| # taz.de -- Buch „Die Kinder von Teheran“: Der lange Weg der Flucht | |
| > Von der Flucht jüdischer Kinder in den Iran ist bisher wenig bekannt. | |
| > Mikhal Dekel hat darüber ein fesselndes Buch geschrieben. | |
| Bild: Polnische Kinder in einer Schule in Teheran, betrieben von Briten und Ame… | |
| Dies ist das Buch über Chananja Teitel, der 1939 sechs Jahre alt war. Aber | |
| es ist auch die Geschichte von Hunderttausenden, die auf der Flucht vor den | |
| Nazis in die Sowjetunion kamen. | |
| Dies ist ein Buch über den verstorbenen Vater, geschrieben von der Tochter. | |
| Es geht darin aber auch um diese Tochter, ihr Leben, ihre Erfahrungen und | |
| Sehnsüchte. | |
| Und dies ist ein Geschichtsbuch, wie es sich gehört, mit vielen Fußnoten | |
| und Quellenhinweisen. Aber Mikhal Dekel ist es gelungen, daraus mit einer | |
| ganz eigenen Prosasprache ein fesselndes Buch zu machen, beileibe keinen | |
| Roman, und noch dazu ein Reisewerk, dessen Schauplätze in Haifa und New | |
| York, Polen, Russland, Iran und Usbekistan liegen – und in vielen Archiven. | |
| Es beginnt damit, dass die aus Israel in die USA emigrierte Mikhal Dekel | |
| ein kleines Kind hat, das sehr wenig schläft, und eine Promotion schreibt, | |
| die bald fertig werden muss. Zum Semesterabschluss trifft sie an der Uni | |
| einen Kollegen, der aus dem Iran stammt. In seinem New Yorker Büro wird | |
| Dekel durch einen Artikel an ihren Vater erinnert, der als Halbwüchsiger | |
| einst über Teheran das rettende Eretz Israel erreicht hat. Das war 1942. | |
| ## Stalins Sowjetunion überleben | |
| Diese Flucht jüdischer Kinder in den Iran ist ein eher randständiges Thema | |
| in der Forschung über Krieg und den Holocaust geblieben. Einigen hundert | |
| ursprünglich aus Polen stammenden Menschen ist es damals gelungen, zunächst | |
| in Stalins Sowjetunion zu überleben, dann in den Iran zu gelangen und | |
| schließlich über Umwege das damalige britische Mandatsgebiet Palästina zu | |
| erreichen. | |
| Aber wie ging das damals eigentlich vor sich? Und welches Leid verbirgt | |
| sich dahinter, welche diplomatischen Winkelzüge waren für den Transfer | |
| notwendig? Und schließlich: Wie empfanden die Beteiligten diese furchtbare | |
| Odyssee, bei denen nur der kleinste Teil ihre Eltern jemals wiedersah? | |
| Mikhal Dekel hat sich auf die Spuren ihres Vaters begeben und beschreibt | |
| zugleich das Schicksal von Millionen. Tatsächlich entkam die Mehrheit der | |
| überlebenden polnischen Jüdinnen und Juden – etwa 250.000 von rund 350.000 | |
| – dem Holocaust, weil sie sich nach Osten aufmachten: in Stalins Reich, das | |
| sich seinerseits den Osten Polens einverleibte. Etwa 1,5 Millionen Polen, | |
| darunter nicht nur Juden, befanden sich bald nach Kriegsbeginn in der | |
| Sowjetunion. Um sie geht es in diesem Buch. | |
| Doch was sich nach Rettung anhört, war in Wahrheit der Beginn einer anderen | |
| Art von Unterdrückung. | |
| ## Es gibt keine Juden mehr im Heimatstädtchen des Vaters | |
| Mikhal Dekel reist nach Polen und besucht das Heimatstädtchen ihres Vaters. | |
| In Ostrów Mazowiecka besaß die dort seit langem ansässige Familie eine | |
| Brauerei, von der heute keine Mauer mehr steht. Es gibt auch keine Juden | |
| mehr. Sie folgt ihrem kindlichen Vater, der mit seiner Familie vor den | |
| Nazis floh. Sie findet das Protokoll einer Befragung des Vaters aus den | |
| 1940er Jahren in Palästina: | |
| „Am sechsten Tag nach Kriegsausbruch, noch bevor die Deutschen zu uns nach | |
| Ostrów Mazowiecka hineingekommen sind, sind wir – meine Tate, Mame, ich | |
| und mein kleines Schwesterl – aus der Stadt geflohen. Da war die Panik | |
| schon groß. Die Wege waren voll mit Flüchtlingen.“ | |
| Die Familie war wohlhabend, doch verlor sie nach kurzer Zeit fast alles. | |
| Vor die Alternative gestellt Sowjetbürger zu werden oder zurückzukehren in | |
| den von Deutschen besetzten Teil Polens, entschied sich die Familie für | |
| Letzteres. Stattdessen erfolgte die Deportation: Stalin benötigte | |
| Zwangsarbeiter, die Polen kamen gerade recht. Sie wurden im Güterwagons | |
| nach Sibirien verbracht. So wie ihnen ging es etwa 100.000 Polen. | |
| ## Bäume fällen in Archangelsk | |
| Mikhal Dekel fährt nach Russland und Usbekistan, besucht Komi und | |
| Archangelsk, wo die Brauerfamilie vom Sommer 1940 an bei eisiger Kälte bis | |
| zur Erschöpfung Bäume fällen musste. Sie findet nicht viele Erinnerungen. | |
| Über die Angelegenheit soll Gras wachsen. | |
| Am 22. Juni 1941 überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Gut einen Monat | |
| später nahmen die UdSSR und die polnische Exilregierung wieder | |
| diplomatische Beziehungen auf. Polen konnte wieder wichtiger Verbündeter | |
| werden. Am 27. September 1941 erfolgte für Familie Teitel die „Begnadigung | |
| polnischer Staatsbürger“. Aber sie blieben gefangen in der Sowjetunion. | |
| Freigelassen wurde auch der in einem Moskauer Gefängnis internierte | |
| polnische General Anders. Ihm sollte die Aufgabe zufallen, eine polnische | |
| Armee gegen die Deutschen zu begründen.Familie Teitel aber verschlug es in | |
| Güterzügen nach Usbekistan, das zur neuen Heimat für 1 Million Juden | |
| bestimmt worden war. Sie landete völlig verarmt in einem Flüchtlingslager | |
| und, in der Kolchose „Oktober“ in Kasachstan, danach in Samarkand in einer | |
| Lehmhütte. Jeder vierte Flüchtling starb an Seuchen und Entkräftung. Aber | |
| die Menschen waren nicht ganz vergessen worden. | |
| In der USA wurde das jüdische Joint Distribution Committee (JDC) auf die | |
| polnischen Flüchtlinge im Süden der Sowjetunion aufmerksam. In Tel Aviv | |
| bildete die Jewish Agency eine Rettungskomitee. Hilfsgüter wurden gepackt. | |
| Aber die meisten Waren wurden christlichen Polen zugeleitet. Die | |
| Anders-Armee mochte kaum Juden aufnehmen. Dennoch begann das Schicksal der | |
| polnischen Juden in der UdSSR die westliche Welt zu interessieren. | |
| 1942 wurde entschieden, die polnische Anders-Armee zusammen mit einer | |
| Anzahl polnischer Zivilisten aus der Sowjetunion in den Iran zu | |
| transferieren. Das betraf mehr als 100.000 Menschen – davon aber nur etwa | |
| 6.000 Juden. Unter diesen befanden sich auch einige hundert Kinder, | |
| darunter Chananja Teitel. | |
| Selbst dort blieb es 1942 beim Antisemitismus und Konkurrenzneid geretteter | |
| christlicher gegen jüdische Polen – nun hereingetragen in Kinderheime und | |
| manifestiert an der Zahl der Schlafdecken und Lebensmittel. Auch dort wurde | |
| weiter gehungert. | |
| Aber es war doch der Beginn der Rettung der Kinder. Anfang Januar 1943 | |
| verließ die „Dunera“ den Hafen von Bandar-e Schahpur. Es ging nach | |
| Karatschi, an Bord 836 jüdische Kinder aus Polen. Doch das war nur eine | |
| Zwischenstation auf dem insgesamt 21.000 Kilometer langen Weg von Polen | |
| nach Palästina. | |
| 12 Jul 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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