# taz.de -- Vom Antisemitismus zum Antizionismus: Das Versprechen auf Luft zum … | |
> Israels Handeln wird oft als imperial und kolonial dargestellt. Das hat | |
> Wurzeln in der sowjetischen Rhetorik, die zu wenig reflektiert werden. | |
Bild: Israelische Fahne | |
Das Erste, das ich in meinem Leben mit Israel assoziierte, war die | |
Babynahrungsmarke Beba. Wenn in meiner Familie über die alten Zeiten | |
gesprochen wurde, über unser Leben vor unserer Ausreise nach Deutschland, | |
über meine Geburt, wurde immer wieder mit großer Erleichterung vorgetragen: | |
Beba aus Israel hat dich gerettet! | |
Kurz nach meiner Geburt erkrankte meine Mutter lebensbedrohlich, sie lag im | |
Krankenhaus und konnte nicht stillen. In Transnistrien, [1][meinem | |
Geburtsland,] mangelte es nach dem Bürgerkrieg 1992 an allem. | |
Grundnahrungsmittel waren rationiert, Milchersatz für Babys kaum zu | |
bekommen. | |
Die Rettung brachte meine Uroma Antonina. Ende der 1970er Jahre, nach dem | |
Tod meines Uropas, war sie aus der Sowjetunion nach Israel ausgewandert, | |
der Liebe wegen. Mit ihrem zweiten Mann David ließ sie sich in Haifa | |
nieder. Zu meiner Geburt schickte sie Geschenke, Kleidung und einen Karton | |
mit Beba-Milchnahrung. So entstand unsere persönliche Beba-Luftbrücke von | |
Israel nach Transnistrien. | |
Die Sowjetunion erlebte seit den 1970er Jahren wieder zahlreiche jüdische | |
Emigrationswellen nach Israel. So wie meine Uroma verließen Hunderttausende | |
ihre Heimat. Zunächst aus zionistischen Gründen, später spielten | |
ökonomische Gründe eine größere Rolle. | |
## Karriere, mit einem jüdischen Nachnamen? | |
Und dann war da noch der Antisemitismus. In der Schule, zu Sowjetzeiten, | |
wurde mein Vater schlechter benotet, weil er Jude war. Als er eine Karriere | |
im höheren Dienst anstrebte, zog er in Erwägung, seinen Nachnamen zu | |
ändern. Karriere, mit einem jüdischen Nachnamen? War nicht vorgesehen, das | |
wusste er. | |
Als Jude in der Sowjetunion war eine völlige Assimilierung nicht möglich, | |
da das Jüdischsein als Nationalität im Pass eingetragen war. Jüdische | |
Religion konnte nur eingeschränkt ausgeübt werden oder war gar verboten. | |
Der Historiker [2][Léon Poliakov] beschrieb dies in seinem „Essay über die | |
Desinformation“ als „langsames Ersticken“. | |
Luft zum Atmen, die vermuteten manche sowjetischen Juden deshalb in Israel. | |
Doch die Emigration war mühsam, von dem politischen Wind abhängig, der | |
gerade wehte. Familienmitglieder, die zurückblieben, mussten nicht selten | |
mit Repressionen rechnen. | |
Wer die antisemitische Propaganda in der arabischen Welt heute begreifen | |
will, muss den Blick auch auf die Sowjetunion richten. Die ideologischen | |
Muster, die sich bis heute in den von antisemitischen Stereotypen | |
durchzogenen Falschbehauptungen gegenüber Israel wiederfinden, sind geprägt | |
durch die sowjetische antizionistische Propaganda der Stalinzeit. | |
## Das Wort Jude durch Zionist austauschen | |
Rund 90 Prozent der Juden in Deutschland haben ihre Wurzeln in der | |
Sowjetunion. Wie heute über Israel gesprochen wird, auch in Deutschland, | |
weckt bei ihnen Erinnerung an den Sowjet-Diskurs. Mit den „Kosmopoliten“, | |
denen in den 1950er Jahren dort der Kampf angesagt wurde, waren die Juden | |
gemeint. Israel wurde spätestens seit dem Sechstagekrieg 1967 dämonisiert. | |
Israels Handeln wurde danach stets als imperial und kolonial dargestellt | |
oder mit den Verbrechen der Nationalsozialisten gleichgesetzt. In der | |
sowjetischen Rhetorik wurde das Wort Jude durch Zionist ausgetauscht. | |
Schauen Sie sich die Plakate, die seit dem 7. Oktober auf antiisraelischen | |
Demonstrationen hochgehalten werden, an. Die antiisraelische Propaganda | |
wirkt bis heute. | |
Sowjetische Juden wuchsen mit dem Wissen auf, dass ihnen viele Wege | |
versperrt bleiben würden. Sie lebten diskriminiert, ohne dass diese | |
Diskriminierung offiziell festgeschrieben war. Ihre Kinder sollten es in | |
Israel, in Deutschland einmal besser haben. Sie sollten frei sein können. | |
Wie vielerorts diskursiv und auf den Straßen mit dem 7. Oktober umgegangen | |
wird, weckt Erinnerung an die Sowjet-Erfahrung. Und offenbart: [3][die | |
Kontinuität von Antisemitismus im Gewand des Antizionismus.] | |
23 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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