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# taz.de -- 75. Geburtstag des Historikers Dan Diner: Ostjude, Israeli, Deutsch…
> Der Historiker Dan Diner wird 75. Angesichts des jetzigen Nahostkonflikts
> hilft ein Blick auf Werk und Biografie dieses undogmatischen Linken.
Bild: Fest im Universalismus verankert: der Historiker Dan Diner auf dem Campus…
Wer „das Jahrhundert verstehen“ will, kann dabei eigene, ganz frühe
Kindheitserfahrungen und Intuitionen nicht ausblenden. Dan Diner,
Historiker und Autor des Buches mit dem Titel „Das Jahrhundert verstehen“
kam 1946 in München zur Welt. Aber das war, wie er betont „nicht in
Deutschland“, sondern [1][in einem Lager für Displaced Persons in der
damaligen amerikanischen Besatzungszone].
Da hat Dan Diner nach 1945 die Erfahrung der Staatenlosigkeit überlebender
Juden aus Osteuropa verinnerlicht. Und danach in Paris die Vorzeichen des
Algerienkriegs. Und in Israel die verblassende Präsenz des Britischen
Empire. Es sind Kindheitseindrücke, die ihn wie Déjà-vus in seinem Leben
und seinem Werk begleiten sollten.
Der Vater, noch in der habsburgischen Zeit geboren, war Pole, die Mutter
Litauerin. Zu deren Verfolgung durch die Nazis bekam man in früheren
Gesprächen mit dem Autor einen Satz hingehauen wie: „Meine Eltern sind vor
dem Holocaust in den Gulag geflohen.“
## Um der Vernichtung willen
„Zivilisationsbruch“ ist wohl der herausragende Begriff, den der spätere
Historiker, nicht zufällig als Völkerrechtler promoviert, zur Bewertung des
Holocaust beigetragen hat. Aus menschlicher Sicht erscheint jeder Tod
gleich. Anthropologisch aber erschüttert der grundlose Mord an den
europäischen Juden alle zivilisatorischen Grundannahmen.
Er zertrümmert das Urvertrauen, dass es niemand wagen würde, Millionen
Menschen um der bloßen Vernichtung willen auszulöschen. Diese Lektion galt
und gilt es den Nachlebenden zu vermitteln, die den Zweiten Weltkrieg
vielleicht „durchgenommen“ hatten, vom Massenmord an den Juden aber nur
undeutlich gehört hatten oder hören wollten.
Und heute jenen, die sich als „Antizionisten“ zu judenfeindlichen
Pauschaulurteilen hinreißen lassen. Die Zusammenführung von Erinnerungen
und dieses sorgsame Abgleichen gegenläufiger Gedächtnisse ist Dan Diners
große Kunst. Den forschen Gleichsetzern und Übertrumpfern von heute, die in
der These von der „Singularität“ des Mordes an den Juden womöglich eine
zionistische Finte erblicken, sollte sie eine Lehre sein.
## Nord-Süd-Perspektive
Unter deutschen Historiker:innen (deren akademischer Mainstream ihm
nie ganz geheuer erschien) war Diner einer der ersten wirklichen
Globalgeschichtler. Er beließ es nicht beim Nachvollzug der gewaltsamen
Verschiebung seiner Eltern von West nach Ost. Er fügte der im Kalten Krieg
eingefrorenen horizontalen Achse auch eine vertikale hinzu.
So betrachtete er den Verlauf der Geschichte auch aus einer
Nord-Süd-Perspektive, ohne diese wiederum „tiersmondistisch“ (frühere
Ausdrucksweise) oder „postkolonial“ (heutige) absolut zu setzen. So
verlangte beispielsweise Diners Gespür für den Befreiungskampf Algeriens
nach einer Neubewertung des 8. Mai 1945.
Und so war der 8. Mai nicht nur der Tag der deutschen Niederlage und des
alliierten Sieges über Nazideutschland. Es war auch der Tag, an dem die
französische Armee in Sétif Algerier und „Kolonialsoldaten“
niederkartätschte. Am 8. Mai 1945 bekamen die, die mit Frankreich gegen
Hitler gekämpft hatten, die Entkolonialisierung und Unabhängigkeit
verweigert.
## Linien des Britischen Empires
In Israel, wohin die Familie Diner 1949 auswanderte, waren die alten
Lebenslinien des Britischen Empires noch offen sichtbar. Diner hat sie in
seinem jüngsten Opus magnum „Ein anderer Krieg“ rekonstruiert ([2][taz, 28.
3. 2021] und [3][Frankfurter Rundschau, 16. 3. 2021]). In einer großen
Erzählung zeigt er, wie anders die Uhren von Irland über Israel bis Indien
– allesamt britische Kolonien oder Mandatsgebiete – tickten.
Filme wie Gillo Pontecorvos „Bataille d’Alger“ oder „Lawrence of Arabia…
weckten früh Diners Interesse. Ob als reale historische oder fiktive
Kinofiguren, lassen sie Diners geradezu kindliche Freude und Neugier
aufblitzen. Über die berühmte Treppe von Odessa vermag Diner zu sprechen,
als habe er Sergei Eisenstein bei „Panzerkreuzer Potemkin“ assistiert. Von
solch einer Treppe hält Diner Schau, nicht ohne Wehmut, über multiethnische
Imperien, deren nationalstaatliche Zergliederung und Homogenisierung nicht
zuletzt auf Kosten der Juden gegangen ist.
Kühl und distanziert trieb Diner im moralisierenden „Historikerstreit“ 1986
die Historisierung des Nationalsozialismus voran. Und souverän ordnete er
auch den Konflikt um „Israel in Palästina“ ein, wie er seine Frankfurter
Habilitationsschrift 1980 betitelte. Diner ist aber auch überaus lebendiger
Erzähler. Und als solcher kann er dem Publikum die vielen Schichten der
Levante näherbringen. Er lehrt die Welt von Süden aus zu betrachten und
bleibt dabei fest im Universalismus verankert, allergisch gegen jedwede
Identitätsversessenheit.
## Eine zeitgemäße Geopolitik
Der Ernst-Bloch-Preisträger von 2006 verdeutlicht die „Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen“ (Bloch). Mit Carl Schmitt gegen ihn, also mit deutlicher
Sympathie für die See- und Luftmächte, skizzierte er eine zeitgemäße
Geopolitik, die den Raum nicht wegsoziologisiert. Und im „Feindbild
Amerika“ (2002) erkannte er scharfsichtig die Spuren des Judenhasses –
eines deutschen Sonderwegs auch der Linken, ihrer national-neutralistischen
Versuchungen zwischen Amerika und Russland in der Friedensbewegung der
1980er Jahre.
Diner pflegt einen ausgeprägten Sinn für historische Orte. Ein Privileg,
wer ihn als Reiseleiter in Israel erleben darf und durfte, dort, wo alles
Zeitgeschichte ist, die noch dampft. In Israel hat er seinen Wehrdienst
geleistet, lehrte Zeitgeschichte in Be’er Sheva, Tel Aviv und Jerusalem.
Und verbrachte dort viel Zeit.
In Jad Mordechai zeigt er die Stelle, wo Feldmarschall Rommel bei einem
Sieg über die Briten mit seiner Panzerarmee nach Tel Aviv hätte
durchmarschieren können, um das Vernichtungswerk der Nazis im jüdischen
Palästina, im Jischuw fortzusetzen. Und wo nun Palästinenser von der Arbeit
nach Hause zurückkehren, vorbei am Denkmal von Mordechai Anielewicz, dem
Anführer des Warschauer Ghetto-Aufstands.
## Krieg der Erinnerungen
Diner nannte das einen „Krieg der Erinnerungen“, der viel historisches
Unterscheidungsvermögen abverlangt. Ein Meisterstück politischer
Geschichtsschreibung ist hierbei seine Studie „Rituelle Distanz“ über das
1952 in Luxemburg fast geheim ausgehandelte Wiedergutmachungsabkommen mit
Israel.
Auch das eine vorbewusste Jugenderinnerung des 1954 mit seinen Eltern gegen
allen Comment nach Frankfurt am Main remigrierten Diner junior. Für den
jungen Diner war die Stadt am Main die amerikanischste in Deutschland. Jazz
& Blues, Café Laumer und Horkheimers Institut für Sozialforschung waren die
ideale Inspiration für ihn.
Seine Vorstellung von Politikwissenschaft (seine „venia legendi“) ist stets
politisch ambitioniert, seine Überlegungen sind gegen den Strich gebürstet
und noch unorthodoxer als das dogmatisch undogmatische Sozialistische Büro
(SB) einmal war. Zu seinen Glanzzeiten gehörte er dem SB an und verschaffte
als Redakteur der Zeitschrift links Wirkung und Einfluss. Im aufkommenden
Konformismus der kommunistischen Parteigründungen der 1970er Jahre war die
Monatszeitschrift links eine Institution geistiger Autonomie.
## Unbestechliche Analytik
Zum Beispiel brach Diner eine – damals unerhörte – „Lanze für die Nato�…
veröffentlichte ein sehr pazifismus-kritisches Gespräch mit André Gorz,
ausgerechnet zum „Frankfurter Friedenskongress“ 1982. Die
Redaktionssitzungen der links waren eine ständige, aus der Tagesaktualität
gespeisteTour d’Horizon, bei der Diners Diskussionsfreude und
unbestechliche Analytik zum Tragen kamen.
Als langjähriger Direktor des von ihm gegründeten Simon-Dubnow-Instituts in
Leipzig und Herausgeber der siebenbändigen „Enzyklopädie jüdischer
Geschichte und Kultur“ (von 1750 bis 1950) hat er eine gelehrte
Aufbereitung der jüdischen Geschichte vorgelegt, jenseits der
nachkriegsdeutschen Fixierung auf den Holocaust.
Von Tel Aviv, wo er sich nicht erst in letzter Zeit oft aufhält, beobachtet
er die arabisch-islamische Welt, die sich in einer „Versiegelten Zeit“
(2005) selbst gefangen hält. Der aktuelle Krieg ist für ihn eine Konvergenz
aller historischen Konflikte von den 1920er Jahren bis in die Jüngste
Gegenwart. Lest Dan Diner. Mit ihm, der am 20. Mai 75 Jahre alt wird, lässt
sich auch das 21. Jahrhundert weitaus besser verstehen.
21 May 2021
## LINKS
[1] /Zeitschrift-ueber-Graeuel-der-Nazis/!5761590
[2] /Zweiter-Weltkrieg-im-juedischen-Palaestina/!5758613
[3] https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/der-kleine-krieg-der-uns-alles-bedeut…
## AUTOREN
Claus Leggewie
## TAGS
Geschichte
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Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Lesestück Recherche und Reportage
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