| # taz.de -- Deutsche Unis im Nahostkrieg: Kann gemeinsame Trauer verbinden? | |
| > Seit Wochen kommt es zu Besetzungen und Demos. Aktivist:innen werfen | |
| > den Hochschulen Einseitigkeit vor. Jüdische Studierende fühlen sich | |
| > bedroht. | |
| Bild: Demo für Waffenstillstand und ein freies Palästina: Aufruf der Berliner… | |
| Berlin taz/dpa | Mehrere Dutzend Menschen haben am Mittwochmittag in Berlin | |
| bei einer Kundgebung gegen den Umgang der Universitäten mit dem Gaza-Krieg | |
| protestiert. Die Veranstaltung mit dem Titel „Decolonise Universities“ fand | |
| vor der Universität der Künste (UdK) statt. Nach Polizeiangaben wurde die | |
| Veranstaltung von einer Einzelperson angemeldet. Rund 100 Menschen waren | |
| demnach vor Ort. | |
| „Ich habe mich gemeinsam mit anderen Studierenden vor meiner Uni | |
| versammelt, um für die Rechte der Palästinenser einzustehen und gemeinsam | |
| mit den anderen Studierenden einen Waffenstillstand einzufordern“, sagte | |
| ein Teilnehmer. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer trugen Kufijas, | |
| sogenannte Palästinensertücher. Es wurden mehrere Reden gehalten. Auf | |
| einem Plakat wurden Apartheid-Vorwürfe gegen die israelische Politik | |
| erhoben. | |
| Zu dem Protest aufgerufen hat die Gruppe Student Coalition Berlin (SCB), | |
| bei der Studierende mehrerer Berliner Hochschulen mitmachen. Sie werfen | |
| ihren Unis vor, analog zur deutschen Staatsräson „bedingungslos“ den Staat | |
| Israel und dessen Regierung zu unterstützen. Dies habe, heißt es in dem | |
| Protestaufruf, in den vergangenen Wochen zu einem einseitigen Narrativ | |
| geführt, bei der verschiedene Berliner Universitäten „beschämende | |
| Positionen“ eingenommen und eine „inakzeptable Hierarchie des Leidens“ | |
| etabliert hätten. | |
| Gemeint ist neben der UdK auch die Freie Universität Berlin (FU). An beiden | |
| Hochschulen kam es bereits zu propalästinensischen Protestaktionen, die | |
| bundesweit scharf kritisiert worden sind. Auslöser war jeweils, dass die | |
| Unis nach dem brutalen Überfall der Hamas ihre Solidarität mit Israel | |
| erklärt hatten – aus Sicht der Protestierenden zu einseitig. Mitte | |
| November besetzten rund 100 Studierende das Foyer des Hauptgebäudes der UdK | |
| und [1][brüllten dabei Augenzeugen zufolge den UdK-Präsidenten Nobert Palz | |
| nieder], als der als Gesprächsgrundlage die Verurteilung des Hamas-Terrors | |
| forderte. | |
| ## Entsetzen über Attacken auf jüdische Studierende | |
| Vergangene Woche besetzten Studierende der Freien Universität Berlin (FU) | |
| dann über mehrere Stunden einen Hörsaal. Es gehe darum, „Aufklärung und | |
| Diskurse zu fordern, die schlicht und einfach fehlen“, rechtfertigt eine | |
| beteiligte Studentin der taz gegenüber die Aktion. Nach zum Teil | |
| handgreiflichen Auseinandersetzungen mit jüdischen und proisraelischen | |
| Studierenden ließ die Hochschulleitung den Saal durch die Polizei räumen. | |
| Die FU begründet das auch damit, dass die Veranstaltung nicht von der Uni | |
| genehmigt worden war. | |
| Parteiübergreifend zeigten sich Bundes- und Landespolitiker:innen | |
| entsetzt über den jüngsten Vorfall: „Wir dürfen nicht zulassen, dass | |
| jüdischen Studierenden der Zugang zu Hörsälen verwehrt wird, sie | |
| Anfeindungen oder gar Gewalt ausgesetzt sind“, schrieb | |
| Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) auf X, vormals | |
| Twitter. Nach der Hörsaalbesetzung an der FU wiederholte sie ihre | |
| Forderung, konsequent zu handeln, wenn antisemitisches Gedankengut auf dem | |
| Campus verbreitet werde – notfalls per Exmatrikulation. Ähnlich äußerte | |
| sich auch Justizminister Marco Buschmann (FDP). | |
| Dass antisemitisches Gedankengut an der FU verbreitet wurde, bestätigen | |
| gegenüber der taz mehrere Personen. Eine von ihnen ist Lior Steiner. Der | |
| 18-Jährige studiert an der FU Betriebswirtschaftslehre. Im besetzten | |
| Hörsaal habe er Plakate und T-Shirts gesehen, auf denen Parolen oder | |
| Symbole zu sehen gewesen seien, die Israel das Existenzrecht absprechen. | |
| Darunter der Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ | |
| oder ein Logo, das die Umrisse des Landes Israel in den Farben der | |
| palästinensischen Flagge zeigt. | |
| Zudem habe ein Mitglied der Gruppe Young Struggle, [2][die sich als | |
| sozialistisch bezeichnet], in einem Redebeitrag gesagt, dass „Israel keine | |
| Existenzberechtigung“ habe, die Türkei aber schon, weil es eine türkische | |
| Arbeiterklasse gebe und in Israel keine. Videos, die der taz vorliegen, | |
| bestätigen das. Nicht alle, die bei der Aktion dabei waren, finden das | |
| okay. „Solche Aussagen kann man nicht verteidigen“, sagt eine Studentin, | |
| die vor Ort war. Hätte sie das gewusst, wäre sie nicht gekommen. Die | |
| Position von Young Struggle ändere jedoch nichts daran, dass sie sich für | |
| die Menschen in Palästina einsetze. | |
| ## Beschimpfungen und kaum Grundlagen für Debatten | |
| Für Steiner, dessen Familie den Holocaust überlebt hat, endet hier die | |
| Gesprächsgrundlage. „Ich bin in den Hörsaal gekommen, um mich der Debatte | |
| zu stellen“, so Steiner. „Mir ist bewusst, dass der Krieg auch auf | |
| palästinensischer Seite großes Leid hervorbringt“. Statt einer offenen | |
| Diskussion sei er aber am Eintritt in den Hörsaal behindert und dann als | |
| „Zionist“ beschimpft worden. Der FU wirft Steiner vor, antisemitischen | |
| Narrativen zu lange Raum geboten zu haben. | |
| Auf taz-Anfrage teilt die Hochschule mit, dass sie sich im Vorfeld kein | |
| genaues Bild der Situation und der beteiligten Gruppen machen konnte. „Eine | |
| Bewertung konnte erst nach Beginn der Aktion erfolgen.“ Mittlerweile fällt | |
| das Fazit klar aus: Bei der Besetzung des Hörsaals „wurden auch | |
| antisemitische Äußerungen beobachtet“, teilt die Pressestelle mit. Aktuell | |
| würden weitere Schritte geprüft, etwa wegen strafrechtlich relevanten | |
| Verhaltens. Eine Exmatrikulation, wie sie auch Lior Steiner fordert, käme | |
| jedoch nicht in Frage. | |
| Allerdings erlaubt das Berliner Hochschulgesetz dies gar nicht. Die | |
| rot-rot-grüne Vorgängerregierung hatte diese Option in der jüngsten Novelle | |
| abgeschafft. In den meisten Bundesländern sieht es ähnlich aus. Aus Sicht | |
| der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) ist die Exmatrikulation ohnehin „kein | |
| adäquates Mittel zur schnellen Sanktionierung von Meinungskundgebungen – | |
| gleich wie unsachlich, provokant und geschmacklos diese sein mögen“, wie | |
| HRK-Präsident Walter Rosenthal auf Anfrage der taz mitteilt. | |
| Bei den „Protestaktionen gegen jüdisches Leben“ hält der HRK-Präsident es | |
| für zwingend erforderlich, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen: | |
| strafrechtlich relevante Äußerungen zur Anzeige zu bringen – und vom | |
| Hausrecht Gebrauch zu machen. Das verlangt auch der [3][Aktionsplan gegen | |
| Antisemitismus] und Israelfeindlichkeit, den die | |
| Wissenschaftsminister:innen Anfang Dezember vorgelegt haben. | |
| Noam Petri begrüßt die klare Haltung der Politik. Der 20-Jährige ist | |
| Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD). Zusammen | |
| mit anderen jüdischen Studierenden nahm Petri Mitte Dezember an einem | |
| Treffen mit Stark-Watzinger in Berlin teil. „Wir haben dort klar gemacht, | |
| wie stark wir seit dem 7. Oktober angefeindet und bedroht werden“, erzählt | |
| Petri am Telefon. Er wisse von Kommiliton:innen, die sich alleine nicht | |
| mehr auf den Campus trauten. | |
| ## Kann geteilte Trauer verbinden? | |
| Ein Student habe wegen der aktuellen Bedrohung sogar das Studium beendet. | |
| Auch Lior Steiner von der FU sagt, dass er sich alleine unwohl auf dem | |
| Campus fühle. Noam Petri erwartet, dass die Hochschulen Konsequenzen | |
| ziehen, wenn die Meinungsfreiheit überschritten wird. Er sieht sie beim | |
| Existenzrecht Israels. Sachliche Kritik an Israel hält er aber für legitim. | |
| Dass auf beiden Seiten viele unschuldige Menschen sterben – vielleicht ist | |
| das die Basis, auf der Verständigung möglich ist: eine geteilte Trauer, die | |
| verbinden kann. Das Studierendenkollektiv notinournameUdK etwa hat nach dem | |
| Protest an der Uni im November den Mittwoch zum Streiktag erklärt, um die | |
| Kritik an der „selektiven Solidarität“ in der offiziellen Haltung der | |
| Hochschule sichtbar zu halten. | |
| Die Gruppe betont dabei ausdrücklich die Verbundenheit von | |
| Palästinenser:innen, jüdischen Menschen und deren Mitstreiter:innen. Bei | |
| der Art und Weise, wie der Protest abläuft, haben sich die Parteien | |
| aufeinander zubewegt – zumindest an der UdK. Wie beide Seiten bestätigen, | |
| verständigten sich Studierende und Hochschulleitung darauf, den Streik von | |
| der Eingangshalle in einen anderen Raum zu legen, um nicht den laufenden | |
| Betrieb zu stören. Selbstverständlich sei auch, dass für diskriminierende, | |
| rassistische oder antisemitische Einstellungen an der Uni kein Platz ist. | |
| 20 Dec 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kulturkampf-an-den-Hochschulen/!5973749 | |
| [2] https://young-struggle.org/wer-wir-sind-young-struggle/ | |
| [3] https://www.kmk.org/fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/2023/2023_12_07-KMK-Ak… | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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