |
| antisemitische Impulse haben. Während eine folkloristische Tiermaske auf | |
| einer Chipstüte der Sorte „Afrika“ klar als kolonial-rassistische | |
| Bildsprache erkannt und sanktioniert ist, scheint das Interesse an | |
| antijüdischer Bildsprache erst zu greifen, wo in sprichwörtlicher | |
| Stürmer-Manier Hakennasen und Raffzähne sichtbar sind, also Jüd*innen | |
| tatsächlich rassistisch angegriffen werden. | |
| ## Tief in der Gesellschaft eingeschrieben | |
| Dabei ist Antisemitismus – in seinen religiösen, rassistischen, politischen | |
| Varianten – der Gesellschaft vermutlich sogar tiefer eingeschrieben, | |
| bedenkt man, dass einzelne Regionen in Deutschland schon im 12., 13. | |
| Jahrhundert „judenfrei“ pogromiert wurden, ehe Konstrukte wie „Rasse“ | |
| überhaupt denkbar waren. | |
| Das Christentum, das die westlichen Gesellschaften prägt und über koloniale | |
| Zusammenhänge auch andere Regionen, verwendet wahnsinnig viel theologische | |
| Arbeit darauf, das Judentum abzuwerten. Beim Vordenker Paulus, selbst | |
| zunächst Jude, geht es los mit den Ressentiments, bald mussten sich | |
| bekehrte Römer*innen kompliziert in den Bund Israels mit Gott | |
| hineinschreiben. Das ging am besten, indem dieser – theologisch begründet | |
| mit einem jüdisch geborenen Kronzeugen und einem jüdisch geborenen Messias | |
| – als überholt betrachtet wurde. Dass dabei reale Jüd*innen störten, als | |
| stetige, lebende Mahnung, liegt auf der Hand. | |
| Feindschaft gegen Jüd*innen beginnt nicht in Auschwitz, nicht einmal bei | |
| Luther und der berüchtigten „Judensau“. Die Figuren von Ochs und Esel in | |
| der traditionellen Weihnachtskrippe repräsentieren in der christlichen | |
| Bildsprache etwa das jüdische Volk – zu stumpf, den Sohn Gottes in seiner | |
| Mitte zu erkennen. Die Ikonografie des Antisemitismus ist kompliziert. | |
| Rechte, für die Antisemitismus zentraler Bestandteil ihrer Ideologie ist, | |
| unterstützen Juden immer nur dann, wenn die sich gegen muslimische Menschen | |
| in Stellung bringen. Aber auch linkes Denken ist bekanntlich antisemitisch | |
| grundiert. Globalisierungs- und Kapitalismuskritik, Elitenkritik und die | |
| damit verbundene Medienkritik tun sich schwer, antisemitische Topoi nicht | |
| zu wiederholen: Thesen von geheimen Mächten, die das Denken steuern und | |
| selbst über dem Gesetz stehen oder dem nichtproduktiven Kapital, das der | |
| ehrlichen Arbeit entgegengesetzt ist, begründen den sozialen Ausschluss von | |
| Jüd*innen seit Jahrhunderten und werden auch, allen Updates zum Trotz, | |
| heute noch mit jüdisch gelesenen Menschen assoziiert. | |
| ## Antisemitismus wird als Kollateralschaden hingenommen | |
| Der Kapitalismus ist zerstörerisch. Aber eben auch der Antisemitismus, der | |
| als Kollateralschaden der berechtigten Kritik an den ökonomischen | |
| Verhältnissen oft hingenommen wird. | |
| Statt neue Narrationen linker Kritik zu finden, fließt Energie in die | |
| Abwehr eines Eingeständnisses, wie tief der Antisemitismus das Denken | |
| postmonotheistischer Gesellschaften durchzieht. Statt die eigentlich | |
| selbstverständlichen Hausaufgaben zu machen, durch Selbstreflexion und | |
| Aufklärungsarbeit ein mörderisches Diskriminierungsmuster auszulöschen, | |
| diskutieren Linke in Deutschland seit Wochen über Detailfragen der Kritik | |
| am Staat Israel. Denn bei aller Skepsis gegenüber der mittlerweile wieder | |
| abgeblasenen Berliner Antidiskriminierungklausel: Man hätte sie auch, | |
| zumindest im Nebeneffekt, zum Anlass nehmen können, sich zu hinterfragen, | |
| warum eine anerkannte Antisemitismusdefinition die eigene Position als | |
| antisemitisch einstuft, statt diese Einordnung zu skandalisieren und das | |
| auch noch mit der Erzählung einer einflussreichen zionistischen Lobby. Es | |
| scheint ein größeres Interesse daran zu geben zu verhindern, antisemitisch | |
| genannt zu werden, statt an einer Kritik zu arbeiten, in der israelische | |
| Politik und Geschichte nicht antisemitisch interpretiert wird. | |
| Dabei ist israelbezogener Antisemitismus in linken und migrantischen | |
| Bubbles zwar ein sehr lautes Problem, aber noch das am besten überschaubare | |
| – angesichts der Normalität der „Johannespassion“ zu Karfreitag oder dem | |
| Gewese um das gute „Bio“ gegen den bösen „Agrarkonzern“ oder der | |
| Überzeugung, „die da oben“ würden „uns“ was vormachen in der Mitte der | |
| Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der es eben Arbeit bedeutet, nicht | |
| antisemitisch zu sein. In der Antisemitismus die Standardeinstellung ist, | |
| nicht die Ausnahme. | |
| Antisemit zu sein, ist nach dem Holocaust ein globales Tabu. Niemand außer | |
| Rechtsextreme will sich so bezeichnen. Was erst mal richtig erscheint. Doch | |
| die Abwehrmechanismen gegen eine Analyse sind obskur: von der | |
| Bedeutungserweiterung des „Semitischen“ auf arabische Communitys bis zu | |
| einem Antizionismus, dessen „Zionismus“ verdächtig undefiniert bleibt. | |
| Solange dieses Tabu dazu führt, dass unangenehme Fragen ans Selbst nicht | |
| gestellt werden, verlängert es die lange Geschichte einer elenden | |
| Weltsicht. | |
| Letztendlich erzählt es aber auch, wie unterschiedlich die Betroffenen von | |
| Rassismus und Antisemitismus imaginiert werden: Das Zugeständnis, | |
| rassistisch zu denken, fällt auch deshalb leicht, weil man vor | |
| Rassismusbetroffenen keine Angst zu haben glaubt – „die“ sollen schließl… | |
| dankbar sein, dass „wir“ uns um sie kümmern. Während Jüd*innen noch immer | |
| als das unsichtbare Andere im Eigenen verstanden werden, etwas Verdrängtes, | |
| Bedrohliches, mit einer Macht, gegen die man sich nicht zu wehren versteht. | |
| Das schlechte Gewissen der frühen Christ*innen, es wirkt bis heute nach. | |
| 7 Feb 2024 | |
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| Steffen Greiner | |
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