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# taz.de -- Eine Prosageschichte: Der einzige Patient
> Im siebten Jahr nach dem Ereignis herrschte Frieden. Doch er fand sich
> allein unter Irren, die ihm weismachen wollen, er sei der Narr.
Bild: „Draußen herrschte Frieden, er traute ihm nicht.“
Es war das siebte Jahr nach dem Ereignis, als er sich inmitten von Irren
wiederfand. Draußen herrschte Frieden, er traute ihm nicht. Drinnen,
umgeben von Irren, fühlte er sich fremd, allein, wie nur einer sich fühlen
kann, der durchlebt hatte, was ihm widerfahren war.
Er hatte sein Weltvertrauen verloren, vor langer Zeit. Damit lebte er,
tagein, tagaus. Dann kam das Ereignis, vor sieben Jahren, und auch wenn es
dieses Mal anders war als damals, nicht vergleichbar, erlebte er es als
eine weitere Katastrophe.
Die psychiatrische Klinik, in der er sich befand, war kalt und nass. An den
Wänden klebten Plakate und Flyer, bunte Farben und politische Parolen
darauf, die ihm vertraut vorkamen. Vertraut, jedoch aber nicht auf eine
einladende Art und Weise. Sie erinnerten ihn an die Vergangenheit, als auf
den internationalen Bühnen zwar über einen Krieg gestritten wurde, er aber
noch ein Zuhause hatte – und eine Existenz. Er war der einzige Patient.
Der propagierte Frieden ist ein falscher Frieden! Das hatte er immer wieder
gesagt, wenn er in seiner Wohnung auf und ab lief. Er hatte es auch den
Menschen links und rechts von sich in der Bahn ins Ohr geflüstert, auf dem
Weg zur Arbeit. Er hatte es seinen Bekannten gesagt, die sich bald von ihm
abwendeten. Und aufgeschrieben, laut in die Welt geschrien, weil er gehört
werden wollte.
## Egal, ob draußen oder drinnen
Deswegen hatten sie ihn geholt. Ihn abtransportiert und in die Klinik
gebracht. Eines Morgens, an einem ungewöhnlich kalten Tag für diese
Jahreszeit.
Er wusste da bereits, dass es keinen Unterschied mehr machte, wo er sich
befand, draußen oder drinnen. Er war sowieso allein. Niemand hörte ihm zu,
niemand hatte ihm je zugehört. Seine Worte und Schreie waren abgeprallt an
seiner Umgebung, an seinen Mitmenschen, die nicht mit ihm sein wollten. Die
Worte waren abgeprallt an der Wirklichkeit, die er beschrieb.
Inmitten von Irren, wollten diese ihm weismachen, er wäre der Narr, der
Verrückte. Und manchmal hatten sie ihn fast so weit. Bin ich’s vielleicht
doch?, dachte er dann. Er rieb sich die Stirn, bis sie warm wurde, und
weinte dann vielleicht, weil er sich nicht geirrt haben wollte in der Welt,
er fühlte sich verloren und sah plötzlich die Narben auf seinem Körper und
eine klaffende Wunde, mitten auf seiner Brust. Eine Wunde, die nie geheilt
war seit der Katastrophe. Und er erinnerte sich.
Sie müssen etwas Schlimmes verbrochen haben, sagte die eine, damals, als
man ihn ins Lager sperrte. Als man ihn zum Katastrophenmenschen machte. Und
ein anderer, im Nachgang, sagte: Nicht ohne Grund wird Ihnen das
widerfahren sein, schließlich, na ja, Sie sind eben, was Sie sind. Später,
als seine klaffende Wunde ein Stückchen weiter aufriss, hörte er einen, den
er einmal für klug hielt, auf den Kontext verweisen, der nicht außer Acht
genommen werden dürfte. Und er verstand: Der Irre bin nicht ich, sondern
die Anderen.
In der Klinik gab man ihm eine Diagnose: neurotische paranoide Störung,
Wahnbildung. Er sehe die Realität nicht, wie sie sei, weil er dem Frieden
in der Welt nicht traue, sagten die Ärzte. Er sehe in den Menschen nur
Gegen-Menschen. Auch die Pfleger belächelten ihn. Für alles Leid und
Unglück dieser Welt mache man nur seinesgleichen verantwortlich, das glaube
er wirklich, fragten sie ihn selbstgerecht, während hinter ihnen, an den
Wänden, alte Parolen seine Katastrophen verleugneten, feierten,
kontextualisierten.
Es war das siebte Jahr nach dem Ereignis. Seine Existenz war eine Tragödie
und er war nun der einzige seiner Sorte. Die erste Katastrophe hatte sein
Schicksal besiegelt. Er ging durch die Welt als Kranker, bald würde er
sterben. Die Irren aber lebten weiter, mit ihnen ihre Neurose. Sie würden
nicht bemerken, dass er fehlte. So war es und so würde es immer bleiben.
7 Jan 2024
## AUTOREN
Erica Zingher
## TAGS
Kolumne Grauzone
Prosa
Psychiatrie
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