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# taz.de -- Shoah-Gedenken bald ohne Überlebende: Die letzten ZeugInnen
> Mit Esther Bejarano ist kürzlich eine der letzten Shoah-Überlebenden in
> Hamburg gestorben. Das wird die Gedenkkultur weiter verändern.
Bild: Kämpferin gegen den Faschismus: Gedenkminute im St. Pauli-Stadion zum To…
Hamburg taz | Mit jedem Menschen stirbt eine Geschichte. Zeithistorisches
und familiäres Wissen geht verloren, und nicht zufällig beginnen Kinder
irgendwann, die betagten Eltern noch dies und jenes zu fragen, Notizen zu
machen, alte Fotos zu horten. Und wenn schon diese Privatgeschichten so
bewahrenswert sind – um wie viel mehr sind es jene der Shoah-Überlebenden,
die den Massenmord des NS-Regimes bezeugen können, jedenfalls aus
subjektiver Sicht?
Denn dass Holocaust-Überlebende weder fähig noch verpflichtet sind,
historisch exakt zu berichten, ist der Forschung klar. Es sind Quellen, die
man so kritisch betrachten muss wie jede andre. Aber die Erfahrung dieser
Menschen ist unanfechtbar, ihr Körper hat das Grauen gespeichert, von dem
die [1][TäterInnen] nicht wollten, dass es jemand überlebte – aus
rassistischer Ideologie und damit es keine Zeugen für die Nachwelt gäbe.
Es gab und gibt sie. Viele haben geschwiegen, einige öffentlich gesprochen,
teils nach Jahrzehnten, weil sie merkten, dass es wichtig war. Weil sie
hofften, durch den Dialog mit der jüngeren Generation einer Wiederholung
vorzubeugen. Wir alle hatten uns daran gewöhnt, darauf vertraut, dass sie
im Hintergrund waren und ihre Stimme erhoben, wenn Antisemitismus,
Rassismus, Geschichtsrevisionismus aufkamen.
Aber diese Sicherheit bröckelt. Die hochbetagten ZeitzeugInnen sterben, und
bald wird niemand mehr da sein, der die KZ bewusst, das heißt als
Erwachsener erlebte. Vor wenigen Wochen ist in Hamburg mit [2][Esther
Bejarano] eine der letzten prominenten Überlebenden gestorben. Ihr letzter
Appell an die MitstreiterInnen des von ihr mit initiierten
Auschwitz-Komitees: „Macht weiter! Erhebt eure Stimme!“
## Der Schutzschirm wird fehlen
Das werden sie tun, aber es ist nicht dasselbe. Denn die meisten entstammen
einer anderen Generation und haben nicht die moralische Autorität der
Überlebenden. Das werde die Erinnerungskultur schwächen und das
gesellschaftspolitische Klima verändern, sagt Jens Christian Wagner,
einstiger Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen und heute Direktor der
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. „Die Überlebenden
haben immer eine Art Schutzschirm über die Erinnerungskultur gespannt“,
sagt er. Die Befassung mit dem Nationalsozialismus sei die Folie gewesen,
vor deren Hintergrund Demokratie und Menschenrechte verhandelt worden
seien. „Deshalb war Deutschland bis vor einigen Jahren stärker gegen den
weltweit grassierenden Rechtspopulismus gefeit als andere Länder.“
Aber diese Folie werde rissig, und das Bewusstsein für die Relevanz der
Erinnerungskultur werde weiter schwinden. „Schon jetzt erlebe ich bei
jüngeren Politikern eine,Was geht mich das an'-Haltung. Auch die Angriffe
auf die Erinnerungskultur werden sich verstärken“, sagt Wagner. Er nennt
die AfD, aber auch rechte [3][Provokateure] in SchülerInnengruppen, auf
deren Fragen sich die Gedenkstätten-Guides inzwischen gezielt vorbereiten.
Er meint auch die „Querdenker“, die Coronaregeln mit der NS-Diktatur
vergleichen.
Was also tun ohne die Überlebenden? Wer wird künftig vor SchülerInnen
sprechen, wer PolitikerInnen und RassistInnen die Leviten lesen? Ihre
Kinder haben nicht dieselbe Autorität. Oft können sie nicht einmal viel
über die Erfahrungen der Eltern sagen, die vielfach über das Erlittene
schwiegen. Immerhin wissen sie, wie es war, mit Eltern aufzuwachsen, die
ihre Traumata unterschwellig an die nächste Generation weitergaben. Und sie
können von einer Jugend im immer noch antisemitischen Nachkriegsdeutschland
erzählen.
Berichte aus erster Hand aber können die Nachfolgegenerationen nicht
ersetzen – auch wenn sich die Überlebenden nicht immer korrekt erinnern.
„Die wichtigsten Quellen sind für mich diejenigen, die direkt nach der
Befreiung 1945 entstanden“, sagt Wagner. „Das Interview mit Anita
Lasker-Walfisch zwei Tage nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen. Oder die
ZeugInnenvernehmungen bei den frühen [4][KZ-Prozessen] der Alliierten.“
## Erzählungen verändern sich
Später hätten sich die Erzählungen verändert. Da habe sich Angelesenes über
die Erinnerung gelagert, das kanonisierte Erzählen der „professionellen
Zeitzeugen“ im immer gleichen Wortlaut habe eingesetzt.
Linde Apel, Leiterin der Werkstatt der Erinnerung an Hamburgs
Forschungsstelle für Zeitgeschichte, findet das verständlich. „Man muss
bedenken, dass sich Überlebende immer wieder in eine öffentliche,
hochgradig künstliche Situation begeben. Sie treten einer unbekannten
Schülergruppe gegenüber, deren Haltung sie nicht kennen“, sagt Apel. „Und
diese ZeitzeugInnen wollen, dass man ihnen zuhört. Wenn sie bemerken,
welche Geschichten gut funktionieren, wiederholen sie sie eben.“
Genau dieses Zuhörenwollen sei auch direkt nach 1945 das Problem gewesen:
„Die deutsche Nachkriegsgesellschaft ist den Überlebenden zunächst mit
Misstrauen begegnet. Einerseits hat man sich gefragt, was sie getan haben,
um zu überleben. Andererseits hatte man ein schlechtes Gewissen und wollte
nichts von der Vergangenheit hören.“ Aber je älter und rarer die
ZeitzeugInnen wurden, desto relevanter wurden sie.
Und sie hinterließen Spuren: Tagebücher, Briefe, so genannte
„Ego-Dokumente“, wie [5][Elke Gryglewski] es nennt. Sie war bis Ende 2020
Co-Chefin der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ und leitet seither
die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen. „Wenn man SchülerInnen aus Dokumenten
von Überlebenden vorlesen lässt, kann das große Nähe und Empathie
erzeugen.“ Wobei es ein Irrtum sei zu glauben, dass ein einzelner
Gedenkstättenbesuch etwas an der Haltung eines rechts gesinnten
Jugendlichen ändere. Dafür brauche man pädagogisch ausgefeilte
Langzeitprojekte.
Einen eigenwilligen Versuch, Shoah-Überlebende unsterblich zu machen, haben
die Shoah Foundation, das Institute for Visual History and Education sowie
das Institute for Creative Technologies an der University of Southern
California in Los Angeles gewagt. In Zuge Ihres Projekts „New Dimensions in
Testimony“ haben sie Überlebende interviewt, gefilmt und 3-D-Hologramme
erstellt.
Nun sitzen sie, „live eingeblendet“, auf einem Sessel inmitten einer
SchülerInnengruppe und antworten per Spracherkennung auf deren Fragen.
Sofern sie zu den konservierten Antworten passen. Es wirkt gespenstisch,
diese Menschen quasi aus dem Jenseits sprechen zu hören. Ob die Generation
der Digital Natives diese Virtual Reality als authentisch empfindet – es
wird sich zeigen.
27 Aug 2021
## LINKS
[1] /Anklage-wegen-Beihilfe-zum-Mord/!5785940
[2] /Auschwitz-Ueberlebende-gestorben/!5781034
[3] /Gedenkstaetten-Chef-ueber-Provokateure/!5654717
[4] /Zu-wenige-Prozesse-gegen-Nazis/!5752123
[5] /Elke-Gryglewski-ueber-Shoah-Gedenken/!5705762
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Holocaust
Shoa
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NS-Literatur
Erinnerungskultur
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Schwerpunkt Nationalsozialismus
NS-Verfolgte
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