# taz.de -- Elke Gryglewski über Shoah-Gedenken: „Auch auf die Täter schaue… | |
> Elke Gryglewski wechselt bald als Chefin an die KZ-Gedenkstätte | |
> Bergen-Belsen. Ein Gespräch über ihre Arbeit auch mit Opfern der Colonia | |
> Dignidad. | |
Bild: Bislang vor allem als Ort der Opfer präsentiert: KZ-Gedenkstätte Bergen… | |
taz: Frau Gryglewski, warum arbeiten Sie als Mitarbeiterin einer | |
NS-Gedenkstätte auch mit Gewaltopfern aus Südamerika? | |
Elke Gryglewski: Weil ich aufgrund meiner Biographie Beziehungen dorthin | |
habe. Ich habe vom sechsten bis zum 15. Lebensjahr als Tochter eines | |
Auslandspfarrers der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)unter Banzers | |
Militärdiktatur in Bolivien gelebt. | |
Haben Sie diese Diktatur am eigenen Leibe gespürt? | |
Eigentlich war ich dafür zu jung. Einmal allerdings – ich war ungefähr 14 | |
Jahre alt – war ich mit einer Freundin auf dem Weg ins Kino. Dabei gerieten | |
wir in eine Demonstration. Als das Militär zu sehen war, rief meine | |
Freundin: „Renn!“ Da hatte ich wirklich das Gefühl, ich renne um mein | |
Leben. | |
Hatten Sie auch Kontakt zu den Einheimischen? | |
Ja. Wir lebten in La Paz nicht im Reichenviertel, sondern in einem ganz | |
normalen Viertel in der Stadtmitte. Natürlich war ich eng mit der deutschen | |
Kolonie verbunden, aber ich hatte auch bolivianische Freunde. Am stärksten | |
hat mich geprägt, dass ich dort auf Altnazis wie den Kriegsverbrecher | |
[1][Klaus Barbie] traf, aber auch jüdische Emigranten kennenlernen durfte. | |
Sie kannten Klaus Barbie? | |
Nicht persönlich, aber er hatte meinen Vater im Blick. Barbie arbeitete für | |
das Innenministerium. Als mein Vater 1977 mit meiner Schwester und mir nach | |
Deutschland reisen wollte, glaubte Barbie, dass mein Vater als Pfarrer | |
Belege für Menschenrechtsverletzungen dabei haben würde. Barbie hat | |
versucht, unsere Reise zu verhindern und war an unserem Abreisetag am | |
Flughafen. Da hat meine Mutter ihn mir gezeigt. | |
In Deutschland waren Altnazis damals kaum Thema. | |
Nein. Als wir 1979 zurückkamen, sah ich, wie wenig Interesse es hier an der | |
Nachkriegsgeschichte der NS-Täter gab. Für mich war es ein Grund, mich in | |
der Gedenkstättenarbeit zu engagieren und später auch Kontakte zu | |
südamerikanischen Holocaust-Gedenkstätten zu knüpfen. Gerade in | |
post-diktatorischen Ländern interessiert man sich sehr dafür, wie | |
Deutschland mit seiner Vergangenheit umgeht. Dieses Thema hat mich seit den | |
2000ern oft nach Chile und Argentinien geführt. So ist das Auswärtige Amt | |
wohl auf mich aufmerksam geworden und hat gefragt, ob ich Seminare mit | |
Opfern der Colonia Dignidad betreuen würde. Inzwischen auch mit dem Ziel, | |
eine Gedenkstätte aufzubauen. | |
Wie würden Sie die Colonia Dignidad charakterisieren? | |
Es war eine Sekte aus einstigen Mitgliedern einer freikirchlichen Gemeinde | |
um den Jugendpfleger Paul Schäfer. Dazu kamen Vertriebene. Schäfer musste | |
sich 1961 absetzen, weil er wegen sexuellen Missbrauchs gesucht wurde. Mit | |
seinen Leuten gründete er im Süden Chiles eine Siedlung, die als | |
[2][Colonia Dignidad] bekannt wurde und heute Villa Baviera heißt. | |
Ein Ort brutaler Verbrechen. | |
Ja, und zwar in Form physischer und psychischer Gewalt, die Schäfer sowohl | |
an den eigenen Leuten übte als auch – ab der Militärdiktatur in den | |
1970er-Jahren – an chilenischen Oppositionellen, die dort gefoltert oder | |
ermordet wurden oder „verschwanden“. Außerdem raubte Schäfer chilenische | |
Kinder und missbrauchte sie. Andere wurden entführt und von der Colonia | |
„adoptiert“. Es gibt viele Opfergruppen. | |
Die Sie seit 2014 in Seminaren zusammenbringen. | |
Ja. Hintergrund ist ein Bundestagsbeschluss über einen Hilfsfonds für die | |
Opfer und den Aufbau einer Gedenkstätte. Für Letzteres wurden zwei | |
chilenische Experten berufen sowie Herr Wagner, Noch-Chef in Bergen-Belsen, | |
und ich. Zwischen 2014 und 2019 haben wir fünf Seminare, teils in Chile, | |
teils im Haus der Wannsee-Konferenz, mit Angehörigen aller Opfergruppen | |
abgehalten. | |
Wie verlaufen diese Treffen? | |
Sie dienen dazu, Gespräche zwischen den Gruppen zu fördern, damit sie | |
gemeinsame Wünsche in Bezug auf eine Gedenkstätte formulieren können. Das | |
ist komplex, denn zu den Opfern gehören auch jetzige und einstige Bewohner | |
der Colonia. Viele von ihnen sind im – das NS-Regime verharmlosenden – | |
bundesrepublikanischen Diskurs der 1950er-Jahre steckengeblieben und wurden | |
zu einer rassistischen Haltung gegenüber den chilenischen Nachbarn erzogen. | |
Hinzu kommen Opferkonkurrenzen. Um zu zeigen, wie man das jeweilige Leid | |
würdigen kann, haben wir Gedenkstätten wie Sachsenhausen besucht, die | |
sowohl den Opfern des früheren KZ als auch denen des einstigen sowjetischen | |
Speziallagers gerecht werden soll. | |
Geht es auch im Haus der Wannsee-Konferenz, dessen kommissarische | |
Direktorin Sie derzeit noch sind, um Opferkonkurrenzen? | |
Nein, dieser Ort ist durch die Perspektive der Täter geprägt. Der Ort steht | |
für die Beteiligung der Verwaltung an der systematischen Verfolgung und | |
Ermordung der Jüdinnen und Juden Europas. Hier wurden Verbrechen | |
organisiert und koordiniert. Wir haben es hier vor allem mit | |
Schreibtischtäter zu tun. | |
Wie gestaltet man einen so „abstrakten“ Gedenk-Ort? | |
Das Protokoll der Besprechung ist sehr konkret. Um zu verstehen, was die | |
„[3][Wannsee-Konferenz“] – die Besprechung hochrangiger Nazis am 20. 1. | |
1942 über die „Endlösung der Judenfrage“ war und möglich machte, | |
präsentiert die Ausstellung die Verfolgungsgeschichte ab 1933. Und um zu | |
zeigen, dass der Rassenwahn des NS-Regimes nicht vom Himmel fiel, erzählen | |
wir auch die Geschichte jüdischen Lebens und des Antisemitismus vor 1933 | |
sowie Kontinuitäten nach 1945. | |
Wie würden sie das pädagogische Konzept umreißen? | |
Wir haben im Januar eine neue Ausstellung im „Design für alle“ eröffnet. | |
Wir wollen sowohl Ministerialbeamte als auch eine breite Öffentlichkeit | |
erreichen. Wir betreuen Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder deren | |
Muttersprache nicht deutsch ist und haben ein großes internationales | |
Publikum. Für unter 14-Jährige allerdings ist unsere Ausstellung wegen der | |
Fotos nicht geeignet. | |
Gedenkstätten vermitteln auch demokratische Bildung. Wie reagieren Sie auf | |
antisemitische Äußerungen? | |
Zunächst muss man jede antisemitische Äußerung klar benennen. In einem | |
pädagogischen Prozess muss man schauen: Wurde sie als Frage formuliert, die | |
auf Unwissenheit beruht? Oder basiert sie auf einem geschlossenen | |
antisemitischen Weltbild? Ist sie als Provokation gedacht? | |
Wenn ein Jugendlicher sagt: „Was Israel den Palästinensern antut, erinnert | |
an den Holocaust.“ Was antworten Sie? | |
Vorweg: Solche Aussagen hören wir von Jugendlichen aus palästinensischen | |
Familien seltener als von deutschen Erwachsenen. Aber es kommt vor. 2009 | |
fragte ein Jugendlicher mit Familienbeziehungen in den Gazastreifen bei | |
einer Führung im Raum über Ghettos: „Ist das, was wir hier sehen, nicht das | |
Gleiche, was in Gaza passiert?“ Da es eine Frage war, habe ich erklärt, | |
dass es nicht das Gleiche ist, dass die nationalsozialistische Politik auf | |
Vernichtung abzielte. Ich habe gesagt, dass es im Gaza-Streifen durchaus zu | |
Menschenrechtsverletzungen kommt. Dabei handelte es sich um eine völlig | |
andere Konstellation, als wenn deutsche Erwachsene sagten: „Das ist ja | |
schrecklich, was Sie uns hier erzählen! Aber ist es nicht tragisch, dass | |
die Juden, die das erlebt haben, das Gleiche mit den Palästinensern tun?“ | |
Das ist eine Suggestiv-Frage, mit der jemand seine Meinung kundtut. | |
Was antworten Sie dann? | |
Entweder bleibe ich auf der Sachebene und sage: „Wenn es wirklich das | |
Gleiche wäre, gäbe es keine palästinensischen Gebiete und keine | |
Palästinenser mehr.“ Oder ich wechsle auf die Meta-Ebene und frage: „Warum | |
behaupten Sie, dass es das Gleiche ist?“ und erkläre, dass so eine Äußerung | |
nicht geht und wohl auf Schuldabwehr und Antisemitismus beruht. | |
Wie reagieren Sie auf Neonazis in Schülergruppen? | |
Neonazis in Schulklassen geben sich eher selten zu erkennen. Wir beobachten | |
aber verstärkt [4][rechtslastige Äußerungen] und Versuche, die | |
Verbrechensgeschichte zu relativieren. Das ist wohl eine Folge des | |
veränderten politischen Diskurses: Wenn AfD-Fraktionschef Gauland eine | |
180-Grad-Wende im Erinnerungsdiskurs fordert, hat das Konsequenzen. | |
Trotzdem sollten wir im Blick behalten, dass solche Provokateure noch in | |
der Minderheit sind. | |
Aber ein rechter Provokateur kann Multiplikator sein. Muss man ihm | |
Hausverbot erteilen? | |
In der Vergangenheit wurde es einmal ausgesprochen, und wir diskutieren das | |
Problem intensiv. Als Einrichtung haben wir ein Dilemma: Einerseits sind | |
wir verpflichtet zu historisch-politischer Bildung. Andererseits müssen wir | |
prüfen: Wo ist die Grenze? Es geht dabei nicht nur um die Person, die eine | |
provokante Frage stellt, sondern um die vielen Umstehenden, deren Meinung | |
noch nicht gefestigt ist. | |
Wie steht es um die Erwachsenen: Kommen nach Wannsee andere Menschen als in | |
die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, die Sie künftig leiten? | |
Ich glaube nicht. Auch nach Wannsee kommen viele Angehörige von Opfern. Der | |
Großteil unserer erwachsenen Besucher reist aus Israel und den USA an. Das | |
liegt daran, dass die Wannsee-Konferenz im Narrativ der einst Verfolgten | |
und ihrer Angehörigen eine zentrale Rolle spielt. Und zwar als Ort, an dem | |
eine Entscheidung getroffen wurde. Was historisch nicht stimmt, weil der | |
systematische Massenmord zum Zeitpunkt dieser Besprechung längst im Gange | |
war. | |
Warum hält sich dieser Mythos des „Wendepunkts“ so lange? | |
Vermutlich, weil dieser Mord von solch einer Dimension ist, dass er in der | |
Wahrnehmung nur durch eine zentrale Entscheidung ausgelöst worden sein | |
kann. Es ist eben schwer vorstellbar, dass es mehrere Entscheidungen gab – | |
regionale Eigenentscheidungen von Polizeiführern und anderen. Psychologisch | |
ist das nachvollziehbar – zumal wichtige Akteure wie Adolf Eichmann und | |
Reinhard Heydrich, Hauptverantwortliche für die Organisation und die | |
Deportationen, dabei waren. Das sind starke Namen, die das Narrativ mit | |
prägen. | |
Gilt es auch in Bergen-Belsen, Mythen zu brechen? | |
Ich habe kein fertiges Konzept und halte wenig davon, als neue Chefin alles | |
besser zu wissen. Ich komme zum Glück in eine Stiftung und eine | |
Gedenkstätte, die sehr gut aufgestellt sind. Also werde ich zunächst den | |
Kolleg*innen zuhören und fragen, welche Bedarfe sie sehen. | |
Sie haben keine Vorschläge? | |
Doch. Ich bringe die Perspektive eines [5][Orts der Täter] mit. Und ich | |
halte es für sinnvoll, auch in der Gedenkstätte Bergen-Belsen – die aus | |
guten Gründen in ihrer Ausstellung den Fokus auf die Verfolgten legt – | |
Täterschaft klarer zu zeigen. | |
11 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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