| # taz.de -- Zeitschrift über Gräuel der Nazis: Augenzeugen berichten | |
| > Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten osteuropäische Juden eine | |
| > Zeitschrift, die Nazi-Gräuel dokumentierte. Jetzt ist sie auf Deutsch | |
| > erschienen. | |
| Bild: Osteuropäische Jüd:innen nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Arbeit an d… | |
| „Lasst uns schweigen, weiter schweigen, | |
| und kein Wort geredet; | |
| lasst uns mit geschlossenen Augen | |
| murmeln ein Gebet. | |
| Nicht die Zäune, nicht die Drähte, | |
| nicht die Wache, die fort steht – | |
| keiner kann es uns verbieten | |
| zu weinen in Still’ und Einsamkeit.“ | |
| Diesen Anfang eines fünfstrophigen Texts zu einem Lied hat eine Jüdin oder | |
| ein Jude aus Estland verfasst. Er beschreibt die verzweifelte Lage der | |
| inhaftierten Menschen in irgendeinem der Hunderten Nazilager in Osteuropa. | |
| Ob die oder der anonyme VerfasserIn den Holocaust überlebt hat, wissen wir | |
| nicht. | |
| Doch der Text blieb anderen Juden im Gedächtnis. So konnte das Gedicht 1946 | |
| in der amerikanischen Zone Deutschlands zum ersten Mal veröffentlicht | |
| werden. Es findet sich in der nun erstmals ins Deutsche übersetzten | |
| Sammlung einer bemerkenswerten Zeitschrift mit dem jiddischen Namen Fun | |
| letstn churbn – Von der letzten Zerstörung. Insgesamt sind zehn Nummern | |
| dieses von Überlebenden herausgegebenen und gemachten Blatts erschienen, | |
| die letzte datiert vom Dezember 1948. | |
| Tausende osteuropäische Juden hatten [1][1945 die Befreiung] in einem der | |
| Lager auf deutschem Boden erlebt. Zehntausende weitere machten sich bald | |
| darauf auf den Weg ausgerechnet in das Land ihrer Mörder. In ihrer Heimat | |
| gab es nichts mehr, was sie noch halten konnte, keine Familienangehörigen, | |
| keine Wohnung, keinen Besitz, doch dafür häufig antisemitische Anfeindungen | |
| der christlichen Nachbarn, die sich längst dort eingerichtet hatten, wohin | |
| die Überlebenden zurückzukehren beabsichtigt hatten. | |
| Das besetzte Deutschland dagegen, namentlich die US-Zone in Bayern, bot die | |
| Vision eines Neuanfangs – in Palästina/Israel, den Vereinigten Staaten, | |
| Australien oder einem anderen Land, fernab der Killing Fields Osteuropas. | |
| Anfangs waren die Aussichten unklar und vage, doch das genügte den | |
| Menschen, um in die Lager der jüdischen Displaced Persons zu strömen, in | |
| die Landeshauptstadt München oder nach Cham, Tirschenreuth oder Schwandorf | |
| im Osten Bayerns. So entstanden in kurzer Zeit Dutzende Exilgemeinschaften, | |
| wartend auf eine neue Heimat. | |
| ## Bitten um Material über die Verfolgung | |
| Nicht warten sollte die Dokumentation des gerade erst während der | |
| NS-Verfolgung Erlittenen. Israel Kaplan, ein Historiker aus Riga und selbst | |
| dem Mord entronnen, erkannte die Notwendigkeit, die Augenzeugenberichte zu | |
| sammeln, bevor die Überlebenden in alle Herren Länder zerstieben. Im | |
| November 1945 war eine Historische Kommission beim Zentralkomitee der | |
| befreiten Juden in der US-Zone gegründet worden. | |
| Immer wieder forderte Kaplan die Menschen in der Zeitung Undzer Weg auf, | |
| Material über die Verfolgung zur Verfügung zu stellen. Schließlich gelang | |
| es ihm mit dem jüdisch-polnischen Buchhalter Moysche Faygenbogen, im August | |
| 1946 die Zeitschrift Fun letstn churbn zu gründen. | |
| Den Begriff „Holocaust“ gab es da noch nicht. Das Interesse der Deutschen | |
| war mehr als gering. Der Massenmord an den Juden war auch kein | |
| Aufgabengebiet von Historikern, sondern allenfalls von alliierten Juristen, | |
| die die Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher führten. Von der letzten | |
| Zerstörung sollte die Mordtaten dokumentieren, im Interesse des jüdischen | |
| Gedächtnisses. | |
| ## Subjektive Berichte, ungeordnet | |
| „Wir versteckten uns im Bunker. Wir lagen dort in großer Enge, und es gab | |
| kaum Luft zum Atmen. Es war sehr heiß, so dass alle ihre Kleider ausziehen | |
| mussten. Wir lagen dort mehrere Tage lang, bis die Deutschen uns | |
| entdeckten. Sie kamen in den Keller und fingen an zu schreien: ‚Alles | |
| raus!‘ Doch keiner antwortete ihnen. So warfen sie eine Handgranate.“ | |
| Dieser Bericht aus dem [2][Ghetto in Kaunas] stammt von Jakob Levin, | |
| Jahrgang 1932, und erschien in der Nummer 5 der Zeitschrift. Die Inhalte | |
| entsprachen nicht dem damaligen wissenschaftlichen Verständnis, denn das | |
| Blatt dokumentierte subjektive Berichte, ohne sie einzuordnen. | |
| Es kamen gar Kinder wie Levin zu Wort, es wurden Gedichte gesammelt, | |
| Ausdrücke aus den Lagern, ja sogar Lieder, die man auf Wachsschallplatten | |
| presste. Heute erscheint diese Vorgehensweise hochmodern, denn Kaplan und | |
| Faygenbogen gelang es, das Geschehen aus dem Blickwinkel der Augenzeugen | |
| der Katastrophe festzuhalten und damit Einblicke in deren Alltag zu bieten. | |
| ## 2.536 Zeugenberichte | |
| Von der letzten Zerstörung war mehr als eine Zeitschrift, es war ein | |
| Projekt. Die Aktivisten sammelten neben Augenzeugenberichten, Liedern und | |
| Gedichten auch Fotos, Befehle und Schriftstücke der Nazis, alltägliches | |
| Furchtbares, und längst nicht alles davon wurde gedruckt. Unmittelbar nach | |
| dem Krieg war es unmöglich, dieses Konvolut zu ordnen und in sinnvolle | |
| Unterkapitel zu gliedern. Auch fällt auf, dass sehr viele der Berichte aus | |
| Polen und dem Baltikum stammen, was zum Teil der Herkunft der Herausgeber | |
| geschuldet sein könnte. | |
| Am Ende hatte die Zentrale Historische Kommission gesammelt: 2.536 | |
| Zeugenberichte, 284 Lieder, Folklore und Gedichte, 1.081 Fotos, 1.932 | |
| Dokumente aus der Kriegs-, 176 aus der Vorkriegs- und 1.732 aus der | |
| Nachkriegszeit, ferner Filme, Bücher, museale Gegenstände und 423 | |
| Kinder-Fragebögen. All das Material ging an die Gedenkstätte Jad Vaschem in | |
| Jerusalem. Die Kommission aber löste sich auf, weil deren Mitglieder nach | |
| langer Wartezeit endlich in eine neue Heimat aufbrechen konnten. | |
| Dieses Material hat sich der Forschung und Publikation nur begrenzt | |
| erschlossen, weil es zum größten Teil auf Jiddisch in hebräischen Lettern | |
| verfasst worden ist, einer Sprache, die kaum mehr verwendet wird. Umso | |
| verdienstvoller ist es, dass Von der letzten Zerstörung endlich, nach mehr | |
| als 70 Jahren, in einer sorgfältig editierten deutschen Ausgabe vorliegt. | |
| 29 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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