Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Takis Würgers neues Buch „Noah“: Hier ist ein Überlebender
> Takis Würgers „Noah“ erzählt die Geschichte des Auschwitz-Überlebenden
> Noah Klieger. Sie basiert auf langen Interviews.
Bild: Der Auschwitz-Überlebende Noah Klieger mit Autor Takis Würger in Tel Av…
Ich erinnere mich sehr genau an die Szene. Vor Beginn des [1][Prozesses
gegen den SS-Gehilfen im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk], hatte
die Münchner Justiz, von jeglichen historischen Analogien unbeeindruckt,
entschieden, die akkreditierten Journalisten frühmorgens in einem
„Sammelzone Demjanjuk“ genannten, mit Absperrgittern abgetrennten Pferch
stundenlang warten zu lassen. Als die Türen des Gerichtsgebäudes an jenem
grauen Herbsttag im Jahr 2009 endlich geöffnet wurden, entstand ein großes
Gedränge, weil jeder wusste, dass die Plätze des Saals niemals für all die
Wartenden ausreichen würden. Es ging weder vor noch zurück. Das
Sicherheitspersonal am Eingang arbeitete unerträglich langsam.
Da erschollen Rufe unter den Kollegen. „Hier ist ein Überlebender“, riefen
sie. Schnell bildete sich eine offene Gasse. Durch dieses Spalier schritt
aufrecht ein kleiner Mann mit grauen Haaren, damals schon weit über siebzig
Jahre alt. Es war Noah Klieger.
Diese Szene findet sich in wenigen Worten zusammengefasst in einem Buch
wieder, das sich mit Fug und Recht als Vermächtnis für diesen
bemerkenswerten Menschen bezeichnen lässt. Geschrieben hat es der
Spiegel-Redakteur Takis Würger, der mit seinem Roman „Stella“ über die
gleichnamige Jüdin, die im Berlin der 1940er Jahre als Gestapo-Spitzel
tätig war, nicht sehr angenehm aufgefallen ist.
Nun also das nächste Buch, wieder nur mit einem Vornamen betitelt – „Noah�…
Doch dieses Buch ist ganz anders als das Buch zuvor. Es erzählt die
Geschichte von Noah Klieger, der als Jugendlicher im Widerstand in Belgien
kämpfte, um jüdische Kinder in die Schweiz zu retten, der geschnappt und
nach Auschwitz verschleppt wurde, dort den Torturen widerstand, den
Todesmarsch im Jahr 1945 überlebte und von sowjetischen Soldaten in einem
Lager in Brandenburg befreit wurde.
## Ein einfaches Buch
Es berichtet von seiner illegalen Überfahrt in einem Flüchtlingsschiff nach
Palästina, von der feindlichen Übernahme der „Exodus“ durch britische
Soldaten, vom Moment der Todesangst nach seinem Sprung in die See und
schließlich der Karriere Noah Kliegers als Journalist in Israel. Es endet
mit seinem Tod im Jahr 2018.
Es ist ein einfaches Buch. Sein Autor spekuliert nicht über die Geschichte,
er versagt sich feuilletonistischen Sprachbildern und er enthält sich
unbewiesener Interpretationen. Würger schreibt getreulich auf, was Klieger
ihm in wochenlangen Interviews berichtet hat und ergänzt diese sehr
persönliche Geschichte mit Recherchen über die historischen Ereignisse und
die von Klieger genannten Protagonisten.
Würger schreibt in einfachen und unverschlungenen Sätzen, ohne jede
Verschachtelung. Er widersteht der Versuchung, einen Spannungsbogen zu
konstruieren und unternimmt keine unnötigen literarischen Umwege. Er
zitiert Klieger, seine Mitgefangenen, Freunde und die Mörder wörtlich, aber
es bleibt deutlich genug, dass es sich um Erinnerungen handelt, in denen
dieser oder jener Satz vielleicht etwas anders gefallen sein könnte. Es
handelt sich um das klassische Beispiel eines Berichts.
Es ist aber auch ein sehr schweres Buch, und das im doppelten Sinne. Denn
Klieger – und damit auch Würger – sehen keine Veranlassung dafür, die
entsetzlichen Details aus Auschwitz nicht so zu schildern, wie sie waren.
Und das bedeutet, die Unerträglichkeit des Daseins in diesem Lager, dessen
Existenz auf der massenhaften Vernichtung von Menschen beruhte, unmittelbar
an den Leser heranzuführen. Und dies wiederum nicht als eine
Gruselgeschichte aus längst vergangener Zeit, sondern so, dass das Lesen
schwerfällt angesichts der geschilderten Folterungen und Morde, der
Allmacht der SS, der Erniedrigungen ihrer Gefangenen und des in den meisten
Fällen vergeblichen Kampfs dieser Gefangenen um ihr Leben.
Die gerade und unprätentiöse Sprache des Buchs macht die Lektüre umso
unerträglicher – aber auch getreulicher und wahrhaftiger. Für Kinder ist
das Buch nicht geeignet.
Zum Zweiten ist „Noah“ auch deshalb ein schweres Buch, weil sein Autor den
Versuch unternimmt, die Erinnerungen eines Zeitzeugen und die Probleme der
Oral History sauber voneinander zu trennen. Denn, wie sollte es auch anders
sein, Erinnerungen eines Menschen sind rudimentär. Jeder kann sich auch
einmal falsch erinnern, und es gibt, wie Würger schreibt, im Falle von
Holocaust-Überlebenden nicht immer zweite und dritte Quellen, die eine
Darstellung bestätigen oder widerlegen können.
Deshalb schreibt Würger auf 150 Seiten die Geschichte von Noah Klieger so
getreulich auf, wie er sie ihm erzählt hat, ergänzt aber diesen Bericht um
einige Zweifel an dieser Darstellung, die zwar nur Details betreffen, aber
dennoch der Erwähnung wert sind, etwa was Kliegers Häftlingsnummer und
seine Begegnung mit dem Auschwitz-Arzt Josef Mengele betrifft. Das Buch
vertieft diese Problematik mit einem klugen Essay von Sharon Kangisser
Cohen, der Chefredakteurin der Yad Vashem Studies.
Und zuletzt ist dieses Buch eine notwendige Erinnerung an die Geschichte
nach dem Holocaust, die heute in Vergessenheit zu fallen droht. Würger
schildert durch Noahs Stimme, was geschah, als die überlebenden Juden zwar
befreit worden waren, ihnen aber nicht zugestanden wurde, in Freiheit in
dem neuen Staat Israel leben zu dürfen. Noah Klieger war zeit seines Lebens
Zionist, und deshalb zählt es zum Vermächtnis dieses Mannes, dass Würger
nicht nur einmal die Hatikva, die Hymne Israels, zitiert: „So lange im
Herzen eine jüdische Seele wohnt, so lange ist unsere Hoffnung nicht
verloren, die uralte Hoffnung, ins Land unserer Väter zurückzukehren.“
Bücher über Auschwitz, Sobibor, Belzec, Treblinka und die weiteren
NS-Vernichtungslager füllen ganze Bücherschränke. Viele Überlebende
[2][haben selbst Zeugnis darüber abgelegt], was dort geschehen ist. Man
könnte also meinen, über dieses Kapitel deutscher und europäischer
Geschichte sei ausreichend geschrieben und geforscht worden.
Aber jeder Mensch hat ein individuelles Leben und Schicksal. Jeder, der die
Nazi-Verfolgung überlebt hat, hat eine andere Geschichte und er oder sie
kann mit seiner Geschichte zugleich an all diejenigen erinnern, die
ermordet worden sind. Genau dies hat Noah Klieger zeit seines Lebens getan,
auch in Begegnungen mit deutschen Schülerinnen und Schülern. Takis Würger
führt diese Aufgabe mit seinem bemerkenswerten Buch fort.
Klaus Hillenbrand hat mehrere Bücher über [3][jüdische Schicksale] während
der NS-Verfolgung verfasst.
1 Mar 2021
## LINKS
[1] /Demjanjuk-Prozess/!5150583
[2] /Primo-Levi-warnte-vor-neuem-Faschismus/!5609969
[3] /Holocaustueberlebende-in-der-Pandemie/!5723734
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Literatur
zionismus
Auschwitz
Nachruf
Holocaust
Literatur
Schwerpunkt Rassismus
Virtual Reality
Ermittlungen
Lesestück Recherche und Reportage
Judenverfolgung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nachruf auf Inge Deutschkron: Die Unbeugsame
Von den Nazis verfolgt, im Untergrund überlebt, niemals bequem: Die
Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron ist mit 99 Jahren verstorben.
Shoah-Gedenken bald ohne Überlebende: Die letzten ZeugInnen
Mit Esther Bejarano ist kürzlich eine der letzten Shoah-Überlebenden in
Hamburg gestorben. Das wird die Gedenkkultur weiter verändern.
Buch „Die Kinder von Teheran“: Der lange Weg der Flucht
Von der Flucht jüdischer Kinder in den Iran ist bisher wenig bekannt.
Mikhal Dekel hat darüber ein fesselndes Buch geschrieben.
Ausstellung „Der kalte Blick“: Bilder der Ermordeten
Im „Dritten Reich“ stand die Wissenschaft im Dienst von Massenmördern.
Davon erzählt eine Ausstellung in der Berliner Topographie des Terrors.
Erinnerung an NS-Zeit aufrechterhalten: Auschwitz ohne Zeugen
Ein Onlinegespräch über neue Perspektiven der Erinnerungskultur. Mit
Charlotte Knobloch, Gabriele Hammermann und David Schiepek.
Verbrechen gegen russische Gefangene: Wehrmacht im Justizvisier
Auf bis zu 2.000 ehemalige Soldaten könnten Ermittlungen zukommen. Sie
waren unter anderem Wachmänner in Lagern für sowjetische Kriegsgefangene.
Holocaustüberlebende in der Pandemie: Wenn die Vergangenheit zurückkehrt
Walter Frankenstein träumt wieder von der Verfolgung. Bella
Szwarcman-Czarnota hat Angst. Überlebende des Holocausts trifft die
Pandemie doppelt.
Buch über jüdische Greiferin neuaufgelegt: Überleben in Berlin
Stella Goldschlag meldete der Gestapo Verstecke anderer jüdischer Menschen.
Peter Wyden lernte sie in der Schule kennen und beschreibt sie.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.