# taz.de -- Zweiter Weltkrieg im jüdischen Palästina: Die Deutschen vor El Al… | |
> Der Historiker Dan Diner betrachtet den Zweiten Weltkrieg vom Jischuv, | |
> dem jüdischen Palästina, aus. Damit gelingt ein fulminanter | |
> Perspektivwechsel. | |
Bild: Schicksalsschlacht: alliierte Soldaten im ägyptischen El Alamein am 27. … | |
El Alamein bedeutete einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Die Truppen der | |
faschistischen Achsenmächte waren in Nordafrika im Juli 1942 bis auf 110 | |
Kilometer an Alexandria herangerückt. Im ägyptischen Alexandria lag zu | |
dieser Zeit die britische Mittelmeerflotte. Die deutsch-italienische | |
Panzerarmee Afrika unter ihrem Oberbefehlshaber Rommel musste gestoppt | |
werden. | |
Ansonsten würden Alexandria, Kairo, der Suezkanal, die strategisch | |
bedeutsamen (Öl-)Häfen der Levante sowie der Jischuv – das jüdische | |
Palästina – in die Hände der Faschisten fallen. Durch den Suezkanal führten | |
die Nachschublinien der Briten zum Indischen Ozean. In zwei großen | |
Schlachten gelang es den Alliierten unter britischer Führung, die | |
Achsenmächte abzuwehren. Ende 1942 war Rommels Afrikakorps geschlagen. | |
Der renommierte Historiker Dan Diner erinnert in seinem Buch „Ein anderer | |
Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg, 1935–42“ (DVA, | |
2021) an solch entscheidende Momente, die für den weiteren Verlauf des | |
Zweiten Weltkriegs und die Rettung vieler Menschenleben von großer | |
Bedeutung waren. Geschichte verläuft nicht linear, vieles erscheint im | |
tragischen Sinne zufällig und willkürlich. | |
Diner rückt mit Empathie für die Bedrohten den Krieg im Krieg im Südosten | |
des Mittelmeers heran. Mit geostrategischem Weitblick, nüchtern, aber nicht | |
kalt, legt er dar, wie verschiedene Mächte aus unterschiedlichen Interessen | |
miteinander ringen. Aus der Perspektive des jüdischen Palästinas kommt dem | |
Handeln der Briten und des Empires dabei eine besondere Bedeutung zu. Die | |
Siege der Alliierten bei El Alamein kündigten wie die Schlacht von | |
Stalingrad 1942/43 die Niederlage des Dritten Reichs an. Voraussetzung für | |
alles, was ab 1945 geschehen durfte und musste. | |
## Den Holocaust nach Nordafrika und Palästina bringen | |
Im Sommer 1942 stand SS-Obersturmbannführer Walther Rauff (1906–1984) mit | |
einem Einsatzkommando für den nordafrikanischen Kriegsschauplatz bereit. | |
Rauff hatte in Osteuropa die systematische Ermordung von Juden, | |
Kommunisten, Sinti und Roma mittels mobiler Gaswagen erprobt. Nun sollte | |
Rommels Armee folgen, um den Holocaust nach Nordafrika und Palästina zu | |
bringen. | |
Dan Diner schildert, wie sich 1942 angesichts des deutschen Vormarschs | |
Unruhe in Kairo ausbreitet. Und erst Recht im Jishuv, dem jüdischen | |
Palästina. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs im Ersten | |
Weltkrieg war Palästina auf Beschluss des Völkerbundes unter britische | |
Verwaltung gekommen. | |
Das Britische Mandatsgebiet umfasste bis 1948 die heutigen Territorien von | |
Israel, Jordanien, Westjordanland und Gazastreifen. Die Bevölkerung | |
definierte sich mehrheitlich arabisch/muslimisch. Eine Zählung der Briten | |
von 1922 kam auf 590.890 muslimische Menschen, 83.794 jüdische, 73.024 | |
christliche und 7.028 drusische. | |
Antisemitismus und Pogrome in Osteuropa hatten bei den Juden in der | |
Diaspora ab der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts zu einer verstärkten | |
Migration nach Palästina geführten. Sie nahm in den 1920er Jahren und mit | |
Machtergreifung der Nazis 1933 in Deutschland zu. | |
## Briten in einer komplexen Situation | |
Zionisten erwarben Grund und Boden im „gelobten Land“. Dagegen agitierten | |
islamisch-arabische Fundamentalisten, Aufstände brachen aus. Um es sich mit | |
den arabisch-islamischen Fundamentalisten nicht zu verscherzen, beschränkte | |
die britische Mandatsmacht die Einwanderung. 1939 bis 1945 sollten nur | |
75.000 jüdische Flüchtlinge nach Palästina kommen dürfen – trotz des | |
Holocausts. | |
Die Briten befanden sich 1942 in einer komplexen Situation, wie Dan Diner | |
schildert. Das Empire benötigte im Krieg gegen die Achsenmächte | |
(Deutschland, Italien und Japan) die Ressourcen aus den Überseegebieten, | |
vor allen aus Indien. Der aufkommende jüdisch-arabische Konflikt drohte | |
durch islamistische Agitation auf andere Gebiete mit muslimischer | |
Bevölkerung auszugreifen. | |
Die faschistische Propaganda war dabei keineswegs untätig. Die Nazis hatten | |
sich längst der Dienste des [1][Mufti von Jerusalem] versichert. Mohammed | |
Amin al-Hussein (1895–1974) war ein Faschist und überzeugter Judenhasser. | |
Seine panarabisch-islamistische Rhetorik vergiftete den Diskurs in der | |
islamischen Welt nachhaltig. Der Mufti organisierte internationale | |
Konferenzen und rief zu Angriffen gegen Juden in der islamischen Welt auf. | |
Auch im Irak zündelte er. | |
Nach dem Farhud, dem Pogrom an den Bagdader Juden 1941, zog er weiter nach | |
Berlin. Hier lebte er bis Ende des Zweiten Weltkriegs, Adolf Hitler | |
finanzierte seine Tätigkeiten. Doch viele Muslims in Palästina folgten ihm | |
nicht. Diner berichtet, dass Araber ihren jüdischen Nachbarn in Palästina | |
in den 1940ern anboten, deren [2][Kinder als die ihren auszugeben oder zu | |
verstecken], falls die Deutschen kämen. | |
## Zugespitzte Lage im Mittelmeerraum | |
Das Britische Empire wankte und schwankte bei Ausbruch des Zweiten | |
Weltkriegs bedenklich. Es brauchte seine indischen Truppen, doch | |
Schlachtrufe wie „Asien den Asiaten“ antikolonialer Nationalisten blieben | |
nicht ungehört. So manch [3][antiimperialistischer Befreiungsnationalist] | |
sollte auf Seiten des faschistischen Japans gegen die Briten kämpfen. | |
1939/40 hatte das faschistische Italien 250.000 Soldaten in Libyen | |
zusammengezogen. | |
Nachdem die Deutsche Wehrmacht Frankreich im Juni 1940 besetzte – | |
Vichy-Frankreich samt den verbliebenen Kolonialtruppen und der Flotte mit | |
den Nazis kollaborierte –, spitzte sich die Lage für die Alliierten im | |
Mittelmeerraum dramatisch zu. „Für eine ozeanische Macht wie | |
Großbritannien,“ so formuliert es Diner, „kann ein solch leicht | |
verschließbares Gewässer sich kurzerhand in ein gleichsam verlandetes, | |
feindliches Terrain verwandeln.“ | |
Vom Kaukasus sowie von Libyen her drängten die faschistischen Armeen in | |
einer Zangenbewegung Richtung Naher Osten und Suezkanal. „In mehreren | |
Ereignisschüben rückte der Krieg an Palästina heran,“ so Diner. Doch nach | |
dem Angriff Japans auf Pearl Habor im Dezember 1941 wachte „der schlafende | |
Riese“ USA endlich auf. Mit dem Eintritt der USA in den Krieg gewannen die | |
Alliierten allmählich die Oberhand. | |
Für viele kam es zu spät. Ab 1941/42 organisierten die Nazis den | |
industriell betriebenen Völkermord an den europäischen Juden. Bis 1939 | |
hatten die Nazibehörden Juden schikaniert und ausgeplündert, teils aber | |
noch ausreisen lassen. Doch oft war das Problem, ein Visum eines | |
Aufnahmelands vorweisen zu können. 1939 kam man kaum mehr heraus. Im | |
Oktober 1941 verhängte die NS-Führung ein generelles Ausreiseverbot für | |
Juden. | |
## Zweite Schlacht von El Alamein | |
1940 hatten Bomber der Achsenmächte Ziele in Palästina, in Haifa und Tel | |
Aviv/Jaffa, bombardiert. Im Sommer 1941 besetzte die Wehrmacht Griechenland | |
und seine Inseln im Mittelmeer. Am 23.Juli 1944 trieben die Deutschen – man | |
befand sich bereits an allen Fronten auf dem Rückzug – die Juden von Rhodos | |
und Kos zusammen. Etwa 1.800 Menschen wurden nach Athen verschleppt und von | |
dort am 3.August 1944 mit Viehwaggons per Bahn in das Vernichtungslager | |
Auschwitz-Birkenau transportiert. | |
In der Zweiten Schlacht von El Alamein kämpften aufseiten der Alliierten | |
195.000 Soldaten. Sie standen Ende Oktober 1942 einer faschistischen Armee | |
von etwa 100.000 Mann gegenüber. Unter britischen Kommando kämpften | |
Australier, Neuseeländer, Inder, Exilverbände der Griechen, Polen, | |
Franzosen – und Juden und Araber des Palästina-Regiments. | |
In den nationalen Verbänden der Alliierten kämpften überdies viele Juden. | |
Sofern man sie ließ, wie Diner am Beispiel der polnischen Anders-Armee | |
ausführt: „Mehr als 90 Prozent der jüdischen Bewerber wurden aus vorgeblich | |
‚medizinischen‘ Gründen abgewiesen.“ | |
Der Antisemitismus beschränkte sich nicht auf die Deutschen. „Ob Palästina | |
das Land ihrer Wünsche gewesen war oder nicht, war wenig erheblich,“ so | |
markiert Diner die Lage 1945. „Unter den gegebenen Umständen erwies es sich | |
als die wesentlich sich anbietende Alternative.“ | |
28 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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