# taz.de -- Ausstellung „Der kalte Blick“: Bilder der Ermordeten | |
> Im „Dritten Reich“ stand die Wissenschaft im Dienst von Massenmördern. | |
> Davon erzählt eine Ausstellung in der Berliner Topographie des Terrors. | |
Bild: Dora Maria Kahlich (stehend) bei der anthropologischen Arbeit, 1933/34 im… | |
Es sind Hunderte Fotos. Sie sind klein, schwarz-weiß und alle im | |
Hochformat. Die darauf abgebildeten Menschen sind nach einem festgelegten | |
Standard fotografiert worden: von vorne, in der Drittelansicht, im Profil | |
und frontal mit dem Kopf in den Nacken gelegt. Man kann die Bilder sehen, | |
aber nicht genauer betrachten. Denn ein Podest macht es unmöglich, die | |
schmalem, schwarz ausgekleideten Gänge zu betreten, an deren Wänden die | |
Fotos ausgestellt sind. | |
Das ist kein museumspädagogischer Schnickschnack, sondern dient dazu, die | |
Würde dieser Menschen zu bewahren. Kaum einer der Abgebildeten – Frauen, | |
Männner, Kinder – hätte um eine Erlaubnis zur öffentlichen Ausstellung | |
ihres Konterfeis gefragt werden können. | |
Sie sind tot, fast alle 631 Personen, ermordet, nur wenige Monate nachdem | |
sie sich hatten fotografieren lassen müssen. Sie sind Juden aus der | |
polnischen Kleinstadt Tarnów, gelegen östlich von Krakau, und die in der | |
[1][Berliner Topographie des Terrors] ausgestellten Fotos beweisen, wie | |
Wissenschaft Massenmördern zuarbeiten kann – und umgekehrt. | |
Die Bilder stehen im Mittelpunkt einer sorgfältigen Ausstellung, die | |
einerseits zeigt, welcher Irrsinn als Wissenschaft durchgehen kann, wenn | |
die Macht- und Denkverhältnisse es nahelegen. Andererseits stellt die Schau | |
eine Reminiszenz an die untergegangene Welt der Juden der Kleinstadt dar. | |
Schließlich verweist sie auf die Täter: die vorgeblichen | |
Wissenschaftlerinnen, der Fotograf und die Mörder selbst. | |
## Suche nach „typische Rassenmerkmalen“ | |
Es war Herbst 1941, [2][Polen seit zwei Jahren von den Deutschen besetzt]. | |
Bei den Nazis reiften die Pläne einer physischen Vernichtung der Juden in | |
dem Gebiet, das sie als „Generalgouvernement“ bezeichnet hatten und zu dem | |
Tarnów gehörte. | |
Zu diesem Zeitpunkt machten sich die Wiener Anthropologinnen Dora Maria | |
Kahlich und Elfriede Fliethmann auf, um mit freundlicher Unterstützung des | |
Deutschen Instituts für Ostarbeit in Krakau und unter tätiger Mithilfe der | |
örtlichen SS „typische Rassenmerkmale“ sogenannter Ostjuden zu | |
dokumentieren und ihrer Forschung mithilfe der Fotos dienlich zu machen. | |
Sie fuhren nach Tarnów, einer Stadt von 25.000 Einwohnern, etwa die Hälfte | |
davon Juden. | |
„Eines Tages mussten wir zu den Deutschen zum Fotografieren gehen. Ich kann | |
mich nicht mehr genau erinnern. Sie nahmen uns alle nackt auf.“ Rachela | |
Goldstein (1922–2017) zählte zum Kreis der insgesamt 26 Überlebenden dieser | |
abscheulichen Bildergalerie. Margit Berner ist es in jahrelanger Arbeit | |
gelungen, einige von ihnen und ihre Nachfahren zu kontaktieren. | |
## Bilder der unbekannten Großeltern | |
Simon Engelhardt, der Sohn von Rachela Goldstein-Engelhardt, schreibt: „Es | |
ist unglaublich, von meinen Großeltern, Tanten und Onkeln, die ich nie | |
zuvor gesehen habe, Fotos in Händen zu halten.“ So haben diese von dem | |
Fotografen Rudolf Dodenhoff gemachten Bilder, angefertigt zum | |
wissenschaftlichen Beleg von Rassismus und Antisemitismus, doch noch einen | |
Sinn gewonnen. | |
Vor allem aber zeigen die Umstände ihres Zustandekommens, wie Wissenschaft | |
funktionieren kann. Rassistische Vorstellungen waren schon in den 1920er | |
Jahren tief in die Anthropologie eingedrungen, „Rassenlehre“, die nach | |
„Herrenrasse“ und „Unterrassen“ forschte, galt an einigen deutschen | |
Institutionen als seriöse Wissenschaft. So richtig blühte das Geschäft | |
dieser Rassisten aber erst mit der Machtübernahme durch die | |
Nationalsozialisten auf. „Rassenkunde“ avancierte nun zur ideologischen | |
Grundlage des Staates, schon Schulkinder sollten lernen, zwischen „Rassen“ | |
zu unterscheiden. | |
Goldene Zeiten für die Anthropologinnen Dr. Dora Maria Kahlich und Dr. | |
Elfriede Fliethmann, zumal ihre Chefs zur Wehrmacht eingezogen worden waren | |
und damit einer Karriere wenig im Wege stand. | |
„Übrigens könnten wir ruhig noch einmal ein paar Tage nach Tarnów fahren | |
und das Material vervollständigen. Die Fleischtöpfe Tranós müssten Sie doch | |
auch locken“, schrieb Fliethmann am 13. Mai 1942 an Kahlich, wohl wissend, | |
dass es für Juden in dieser Stadt kein Fleisch mehr gab – stattdessen | |
Enteignung, Kennzeichnung, Plünderung, Verelendung und Mord. „In Galizien | |
kann ich auch keine Juden mehr untersuchen. Von den Tarnówern sind im | |
Ganzen noch 8.000 da. Unser Material hat also heute schon Seltenheitswert“, | |
schrieb sie Anfang Oktober 1942, durchaus informiert, dass mit dem | |
Einsetzen der „Aktion Reinhardt“ der Massenmord an den polnischen Juden | |
begonnen hatte. | |
Eine „wissenschaftliche“ Auswertungen der „Forschungen“ von Tarnów kam | |
infolge der Kriegsereignisse nicht mehr zustande. Die Papiere und Fotos des | |
Projekts verschwanden in Archiven in Krakau, Berlin, Wien und Washington, | |
D. C. | |
Von den Tarnówer Juden überlebten nur sehr wenige. Die meister der Mörder | |
wurden niemals verfolgt. Dora Maria Kahlich, seit 1932 Mitglied der NSDAP, | |
wurde nach dem Krieg aus dem Universitätsdienst entlassen und arbeitete als | |
gerichtsmedizinische Gutachterin für umstrittene Vaterschaften. Sie starb | |
65-jährig 1970 in Wien. Elfriede Fliethmann, auch sie NSDAP-Mitglied, wurde | |
Sozialpädagogin in Westberlin. Sie verstarb 1987. | |
2 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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