| # taz.de -- Omer Bartov „Anatomie eines Genozids“: Stadt der Toten | |
| > Der Holocaustforscher Omer Bartov hat in Archiven das Morden in einer | |
| > Kleinstadt in Osteuropa recherchiert. Dabei hat er Unfassbares ans Licht | |
| > gebracht. | |
| Bild: Jüdische Überlebende aus Buczacz errichten ein provisorisches Mahnmal f… | |
| Erzähl mir von deiner Kindheit', sagte ich.“ Ich, das ist Omer Bartov, 1954 | |
| in Israel geboren, Professor für europäische Geschichte und deutsche | |
| Studien an der Brown University in Providence, Holocaustforscher. Die | |
| gemeinte Kindheit ist die seiner Mutter, und sie spielt in Buczacz in | |
| [1][Galizien] in einem Gebiet, das von Polen, Ukrainern und Juden besiedelt | |
| war. | |
| Das Gespräch fand 1995 in der Küche des Elternhauses in Tel Aviv statt. | |
| Nach diesem Gespräch wollte Bartov mehr über seine Vorfahren wissen. Dann | |
| über diese Kleinstadt, die Region, die Konflikte zwischen den Gruppen, | |
| schließlich den Judenmord durch die Deutschen an diesem Ort. Er befragte | |
| Überlebende, in den Archiven las er private Tagebücher, | |
| Augenzeugenberichte, Aussagen aus Gerichtsverfahren, veröffentlichte und | |
| unveröffentlichte Memoiren. | |
| Buczaczs berühmtester Sohn ist der Schriftsteller Samuel Josef Agnon, der | |
| 1966 den Literaturnobelpreis erhielt und über die „Stadt der Toten“ | |
| geschrieben hat. Aus Bartovs Familiengeschichte ist ebenfalls eine | |
| Geschichte von Buczacz geworden – mit dem Fluchtpunkt des Massenmords der | |
| deutschen Besatzer ab 1941, der alles überschattet, was vorher bereits an | |
| Gewaltverbrechen geschehen war. | |
| Dem Historiker kommt es durchaus darauf an, das konfliktreiche und blutige | |
| Neben- und Gegeneinander zwischen Polen, Ukrainern und Juden | |
| multiperspektivisch auszuleuchten und das Zusammenspiel von Strukturen, | |
| menschlichen Handlungen und Zufällen in dieser Anatomie des Genozids zu | |
| betonen. | |
| ## Antisemitische Ideologie | |
| Bartov ist insofern ein „Situationist“, der betont, dass es immer konkreter | |
| Möglichkeitsräume bedarf, damit ein Mensch zum Gewalttäter und Mörder wird | |
| (und nicht nur Strukturen oder Ideologien). Er weiß allerdings auch, welch | |
| große Rolle die antisemitische Ideologie [2][beim Holocaust], aber auch | |
| bei den ethnischen Konflikten in Galizien gespielt hat. | |
| Bartov schildert die Gemengelage zwischen Polen, Ukrainern und Juden, bevor | |
| die Deutschen kamen. Besonders mit dem Ersten Weltkrieg explodierten die | |
| Konflikte und vergifteten die Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen, | |
| die zu Volksgruppen wurden. Die Polen waren die dominante, aber die | |
| Ukrainer nutzten jede Gelegenheit, die Lage zu ihren Gunsten zu ändern. Die | |
| jüdische Minderheit hatte mit diesem Bruderkrieg wenig zu tun, aber sie | |
| wurde immerzu verdächtigt, auf der Seite des Feindes zu stehen. | |
| Keine schöne Geschichte, eben die übliche hässliche des Nationalismus, in | |
| der Vorurteile, Hass, Gewalt gedeihen, die wiederum neuen Hass, bösartige | |
| Propaganda und noch exzessivere Gewalt erzeugen, die zwischen den Gruppen | |
| zur Normalität wird – Polen gegen Ukrainer und beide gegen Juden. Und dann | |
| kamen die Nazideutschen – und aus Vorurteil, Hass, Gewalt entstand die | |
| Hölle, eine von den Deutschen organisierte Hölle. | |
| Über dieses Buch kann man keine Rezension schreiben in der Art: Das Buch | |
| ist gut komponiert und flüssig geschrieben, es stützt sich auf Umsicht und | |
| scharfe Analyse. All das ist so. Aber was Bartov in dieser „Anatomie eines | |
| Genozids“ schildert, ist bloß zu zitieren. Man kann die Kapitel „Die | |
| deutsche Ordnung“ oder „Der Alltag des Völkermords“ an jeder beliebigen | |
| Stelle aufschlagen und wird mitten hineingezogen in dieses Inferno, in dem | |
| fast 60.000 Juden innerhalb von nur neun Monaten getötet wurden – und zwar | |
| aus der Bodenperspektive. | |
| ## Materielle Vorteile als Anreiz | |
| Aber auch schon das Fazit aus etwas Abstand macht fassungslos: „Bei der | |
| Durchführung des Völkermords band die Dienststelle [der Sicherheitspolizei] | |
| praktisch alle anderen verfügbaren deutschen Institutionen und alle | |
| einheimischen Bevölkerungsgruppen ein. Meist geschah dies durch konkrete | |
| Anreize in Gestalt materieller Vorteile und einer Statusverbesserung; die | |
| Vertreter des Judenrats und OD-Mitglieder [jüdischer Ordnungsdienst] wurden | |
| durch einstweilige Stundung des Lebens vergütet. | |
| Das wohl Ungeheuerlichste an diesem Unternehmen, von dem immensen | |
| Blutvergießen abgesehen, ist, wie verblüffend leicht es sich ausführen ließ | |
| und wie sehr die Mörder samt Ehepartnern und Kindern, Geliebten, Kollegen, | |
| Freunden und Eltern ihren kurzen blutrünstigen Aufenthalt in der Region | |
| offenkundig genossen. Für viele von ihnen war diese Zeit eindeutig der | |
| Höhepunkt ihres Lebens: Lebensmittel, Alkohol, Tabak und Sex standen ihnen | |
| fast unbegrenzt zur Verfügung. Vor allem aber waren sie die | |
| uneingeschränkten Herrscher über Leben und Tod. Als sie ihr Werk verrichtet | |
| hatten, packten sie einfach ihre Sachen und gingen. Oft kehrten sie in ihre | |
| früheren Berufe zurück, als wäre nichts gewesen.“ | |
| Überflüssig zu erwähnen, dass kaum jemand der Täter mit einem Schuldgefühl | |
| weiterlebte. Und auch, dass Polen und Ukrainer sich weiter befehdeten, | |
| nachdem die Deutschen und die Juden weg waren. Beide Bevölkerungsgruppen | |
| stellten sich nach dem Krieg als die eigentlichen Opfer der | |
| Besatzungsmächte dar (auch die Sowjets waren vor und nach den Deutschen | |
| dort). | |
| Was in Buczacz im Einzelnen passiert ist, wie dieser Tatort zur Stadt der | |
| Toten wurde, wie sich Nationalitätenkonflikte und Nachbarschaftsstreit, | |
| antisemitischer Wahn und menschliche Niedrigkeit in diesem Gewaltraum | |
| entzünden, ist schwer zu ertragen. Ich konnte die Lektüre kaum aushalten. | |
| In jedem Fall ist es aber gut zu wissen, was man nicht aushalten kann. Man | |
| sollte es eigentlich auch gar nicht aushalten. Aber dafür muss man es | |
| wissen. | |
| 3 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Zwangsarbeit-in-Galizien/!5622019 | |
| [2] /Holocaust/!t5007706 | |
| ## AUTOREN | |
| Jörg Später | |
| ## TAGS | |
| Holocaust | |
| NS-Literatur | |
| Galizien | |
| Juden | |
| Genozid | |
| GNS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Holocaust | |
| Holocaust | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die jüdische Geschichte der Ukraine: Wir müssen die Ukraine verteidigen | |
| Der israelische Historiker mit galizischen Wurzeln Omer Bartov über Krieg | |
| und Frieden und die Fragen: Wem gehört das Land? Und wer darf dort wohnen? | |
| Ausstellung „Der kalte Blick“: Bilder der Ermordeten | |
| Im „Dritten Reich“ stand die Wissenschaft im Dienst von Massenmördern. | |
| Davon erzählt eine Ausstellung in der Berliner Topographie des Terrors. | |
| Zeitschrift über Gräuel der Nazis: Augenzeugen berichten | |
| Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten osteuropäische Juden eine Zeitschrift, | |
| die Nazi-Gräuel dokumentierte. Jetzt ist sie auf Deutsch erschienen. | |
| Zwangsarbeit in Galizien: Jozef und seine Helfer | |
| Straßenbau für die Wehrmacht, Überleben im Versteck: Um den Holocaust in | |
| Galizien geht es in einer Ausstellung in Berlin. |