# taz.de -- Jüdisch sein nach dem 7. Oktober: Das verdrängte Erbe | |
> Das Judentum meiner Familie war ein von außen aufgedrückter Stempel. | |
> Meine Vorfahren bauten die DDR mit auf. Der 7. Oktober hat alles | |
> verändert. | |
Bild: Wenn aus einem traurigen Erbe plötzlich ein glänzendes Schmuckstück wi… | |
Republikgeburtstag. Das war der 7. Oktober für mich. Die ersten zehn Jahre | |
meines Lebens war der Ort, wo ich lebe, die Hauptstadt der DDR. Manches | |
bleibt hängen. Seit diesem Jahr hat das Datum in meinem Gedächtnis auch | |
eine jüdische Seite. Ich bin die Urenkelin eines assimilierten Berliner | |
Antiquars, dessen Kinder die DDR mitaufgebaut und ideologisch mitgestaltet | |
haben. Ich halte nicht viel vom „freien Willen“. Wir können nur das | |
Denkbare denken. Diskurse ändern sich. Emotionen bleiben. | |
Ich bin zerfressen von Selbstzweifeln. Meine Texte sind nie fertig. Ich | |
habe lediglich Deadlines. „Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption“, | |
schreibt Walter Benjamin. Und Jurek Becker, der den Holocaust überlebte und | |
mit dem Gettoroman „Jakob der Lügner“ einer der erfolgreichsten | |
Schriftsteller der DDR wurde, erklärt: „Schreiben ist nichts anderes als | |
eine endlose Reihe von Zweifeln, die zugunsten eines Satzes schließlich | |
überwunden werden müssen.“ | |
Woher kommen all diese Zweifel? | |
Erschütterungen meiner Gewissheiten kenne ich seit 1989, als vormals | |
allwissende Lehrerinnen vor der Klasse zu weinen anfingen, weil sie nicht | |
mehr wussten, was sie uns beibringen sollten. | |
Etwa zehn Jahre später beschädigte 9/11 mein Gefühl von Friedenssicherheit. | |
Meine Krebserkrankung mit Anfang 30 zerstörte mein wegen der Gehbehinderung | |
ohnehin fragiles Gefühl körperlicher Unverwundbarkeit. | |
## Guterres Meisterleistung der Schuldumkehr | |
Nun bin ich 44 Jahre alt und blicke zum ersten Mal in meinem Leben der | |
Realität des Antisemitismus ins Auge: seit der Staat Israel das Ziel eines | |
Terrorangriffs von so [1][entmenschlichter Brutalität] geworden ist, wie | |
wir es bisher nur aus Horrorfilmen kannten, und [2][UN-Generalsekretär | |
António Guterres] nach pflichtbewusstem erstem Entsetzen die psychologische | |
Meisterleistung der Schuldumkehr demonstrierte, als er bemerkte, die Gräuel | |
vom 7. Oktober 2023 hätten „nicht in einem Vakuum stattgefunden“ – als w… | |
die Hamas eine Handvoll Bauern mit Heugabeln und nicht ein | |
milliardenschweres Terrornetzwerk, das sich die Zerstörung eines | |
demokratischen Staats zum Ziel gesetzt hat. | |
Nichts gegen Horrorfilme. Nach überstandener Chemo- und Strahlentherapie, | |
als meine Haare wieder wuchsen und trotzdem nichts mehr war wie zuvor, war | |
ich begeisterte Zombiefilmkonsumentin. In den hoffnungslosen Schockstreifen | |
fand ich eine Abbildung meiner Todesangst und meines Ekels vor meinem | |
Körper, für die es in meiner realen Umgebung keine Entsprechung gab. Wenn | |
du als junger Mensch Krebs hast, kriegen deine Freunde Angst vor dir. Denn | |
du personifizierst ihre schlimmste Angst: nicht unsterblich zu sein. Und so | |
versichern sie dir – und damit sich selbst – ununterbrochen, alles werde | |
gut, weil der Tod schlicht nicht denkbar ist. | |
Ist es derselben Undenkbarkeit geschuldet, dass nicht Trauer und | |
Solidarität mit den Ermordeten, Gefolterten, Verschleppten die unmittelbare | |
Folge der Terroranschläge auf Israel waren, sondern Freudenfeiern auf der | |
einen, „Kontextualisierung“ auf der anderen Seite, ansonsten „Ja, | |
aber“-Gemurmel? | |
Oder steht das alles nicht eher in einer Erzähltradition [3][von 2.000 | |
Jahren Antisemitismus] – muslimischem, christlichem, marxistischem, | |
faschistischem? | |
Judenhass ist eines der ältesten und erfolgreichsten Konzepte des Otherings | |
– der Konstituierung einer ideologischen Gemeinschaft durch | |
[4][Ausgrenzung] von anderen. Und da es sich im Unterschied zu Rassismus | |
oder Sexismus auf eine sehr kleine Gruppe beschränkt, kann man für | |
[5][Kritik an Juden eigentlich immer Applaus bekommen]. | |
Antisemitismus ist ein Grundbaustein unserer Zivilisation, angereichert | |
durch einen Märchenschatz an Stereotypen und Verschwörungstheorien. Von der | |
Ritualmordlegende über die Fixierung auf Geldgeschäfte bis zu angeblichen | |
Liebhaberqualitäten aufgrund der Beschneidung. Zu Juden fällt jedem etwas | |
ein. Und weil kaum jemand jüdisch ist oder Juden kennt und weil es schlicht | |
keinen Spaß macht, sich selbst infrage zu stellen, werden die Narrative | |
weitergetragen. Von Generation zu Generation zu Generation. Und am Ende | |
skandieren Studierende vor dem Auswärtigen Amt: „Free Palestine from German | |
guilt“, und ich bekomme Panikattacken. | |
Nur wer historische Entwicklung als Mentalitätsgeschichte begreift, kann | |
Narrative durchschauen. Vor 500 Jahren waren Juden Brunnenvergifter, | |
[6][heute ist Israel ein Apartheidstaat]. | |
## Die eigenen Schuldgefühle aushalten | |
Wenige sind in der Lage, ihre eigene familiäre Verstrickung in den | |
antisemitischen Diskurs zu reflektieren und zuzugeben: „Mein Opa war ein | |
glühender Nazi.“ Noch weniger schaffen es, die ererbten Schuldgefühle | |
auszuhalten, ohne sie mit der ererbten Angst der Opfernachkommen | |
gleichzusetzen. | |
Seit 15 Jahren bin ich in psychotherapeutischer Behandlung. Seit die | |
Panikattacken anfingen, wenn ich Menora sah oder Davidsterne. Mir wurde | |
übel, ich fing an zu schwitzen, manchmal brach ich in Tränen aus. Dasselbe | |
passierte, wenn ich authentische Bilder von Auschwitz sah. Die Symbole des | |
Judentums waren in meinem Kopf verschmolzen mit den Zeugnissen der | |
versuchten Auslöschung des jüdischen Volks durch den NS. | |
Das Judentum meiner Familie war ein von außen aufgedrückter Stempel, keine | |
innere Überzeugung. Mein Urgroßvater bezeichnete sich selbst – genau wie | |
ich – als Nichtjude. 1947, 70-jährig auf sein Leben zurückblickend, | |
erklärte auch er, er sei lediglich „jüdischer Abstammung“. Trotzdem wurde | |
sein Geschäft [7][in der Pogromnacht] verwüstet. In einem autobiografischen | |
Büchlein schreibt er: „Ein großer Teil meiner jüdischen Verwandten und | |
Bekannten verließ Deutschland sofort bei der ‚Machtergreifung‘. Ich dachte | |
nicht daran. | |
Einmal fühlte ich, dessen Vorfahren seit Generationen mit dem deutschen | |
Buch verknüpft waren, mich mit völliger Selbstverständlichkeit als | |
Deutscher und hatte keinesfalls die Absicht, diesen Anspruch gegenüber | |
einer randalierenden Rotte einfach abzugeben; andererseits erschien mir | |
diese Mischung von Gangster- und Banditentum, wie sie sich beim | |
Reichstagsbrand, im Benehmen der SA, bei den Ereignissen des Jahres 1934 | |
zeigte, so untergangsreif und lebensunfähig, dass ich völlig von ihrem | |
schnellen Abwirtschaften überzeugt war. Und so wie ich dachte ein großer | |
Kreis, bei jedem neuen Gewaltakt trösteten wir uns, ‚um so schneller geht | |
es mit ihnen zu Ende‘. Die folgenden Jahre haben gezeigt, dass die | |
Voraussage an sich nicht falsch war, denn zwölf Jahre sind wohl, historisch | |
gesehen, keine lange Zeit. Unvorstellbar war uns nur das grauenvolle | |
Ergebnis dieser Jahre.“ | |
Natürlich erklärte Hugo Streisand den Antisemitismus nach Hitler für | |
beendet. Er hatte alles verloren, beide Schwestern waren deportiert worden, | |
alle jüdischen Verwandten tot oder emigriert. Er selbst war nur durch die | |
Ehe mit meiner Urgroßmutter geschützt worden. Er war der einzige | |
überlebende Jude mit Namen Streisand in ganz Deutschland. Was die Psyche | |
nicht erträgt, verdrängt sie. Mein Urgroßvater musste weiterleben. Im Land | |
der Täter. | |
Diese Verdrängung wurde weitervererbt, mitsamt der Angst und den | |
Schuldgefühlen. Nie vor dem 7. Oktober hatte ich der Auslöschung dieser | |
Familie wirklich ins Auge geblickt. Mit [8][meiner widerständigen | |
Großmutter] habe ich mich ausgiebig beschäftigt. [9][Mütterchen rettete] | |
ihren als „privilegierter Mischling ersten Grades“ internierten Bräutigam, | |
den Sohn des Antiquars, aus dem Arbeitslager. Heldinnengeschichten erzählen | |
sich gut. Die Geschichten der Toten aber blieben unerzählt. | |
## Als wäre die Angst ein Schmuckstück | |
Ich habe mich gegen jüdische Zuschreibungen stets gewehrt. Ich schämte mich | |
meiner Panikattacken, als wäre die Angst ein Schmuckstück, das ich mir | |
unrechtmäßig angeeignet hätte. Dabei ist sie ganz offiziell vererbt. Es | |
wusste nur niemand, wohin mit der Angst. Es gab ja auch keinen Raum für | |
Antisemitismus. In der DDR schon mal gleich gar nicht. In einem | |
antifaschistischen Staat konnte der nicht existieren. Wegen dieses | |
Trugschlusses kamen nach 1945 viele Juden in die DDR. Jurek Beckers Vater | |
zum Beispiel mit seinem Sohn, auch sie die einzigen Überlebenden einer | |
riesigen Familie. | |
Was bleibt von einem jüdischen Erbe, wenn man das Religiöse ablehnt und die | |
Existenz des Antisemitismus negiert? Also ich dachte, ich sei verrückt und | |
müsse mich einfach mehr anstrengen, mir ein dickeres Fell wachsen lassen. | |
Stellt euch meine Überraschung nach dem 7. Oktober vor, als ich erfuhr, | |
dass es anderen genauso geht wie mir. In meiner Familie wird über die | |
jüdischen Vorfahren nur in unbeendeten Sätzen geredet. Als ich meiner | |
Mutter jüngst erzählte, ich hätte auf offener Bühne Anfeindungen für einen | |
Text über Antisemitismus erfahren, meinte sie mitfühlend: „Ja schlimm, aber | |
wenn du dich so exponierst …“ Ihr war klar, dass man Hass erntet, wenn man | |
die jüdische Position einnimmt. Meine Mutter hat für ihre Angst nie | |
Verständnis erwartet. Im Gegenteil. Bei ihrer Einschulung Ende der 1950er | |
in Ostberlin habe sie sich umgesehen unter ihren Mitschülern und gedacht: | |
Wenn deren Eltern gewonnen hätten, säße ich jetzt nicht hier. | |
Wo soll ich hin mit meiner Angst, wenn die Hamas Anschläge auf jüdische | |
Einrichtungen in Deutschland plant, aufgeregte Studierende von der | |
Befreiung Palästinas schwafeln und ich Fanpost von Rechtsextremen bekomme, | |
die mir erklären, sie hätten schon immer gewusst, dass der Islam an allem | |
schuld sei? | |
Ich war in der Synagoge. Nirgends wird entspannter [10][mit Trauer] | |
umgegangen als in den Riten einer Glaubensgemeinschaft, die sich seit 2.000 | |
Jahren durch die Erfahrung ihrer Verfolgung konstituiert. Letzten Freitag | |
sucht der Gemeindeälteste eine Frau zum Kerzenanzünden. Große Ehre. Er | |
geht durch die Sitzreihen. „Sind Sie jüdisch?“ Kopfschütteln. „Sie?“ … | |
„Nein.“ – Er sieht mich an. „Sie sind doch die Frau Streisand!“, sagt… | |
„Ja“, sage ich, „aber ich habe keine Ahnung von gar nichts.“ Er grinst.… | |
ditt is mir klar bei der Familie.“ | |
Wenn ich Weihnachten Jesu Geburt feiern kann, ohne Mitglied der Kirche zu | |
sein, kann ich auch zu Schabbat die Synagoge besuchen, um meinem traurigen | |
familiären Erbe etwas Lebendiges entgegenzusetzen. | |
24 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Gewalt-an-Frauen/!5972451 | |
[2] /Appell-des-UN-Generalsekretaers-zu-Gaza/!5974364 | |
[3] /Geschichte-des-Antisemitismus/!5979123 | |
[4] /Debatte-um-Hannah-Arendt-Preis/!5979244 | |
[5] /Nahost-Konflikt-in-Deutschland/!5969310 | |
[6] /Antisemitismus-im-Nahostkrieg/!5965347 | |
[7] /Psychologin-ueber-80-Jahre-Pogromnacht/!5544769 | |
[8] /Der-Fortsetzungsroman-Kapitel-40-Schluss/!5033992 | |
[9] /Der-Fortsetzungsroman-Kapitel-26/!5041285 | |
[10] /Historiker-Wolffsohn-ueber-Nahostkonflikt/!5976741 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
## TAGS | |
Antisemitismus | |
Judentum | |
Scham | |
Angst | |
Schuld | |
António Guterres | |
Israel | |
Massaker | |
DDR | |
Juden | |
GNS | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
Judentum | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
wochentaz | |
Kolumne Grauzone | |
Freie Universität Berlin | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Max Czollek über Erinnerungskultur: „Instrument der Disziplinierung“ | |
Der Autor Max Czollek über die Veränderungen seit dem 7.Oktober, seine | |
Vertrauenskrise und unsere gewaltvolle Gesellschaft. | |
Resolution gegen den Krieg in Nahost: Bisher ohne Wirkung | |
Laut humanitären Helfern verschlechtert sich die Lage in Gaza – trotz | |
UN-Sicherheitsratsresolution. Israel sieht die Schuld bei | |
Hilfsorganisationen. | |
Geschichte des Antisemitismus: 2000 Jahre Judenhass | |
Antisemitismus hat seine Wurzeln im Christentum. Mit der Judenemanzipation | |
und der Staatsgründung Israels wurde auch der islamische Judenhass | |
mörderisch. | |
Vom Antisemitismus zum Antizionismus: Das Versprechen auf Luft zum Atmen | |
Israels Handeln wird oft als imperial und kolonial dargestellt. Das hat | |
Wurzeln in der sowjetischen Rhetorik, die zu wenig reflektiert werden. | |
Deutsche Unis im Nahostkrieg: Kann gemeinsame Trauer verbinden? | |
Seit Wochen kommt es zu Besetzungen und Demos. Aktivist:innen werfen | |
den Hochschulen Einseitigkeit vor. Jüdische Studierende fühlen sich | |
bedroht. | |
Militärsprecher zum Krieg in Gaza: „Diesmal zu Ende bringen“ | |
Der Angriff am 7. Oktober war ein „Mini-Holocaust“, sagt Arye Sharuz | |
Shalicar. Dass in Gaza jetzt so viele Menschen sterben, sei allein Schuld | |
der Hamas. | |
Die deutsche Linke und Israel: Nie wieder Staatsräson | |
Können deutsche Linke eigentlich noch guten Gewissens hinter Israel stehen? | |
Ja, können sie. Aber nicht, weil Deutschland das so will. |