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# taz.de -- Antisemitismusbeauftragter über Proteste: „Wir haben eine extrem…
> Judenhass ist ein breites gesellschaftliches Problem, sagt Samuel
> Salzborn. Das sei historisch begründet. Weniger als ein Prozent waren zur
> NS-Zeit oppositionell.
Bild: Zeichen der Solidarität: Teilnehmer:innen der Demonstration „Nie wiede…
taz: Herr Salzborn, wie sicher können Jüdinnen und Juden zurzeit in Berlin
leben?
Samuel Salzborn: Seit dem barbarischen antisemitischen Terroranschlag der
Hamas vom 7. Oktober ist die Sicherheitslage für Jüdinnen und Juden und für
Israelis in Berlin extrem angespannt. Wir hatten eine Reihe von extrem
aggressiven antisemitischen Versammlungslagen und Kundgebungen,
Markierungen von Wohnhäusern mit antisemitischen Symbolen, einen versuchten
Brandanschlag auf die Synagoge in der Brunnenstraße, zuletzt mehrere
Zerstörungen von Chanukka-Leuchtern. Seitdem geht das Ganze auch mehr in
die Breite, etwa an den Hochschulen, wo Jüdinnen und Juden angefeindet
werden.
Was heißt das im Alltag?
Das wirkt sich massiv auf das subjektive Sicherheitsgefühl aus, weil man
nie genau weiß, an welchem Ort in Berlin was passieren kann. Viele leben
mit der großen, nachvollziehbaren und berechtigten Furcht, dass sie spontan
angegriffen werden könnten, wenn sie als Jüdinnen und Juden zu erkennen
sind, etwa durch eine Kette mit dem Davidstern.
Braucht es mehr Sicherheitsmaßnahmen?
Das Land macht seit dem 7. Oktober bei den Sicherheitsmaßnahmen vor
Synagogen und vor jüdischen Einrichtungen sehr, sehr viel. Aber das große
Risiko ist der Alltag: Situationen und Orte, in denen man eben keinen
vollumfänglichen Schutz herstellen kann, so bitter das ist.
Raten Sie als Antisemitismusbeauftragter jetzt dazu, sich nicht als jüdisch
oder israelisch erkennen zu geben?
Es ist nicht an mir, jemandem konkrete Vorschläge fürs Leben zu machen.
Aber ich höre von vielen Stellen, dass Menschen solche individuellen
Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und dass sie in einigen Bezirken – wie etwa
Neukölln – noch mal vorsichtiger sind.
Berlin hat seit 2019 ein Landeskonzept zur Weiterentwicklung der
Antisemitismusprävention. Wie gut setzt das Land das um?
Im Unterschied zu anderen Bundesländern haben wir in Berlin konkrete
Maßnahmen festgelegt und ein ganz großer Teil ist auch umgesetzt. Wir haben
uns in vielen Bereichen professionalisiert: Polizei und
Generalstaatsanwaltschaft haben jetzt Antisemitismusbeauftragte. Und wir
haben einen Leitfaden zur Erfassung antisemitischer Straftaten entwickelt.
Der gibt den Kolleginnen und Kollegen auf den Polizeiabschnitten konkrete
Hinweise und Handlungsanweisungen.
Warum ist das wichtig?
Wenn wir uns vorstellen, jemand wird körperlich angegriffen mit einem
antisemitischen Motiv und die Polizei würde nur die Körperverletzung sehen,
dann würde wesentlich verkannt, dass es ohne den Antisemitismus gar keine
Körperverletzung geben würde. Außerdem können antisemitische Motive auch
strafverschärfend wirken. In Berlin ist es aber auch wichtig,
antisemitische Organisationsstrukturen im Blick zu haben.
Inwiefern?
Antisemitische Organisationsstrukturen wie Samidoun waren maßgebliche
Treiber [1][der antisemitischen Proteste] – ohne dass Berlin als Land da
regulieren konnte. Ich wage mal vorsichtig zu sagen: Wenn die
Bundesinnenministerin das Verbot früher ausgesprochen hätte, wären die
Eskalationen hier nicht so heftig ausgefallen.
Wie das?
An einer antisemitischen Versammlung nehmen nicht spontan und aus dem
Nichts mehrere tausend Menschen teil. Das sind organisatorische Strukturen,
die das koordinieren, dazu aufrufen, Parolen vorgeben.
An den proisraelischen Demos haben sich ja eher wenig Menschen beteiligt.
Zeigt sich darin auch Antisemitismus?
Da würde ich mir natürlich sehr viel mehr Menschen wünschen. Allerdings
sind die Demos von sehr breiten Bündnissen getragen: politisch, religiös,
gesellschaftlich, ökonomisch, aus dem sozialen Bereich. Es ist also eine
breite Grundhaltung gegen Antisemitismus auf einer repräsentativen Ebene
da. Und man muss auch sehen, dass es antisemitischen Organisationen
andererseits viel leichter fällt, mit ihrer aggressiven Emotionalisierung
zu mobilisieren.
Sehen Sie das wirklich als aggressive Emotionalisierung? So unsicher die
Quellen auch sind: [2][Wenn wir von mehr als 20.000 getöteten
Palästinenser*innen ausgehen], sind Trauer und Wut doch angebracht.
Gerade in Berlin, wo viele ja auch familiäre Bezüge haben.
Die Polizei spricht da oft von Mischlagen: Mit organisierten
Kaderstrukturen mit einer klar israelfeindlichen antisemitischen Agenda,
mit spontan dazukommenden Jugendlichen und zunehmend auch mit Gruppen aus
einem links-antiimperialistischen Milieu. Wir haben sicher auch Menschen,
die aus eigener Betroffenheit teilnehmen. Aber der Punkt ist: Wer gibt bei
so einer Versammlung den Ton an? Was steht auf den Transparenten? Welche
Parolen werden gerufen, welche Musik gespielt? Es gab und gibt ja auch
Gedenkveranstaltungen ohne antisemitische Parolen. Wenn
Teilnehmer*innen sich aber hinter antisemitischen Transparenten
versammeln, tragen sie dafür auch Verantwortung. Es läge an ihnen, klar zu
widersprechen oder die Versammlung zu verlassen. Das nehme ich bisher kaum
wahr.
Wie wichtig finden Sie öffentliche Positionierungen?
In einer repräsentativen Demokratie ist das grundsätzlich wichtig, weil
Parteien, Religionsgemeinschaften und Verbände eine Repräsentationsfunktion
haben für die Menschen, für die sie sprechen. Ich finde es auch sehr
wichtig, dass Personen des öffentlichen Lebens sich einbringen.
Schauspieler, Musiker, egal aus welchem Bereich, tragen damit Botschaften
in das Milieu, aus dem sie kommen. Und es ist schon etwas gewonnen, wenn
Leute dadurch über ihre eigenen Positionen nachdenken.
Gerade von muslimischen Verbänden und von Muslim*innen oder Menschen mit
arabischem Hintergrund haben Politik und Gesellschaft Distanzierungen
eingefordert. Ist das gerechtfertigt?
Es ist klar, dass nicht alle Musliminnen und Muslime antisemitische
Positionen vertreten. Aber auch in dem Milieu ist ja entscheidend, was die
repräsentierenden Personen sagen: Wie steuern die, wie wirken die ein?
Islamisten fokussieren auf den Judenhass, und wenn aus einem muslimischen
Milieu keine Gegenstimmen kommen, bleibt das im Raum hängen. Die Frage ist:
Wohin orientieren sich die Menschen, die sich diesem Glauben verbunden
fühlen? Da ist jede einzelne muslimische Stimme, die sich eindeutig und
klar gegen Antisemitismus und gegen die Hamas positioniert, extrem wichtig.
Wir machen es uns doch etwas zu leicht, wenn wir Antisemitismus als
muslimisches Problem betrachten.
Wir haben im Moment eine extreme Situation der antisemitischen Eskalation
und sehen, dass Gruppen aus einem islamistischen Kontext, auch aus einem
arabischen Kontext, das massiv anheizen. Dazu kommen antiimperialistische
Gruppen. Insofern haben wir das Problem dort ganz konkret. Es geht um
Volksverhetzung, Antisemitismus, Gewaltverherrlichung, im Zweifelsfall auch
Gewalt. Insofern finde ich das grundsätzlich den richtigen Fokus, in dieser
Situation.
Und darüber hinaus? Antijudaismus ist auch Teil des Christentums.
Dass es auch [3][im christlichen Kontext Antisemitismus] gibt, ist
offensichtlich. Die evangelische Kirche stellt sich dem seit einiger Zeit
sehr intensiv. Das ist auch der entscheidende Punkt: Am glaubhaftesten ist
der Kampf gegen Antisemitismus immer dann, wenn er sich mit der eigenen
Gruppe auseinandersetzt. Und aktuelle Stereotype schließen an diese sehr
alten Bilder an.
Trotzdem reden wir sehr viel über den sogenannten importierten
Antisemitismus.
Wir wissen mittlerweile, dass weit weniger als ein Prozent der Bevölkerung
im Nationalsozialismus irgendwie oppositionell war, Jüdinnen und Juden
geholfen hat. Also, die große Masse hat in irgendeiner Weise partizipiert
und teilgehabt an den Verbrechen. Wir haben aber immer noch eine nur
unzureichende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit auf der Ebene von
Familien. Die zeigt sich in massiver Schuldabwehr in allen Teilen der
Gesellschaft, auch denen mit Migrationsgeschichte.
Was tun?
Strukturell müsste mehr an den Schulen passieren. Dort reden wir über den
Nationalsozialismus, die Vorgeschichte in der Weimarer Republik und die
Shoah. Dabei vergessen wir oft Judenhass davor und danach. Antisemitismus
fängt nicht erst beim Mord an: Das ist ein Weltbild, eine Einstellung und
spielt auch im Alltag eine Rolle. Darauf müssen wir gucken, um hellhörig
werden zu können, wenn uns Antisemitismus an anderer Stelle begegnet. Als
Querschnittsthema gehört das in alle Fächer.
Und individuell?
In vielen Familien liegen alte Fotoalben, die kann man durchblättern und
gucken, was man entdeckt. Man kann auch mit den Verwandten darüber reden,
was sie wissen, und so eine Auseinandersetzung in Gang setzen – wohin auch
immer das dann konkret führt.
Es gibt viele Jugendliche, deren Familien in der NS-Zeit noch nicht in
Deutschland gelebt haben. Wenn die sagen: Mit mir hat das gar nichts zu
tun. Was antworten Sie?
Der Nationalsozialismus war ein verbrecherisches Regime, das im Kontext
vieler anderer auch faschistischer Regime agiert hat. In den 20er, 30er,
40er Jahren sehen wir eine Reihe von faschistischen Diktaturen mit
antisemitischen Elementen in Europa.
Und im arabischen Raum?
Wir sehen in vielen Staaten Regime, die mit dem Nationalsozialismus
paktiert haben, etwa der Großmufti von Jerusalem. Es haben muslimische,
arabische Divisionen gekämpft – freiwillig. Auch die Muslimbrüder schließen
direkt an solche Ideologien an. Wenn jemand behauptet, Antisemitismus und
Nationalsozialismus habe mit eigener Familiengeschichte nichts zu tun, ist
es oft auch Unwissenheit. Bei einzelnen Familien mag das zutreffen, aber in
Bezug auf Gesellschaften ist es in aller Regel falsch. Und auch in der
schulischen Präventionsarbeit ist eins unverhandelbar: Es gibt keine
Rechtfertigung für Antisemitismus. Das würden Schülerinnen und Schüler in
Bezug auf andere Diskriminierungserfahrungen ja vermutlich auch sagen.
Berlin hat eine große palästinensische Community. Ist die Stadt damit ein
guter Ort für Austausch?
Austausch und Dialog fordern viele ein. Dabei muss die Grundlage aber ein
Konsens gegen Antisemitismus sein. Und das führt oft dazu, dass sich nicht
alle Akteure beteiligen können oder wollen. Wenn es um Antisemitismus oder
Israelhass geht, sind Jüdinnen und Juden oft ausgeschlossen. Die jüdische
Community in Berlin dagegen engagiert sich in vielen Allianzen, etwa gegen
Rassismus oder Antiziganismus. Von jüdischer Seite ist die ausgestreckte
Hand schon lange da.
3 Jan 2024
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## AUTOREN
Uta Schleiermacher
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