| # taz.de -- Jüdisches Leben in Köln: Acht Meter tief Geschichte | |
| > In Köln schaufeln derzeit Archäologen das alte Judenviertel aus. Ein | |
| > Besuch in der wohl spannendsten Grube der Republik. | |
| Bild: Im Vorraum der alten Mikwe: Das jüdische Tauchbad soll später zu besich… | |
| Ein ockerfarbenes Stück Stein befindet sich in einem Klarsichtbeutel, es | |
| ist vielleicht zwei Zentimeter groß. „Wandputz“ steht auf dem Etikett der | |
| Tüte, darunter Angaben zum Fundort im Nordwesten des Grabungsgeländes. | |
| Hunderte solcher Plastikbeutel lagern in einer Kunststoffwanne, Hunderte | |
| solcher Kunststoffwannen stehen in hohen Regalen. Größere Fundstücke wie | |
| ein Säulenkapitell sind einzeln verpackt. Wie viele Objekte hier lagern? | |
| „Vielleicht 300.000“, schätzt Grabungsleiter Michael Wiehen. | |
| Der junge Archäologe hebt eine der Wannen aus einem Regal und packt eines | |
| seiner „Lieblingsobjekte“ aus, wie er sagt. Zum Vorschein kommt ein etwa 30 | |
| Zentimeter langer zylinderförmiger Stein, der einer Säule ähnelt. Er ist | |
| das Ergebnis eines natürlichen Prozesses, erklärt Wiehen. Es handelt sich | |
| um Kalkablagerungen aus einer römischen Wasserleitung, die einst die Stadt | |
| mit Frischwasser aus der Eifel versorgte. Aquäduktenmarmor wird das | |
| ausgesprochen harte Material genannt, das auch selbst verbaut wurde. | |
| Wir befinden uns im Kellergeschoss des [1][Kölner Rathauses]; über uns eine | |
| Betondecke, darüber ein profaner Neubau aus der Nachkriegszeit. Wiehen | |
| sperrt die Tür des Magazins auf. Dahinter verbirgt sich ein Gewölbe aus dem | |
| 12. Jahrhundert, in der Mitte abgestützt durch eine romanische Säule. Über | |
| diesem Keller stand einst ein von Juden bewohntes Haus, das im späten | |
| Mittelalter der Erweiterung des Rathauses zum Opfer fiel. Teile des | |
| Rathauses wiederum wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Der Keller ist | |
| geblieben. | |
| Es dürfte derzeit in Deutschland keine spannendere Baustelle geben: Mitten | |
| in der Kölner Altstadt an der Judengasse gräbt ein Team von Archäologinnen | |
| und Archäologen seit bald 14 Jahren ein ganzes Stadtviertel aus – an dem | |
| Ort, an dem im Mittelalter die Juden von Köln lebten. In einigen Jahren | |
| werden Besucher durch die historischen Keller und Gebäude laufen können. | |
| Sie werden die Synagoge aus dem frühen 11. Jahrhundert entdecken können, in | |
| die Mikwe, das rituelle jüdische Tauchbad, hinuntersteigen, aber auch auf | |
| die Überbleibsel des römischen Statthalterpalastes stoßen. | |
| ## Alles begann in Köln | |
| Über ihnen werden sich die Räume des Jüdischen Museums von Köln erheben, | |
| das dem jüdischen Leben in der Stadtgeschichte gewidmet sein soll. „MiQua“, | |
| so soll das [2][Museum über dem Ausgrabungsfeld] heißen. Die Bezeichnung | |
| leitet sich aus der Abkürzung von „Museum im archäologischen Quartier“ ab. | |
| Sie erinnert aber auch an die Mikwe – kein Zufall, zählt das Tauchbad doch | |
| zu den herausragenden Ausstellungsobjekten. | |
| Die Eröffnung des Museums ist für 2025 geplant. Doch schon in diesem Jahr | |
| wird ein Jubiläum groß gefeiert: Seit mindestens 1.700 Jahren gibt es | |
| jüdisches Leben in Deutschland. Es begann hier in Köln. | |
| Das belegt ein Dekret des römischen Kaisers Konstantin. In dem Schreiben | |
| vom 11. Dezember 321 antwortet er auf eine Nachricht aus Köln: „Durch | |
| reichsweit gültiges Gesetz erlauben wir allen Stadträten, dass Juden in den | |
| Stadtrat berufen werden. Damit ihnen [den Juden] selbst aber etwas an Trost | |
| verbleibe für die bisherige Regelung, so gestatten wir, dass je zwei oder | |
| drei […] aufgrund dauernder Privilegierung mit keinen [solchen] Berufungen | |
| belastet werden.“ Es ist der Beweis, dass Juden damals in Köln lebten. | |
| Um das Dekret zu verstehen, muss man wissen, dass das Amt des Stadtrats | |
| damals eine kostspielige und unbeliebte Angelegenheit war – für die Räte | |
| selbst. Denn sie mussten für die Steuereinnahmen der ihnen unterstellten | |
| Einwohner bürgen und Fehlbeträge aus ihrer Privatschatulle begleichen, so | |
| auch in der „Colonia Claudia Ara Agrippinensium“, wie Köln damals hieß. | |
| Das, was auf den ersten Blick wie eine Gleichstellung der Juden wirkt – | |
| deren Berufungsmöglichkeit in den Stadtrat –, markiert in Wahrheit also das | |
| Ende eines Privilegs. | |
| Von einer jüdischen Gemeinde ist in dem Dekret nicht die Rede. Allerdings | |
| argumentieren Historiker, aus dem Schreiben gehe hervor, dass es damals in | |
| Köln wohlhabende Juden gegeben haben muss, denn nur für sie kam eine | |
| Berufung in den Stadtrat überhaupt infrage. Dann dürfte es auch ärmere | |
| Angehörige der Minderheit gegeben haben. Vermutlich hat eine größere | |
| Gruppe, eine Gemeinde, dort gewohnt. Und diese Gemeinde lebte wohl schon | |
| länger in der römischen Stadt, wahrscheinlich schon seit dem ersten | |
| Jahrhundert nach Christus, als die aus Palästina vertriebenen Juden in das | |
| ganze römische Weltreich emigrieren mussten. | |
| Allerdings sagt der Archäologe Thomas Otten: „Eine Siedlungskontinuität von | |
| der Antike bis zum Mittelalter lässt sich nicht nachweisen.“ Zwar seien | |
| vereinzelt jüdische Objekte aus der Römerzeit in Deutschland gefunden | |
| worden, etwa in Augsburg eine Öllampe mit dem Bild einer Menora, des | |
| siebenarmigen Leuchters. Der Kölner Boden hat aber nichts dergleichen | |
| ausgespuckt. Es lasse sich auch nicht nachweisen, dass in der | |
| Merowingerzeit – in den sogenannten dunklen Jahrhunderten nach dem | |
| Zusammenbruch der römischen Herrschaft – Juden in Köln ansässig waren, sagt | |
| Otten, auch wenn das wahrscheinlich ist. Nur das Dekret von 321 belegt ihre | |
| Anwesenheit schon vor dem zweiten Jahrtausend. | |
| Der Platz vor dem Rathaus ist mit einem Bauzaun abgesperrt. Die Bodenplatte | |
| für das künftige Museum wurde schon in großen Teilen gegossen. Darunter | |
| sind immer noch Archäologen mit der Sicherung von Artefakten beschäftigt, | |
| ausgestattet mit gelben Warnwesten und roten Bauhelmen. Einer von ihnen ist | |
| Gary White, der stellvertretende Stabsleiter der archäologischen Zone. Der | |
| gebürtige Brite hat in Deutschland Archäologie studiert und ist geblieben. | |
| Er erklärt, dass an einigen Stellen noch gegraben wird, während anderswo | |
| die Vorbereitungen für den Neubau des Museums weitergehen. White weist auf | |
| einen der beiden Fahrstuhlschächte, die in den Himmel wachsen. Unmittelbar | |
| daneben sind die Überreste einer römischen Therme zu erkennen. „Das war | |
| Millimeterarbeit“, sagt er, „der Fahrstuhl durfte die Therme nicht | |
| beschädigen.“ | |
| Es ist ziemlich einmalig, dass mitten in einer Stadt derart großflächige | |
| archäologische Grabungen stattfinden können. Nach den Bombennächten des | |
| Zweiten Weltkriegs, dem die Kölner Altstadt fast vollständig zum Opfer | |
| fiel, entschied die Stadt, das Gelände am Rathaus nicht mehr neu zu | |
| bebauen. Stattdessen entstand ein Parkplatz. Schon damals fanden Grabungen | |
| statt, die einen Teil des römischen Statthalterpalastes und die Mikwe, das | |
| Tauchbad, zum Vorschein brachten. | |
| Als die neuen Grabungen 2007 begannen, stießen die Archäologen in den | |
| aufgefüllten Kellergewölben der im Krieg zerstörten Häuser auf die erste | |
| Schicht Geschichte: die Trümmer aus der Kriegszeit. Einen ganzen Topf | |
| Soleier haben sie geborgen, erinnern sich Gary White und Michael Wiehen. | |
| Glühbirnen, zwei Zahnprothesen nebst Wassergläsern. Es fanden sich | |
| verkohlte Zeitungsreste, zertrümmerte Möbelstücke, Porzellan und ein | |
| wertloser „Münzschatz“, bestehend aus 2-Mark-Geldstücken aus der Nazizeit. | |
| Die Archäologen bargen aber auch einen Sederteller mit einem Davidstern. | |
| Einen solchen Ritualgegenstand benutzen Juden beim Pessachfest in | |
| Erinnerung an den Exodus. Wie er 1943 zwischen die Kriegstrümmer geraten | |
| ist, vermag niemand zu sagen. War er das Beutestück eines christlichen | |
| Kölners, erstanden auf einer der Versteigerungen von geraubtem Eigentum? | |
| Juden gab es damals in der Altstadt nicht mehr. | |
| Sie waren schon ab 1941 zusammengetrieben worden, zunächst in | |
| „Judenhäuser“, dann in das Sammellager im Vorort Müngersdorf, schließlich | |
| in die Messehallen, wo sie auf ihre Deportation in den Tod warten mussten, | |
| ab dem Bahnhof Deutz-Tief in Richtung Osten. In die Gettos und | |
| Vernichtungslager. Fast 6.000 jüdische Kölner sind damals verschleppt | |
| worden, nur wenige von ihnen haben überlebt. | |
| Auch die ab 1890 errichtete Synagoge der Jüdischen Gemeinde Köln in der | |
| Roonstraße außerhalb des Zentrums ist in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. | |
| November 1938 von den Nationalsozialisten gebrandschatzt und verwüstet | |
| worden. Im April 1945 fanden in den Trümmern wieder erste Gottesdienste | |
| statt. Nur wenige Juden waren da zurückgekehrt, manche hatten die | |
| Verfolgungen im Versteck überlebt. | |
| Das Gotteshaus wurde wiederaufgebaut; gewaltig und in der Formensprache | |
| fast einer Kirche gleich. Der Innenraum ist schlicht gehalten, mit | |
| geweißten Wänden und Mosaiken in den Fenstern. Große Tafeln erinnern im | |
| Eingang zum Betsaal an die Opfer während der NS-Zeit. | |
| Über 20.000 Jüdinnen und Juden lebten um 1930 in der Rheinmetropole. Knapp | |
| ein Viertel davon sind es heute wieder, berichtet Abraham Lehrer, der im | |
| Vorstand der Gemeinde sitzt und auch als Vizepräsident des Zentralrats der | |
| Juden in Deutschland fungiert. „Ein bisschen stolz“ auf 1.700 Jahre | |
| jüdischer Geschichte in Köln sei er schon, sagt Lehrer am Telefon, aber das | |
| mache die Kölner Juden nicht zu einer besseren Gemeinde. | |
| Dem 66-Jährigen ist vor allem wichtig, dass die „mittelgroße Gemeinde“ | |
| wieder über eine fast komplette Infrastruktur verfügt, mit | |
| Begegnungszentrum, Seniorenheim und Kindertagesstätte. Nur ein jüdisches | |
| Gymnasium fehle noch, aber „daran arbeiten wir“. | |
| Mit den Archäologen, die das einstige jüdische Viertel in der Altstadt | |
| ausgraben, ist die Gemeinde in engem Kontakt. Die Pläne für das Museum | |
| begrüße er, sagt Lehrer, „weil dort nicht ein Shoah-Museum entstehen soll, | |
| sondern ein Museum für jüdisches Leben, um Vorurteile abzubauen.“ Lehrer | |
| möchte im Jubiläumsjahr weniger an die Verfolgung erinnern, sondern eher | |
| das Positive betonen, er will auch das jüdische Leben von heute zeigen. | |
| Von guten Zeiten, als Juden und Christen miteinander kooperierten, haben | |
| die Archäologen bisher nicht viel gefunden, auch wenn es sie wohl gegeben | |
| hat. Im Gegenteil, in der Erde eingegraben entdecken sie immer wieder die | |
| Zeugnisse von Katastrophen. | |
| Es ist nicht so, dass sich die Geschichte im früheren jüdischen Viertel | |
| einer Torte gleich in Schichten abtragen ließe. Die Hinterlassenschaften | |
| der Epochen überlappen sich, manche sind breit und dick, andere nur wenige | |
| Millimeter dünn, sagt Gary White. Immer wieder seien die alten Grundmauern | |
| als Basis für neue Gebäude genutzt worden. Auch die nach dem Zweiten | |
| Weltkrieg erbauten schmalen Giebelhäuser stehen auf Kellergewölben aus dem | |
| Mittelalter. | |
| Acht Meter tief reichen die Grabungen. Zwischen mit Trümmern aufgefüllten | |
| Mauern und in ehemaligen Kloaken stießen die Experten schließlich auf | |
| Schichten aus dem Mittelalter und der Römerzeit. Sie fanden dort die | |
| Überreste eines Pogroms: der Bartholomäusnacht vom 23. auf den 24. August | |
| des Jahres 1349. | |
| In einer alten Chronik der Stadt ist von einem „Auflauf, darin die Juden | |
| mit Ungeschichte erschlagen worden“ die Rede. Offenbar kam eine große | |
| Gruppe aufgehetzter Christen in das jüdische Viertel, tötete die Einwohner, | |
| steckte die Häuser in Brand und nahm alles an Verwertbarem an sich. Nach | |
| jüdischer Überlieferung waren es die Juden selbst, die, vom wütendem Mob | |
| bedroht, ihre Häuser anzündeten. Die Judengemeinde habe sich, so heißt es, | |
| „selbst mit Weibern und Kindern zum Brandopfer gebracht, um der gezwungenen | |
| Taufe zu entgehen“. | |
| Das Pogrom von Köln war kein Einzelfall. In Europa wütete in diesen Jahren | |
| die Pest, die etwa ein Drittel der Bevölkerung auslöschte. Den Juden wurde | |
| angedichtet, sie hätten die Brunnen vergiftet, um die Christen zu ermorden. | |
| Überall, in Bern, Basel, Freiburg, Speyer, Oppenheim, Mainz und Frankfurt | |
| am Main, schlugen die Judenhasser zu. Sie raubten Geld und Wertgegenstände | |
| und entledigten sich so auch der Schulden, die sie bei den ermordeten | |
| jüdischen Geldverleihern hatten. | |
| Bei ihren Grabungen stießen die Archäologen auf eine große Schicht | |
| Brandschutt. Sie fanden über 2.000 Fragmente, darunter kunstvoll | |
| bearbeitete Teile der Bima, der Lesekanzel aus der Synagoge. Dazu gehörten | |
| der steinerne Kopf eines Fantasietieres, die Skulptur eines Hundes und ein | |
| Vogelkopf mit Weinbeere. „Die Bearbeitung legt nahe, dass am Bau dieser | |
| Stücke die Bauhütte des Doms beteiligt war“, sagt Thomas Otten, der Leiter | |
| des künftigen Museums. Das lässt auf enge Beziehungen zwischen Christen und | |
| Juden schließen, immerhin. | |
| Umgekehrt kann freilich ein jüdischer Anteil am Bau des Kölner Doms | |
| ausgeschlossen werden, denn Steinmetzarbeiten waren Juden damals verboten. | |
| Etwa zur gleichen Zeit, als die Lesekanzel in der Synagoge entstand, | |
| schufen christliche Holzschnitzer eine antisemitische „Judensau“, die noch | |
| heute im Dom besichtigt werden kann. Im Chorgestühl sind drei Juden | |
| abgebildet, zu erkennen an den Hüten, die sie tragen mussten. Einer hält | |
| ein Schwein an den Vorderbeinen, einer füttert das Tier, und der Dritte | |
| saugt an einer Zitze. Dieses Motiv, gestaltet, um Juden verächtlich zu | |
| machen, ist nicht die einzige antisemitische Abbildung im Dom. | |
| Im mittelalterlichen Schutt des Kölner Judenviertels stießen die | |
| Archäologen auch auf den alten Fußboden der Synagoge. Sie gruben Reste des | |
| jüdischen Hospitals aus, des Gemeindehauses, des Badehauses. Sie entdeckten | |
| die Überbleibsel verbrannter Bücher – eiserne Beschläge – und, in einem | |
| Nachbarhaus der Synagoge, eine monumentale Inschrift über einem | |
| zugemauerten Ausgang: „Das ist das Fenster, durch das die Fäkalien | |
| hinausgeworfen werden“, steht dort in hebräischer Schrift, ein Zeugnis der | |
| dürftigen hygienischen Zustände im Mittelalter, als der Unrat in Kloaken | |
| nahe der Häuser abgeladen wurde. | |
| Vor allem aber bargen die Archäologen einen einmaligen und doch zunächst | |
| unscheinbaren Schatz: Hunderttausende Bruchstücke von Schiefertafeln. Erst | |
| bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass etwa fünfhundert von ihnen | |
| mit Schrift versehen sind – Nachrichten aus dem Alltagsleben der Kölner | |
| Juden im Mittelalter. | |
| Die Judaistin Elisabeth Hollender ist mit der Erforschung dieser | |
| eingeritzten Schriften beauftragt. „Es sind die alltäglichen kleinen Dinge, | |
| die wir entzifferten, darunter fast 300 verschiedene Namen von Bewohnern“, | |
| sagt sie am Telefon. Hollender und ihre MitarbeiterInnen entdeckten zwei | |
| Abrechnungen, die offenbar von einer Bäckerei und einer Metzgerei stammen, | |
| versehen mit den Alltagsnamen von Personen, kleinen Geldsummen und der | |
| Angabe der Währung. | |
| Sie fanden Hinweise auf einen Synagogendiener und den Vorbeter und auf zwei | |
| Frauen, die für die Mikwe, das Tauchbad, zuständig waren. Und dann gibt es | |
| noch die vielen Schreibübungen, bei denen Schüler das Alphabet oder | |
| einzelne Buchstaben bisweilen in Schönschrift einzeichneten. Sie stammen | |
| offenbar aus einer jüdischen Schule. | |
| Die Schiefertafeln lassen Rückschlüsse auf das Leben der Kölner Juden im | |
| Mittelalter zu: Offenbar besaßen viele nicht nur Kenntnisse im Lesen, | |
| sondern auch im Schreiben, was damals höchst ungewöhnlich war. Ihre | |
| hebräischen Namen hatten viele Bewohner eingedeutscht. Ein Teil der Texte | |
| ist zwar in hebräischen Buchstaben geschrieben, die Sprache ist aber | |
| Mittelhochdeutsch mit einem rheinischen Einschlag. Nein, Kölsch im heutigen | |
| Sinne sei das nicht gewesen, bremst Hollender die Erwartungen von | |
| Lokalpatrioten. | |
| Andere Tafeln, etwa der Teil eines Talmudkommentars, sind in hebräischer | |
| Sprache verfasst. Die Bewohner sprachen also offenbar Deutsch miteinander, | |
| nutzten aber in der Regel hebräische Schriftzeichen. | |
| Elisabeth Hollender fand gar ein mittelhochdeutsches Ritterepos in | |
| hebräischen Buchstaben, bestehend aus drei Tafeln, die zueinanderpassen. Es | |
| gehe da um einen Ritter, der in der Burg eine Frau treffen will, erzählt | |
| sie. „Unglücklicherweise kennen wir nur die Hälfte der Zeilen, weil ein | |
| Stück fehlt. Ob der Ritter ins Schlafzimmer der Frau vordringt, werden wir | |
| deshalb niemals erfahren.“ | |
| Manche der Bruchstücke sind nur wenige Zentimeter groß. Weil die | |
| Schiefertafeln so schwer entzifferbar sind, arbeitet Hollender nicht mit | |
| den Originalen. Eine Fotografin hat Bilder im Schräglicht angefertigt, die | |
| eine bessere Lesbarkeit ermöglichen. Je nach Zustand, so berichtet die | |
| Judaistin, kann die Entzifferung ganz rasch vor sich gehen oder zur | |
| stundenlangen Puzzlearbeit werden. | |
| Um herauszufinden, was die Menschen damals zu sich nahmen, schauten die | |
| Archäologen in die Kloaken. Dort fanden sie nicht nur Scherben, | |
| Kochgeschirr und Bauschutt, sondern auch Tierknochen. Hubert Berke hat die | |
| Knochen aus der Kloake unter der Synagoge akribisch untersucht – insgesamt | |
| fast 3.300. Das Ergebnis: Die Kölner Juden ernährten sich streng koscher. | |
| Lage und Größe des Kölner Judenviertels sind lange bekannt, denn das Kölner | |
| Judenschreinsbuch, das über die Besitzverhältnisse Auskunft gibt, hat sich | |
| über die Jahrhunderte erhalten. Der Bezirk, in dem nach der Berechnung von | |
| Thomas Otten wohl etwa 600 bis 1.000 Menschen lebten, war nicht | |
| abgeschlossen, an den Rändern wechselte christlicher mit jüdischem | |
| Hausbesitz. Es handelte sich also nicht um ein Getto. | |
| Etwa vom Jahr 1000 an lässt sich die Synagoge nachweisen. Die Archäologen | |
| entdeckten mehrere, teilweise kunstvoll aus Bodenfliesen erbaute Fußböden. | |
| Es gab wohl ruhige Zeiten, in denen die Juden, bei der Obrigkeit durch die | |
| Zahlung hoher Geldsummen abgesichert, unbehelligt ihrem Alltagsleben | |
| nachgehen konnten, etwa als Händler oder Handwerker. | |
| Aber viele Berufe blieben ihnen versperrt, weshalb man sich auf das | |
| Geldverleihen konzentrierte, das wiederum den Christen verboten war. So | |
| mancher Landesherr war bei den Kölner Juden hoch verschuldet. | |
| Antisemitische Legenden von jüdischen Ritualmorden an Christenkindern | |
| machten schon damals die Runde. Und so wurden Juden, allen | |
| Schutzprivilegien von weltlichen sowie geistigen Herrschern und der Stadt | |
| Köln zum Trotz, immer wieder gejagt und ermordet. | |
| „Es ist sinnlos, die Feinde des Christenglaubens in der Fremde zu | |
| bekämpfen, wenn doch die Christenmörder, nämlich die Juden, ungestraft in | |
| unseren Städten leben.“ So stachelte Abt Pierre de Cluny die wilden Haufen | |
| auf, die sich im Jahr 1096 zum ersten Kreuzzug aufmachten. Eine Serie von | |
| Pogromen war die Folge, ganz besonders im Rheinischen. | |
| Der Dichter Elieser ben Nathan schrieb: „Da erschrak den Kölner Juden das | |
| Herz zu Tode, und sie flüchteten sich ein jeder in das Haus eines | |
| christlichen Bekannten und blieben dort.“ Das spricht für eine gewisse | |
| Solidarität der Kölner. Der Kölner Erzbischof Hermann III. verweigerte den | |
| Verfolgten Obdach in seinen Räumen, stattdessen ließ er die Juden auf die | |
| umliegenden Landgemeinden verteilen. Doch auch dort fanden sie die | |
| Kreuzfahrer und ermordeten sie unter Mithilfe der Dörfler. Nur wenige Juden | |
| konnten nach Köln zurückkehren. | |
| ## Immer wieder von vorne | |
| „Die Barbaren! Sie schonten nicht die Schwangeren und ihrer Frucht, gruben | |
| die Unglücklichen lebens in Felshöhlen, warfen sie in siedende Kessel und | |
| flochten sie lebendig auf's Rad. – Alles dies ist über uns gekommen, doch | |
| fielen wir nicht ab von dir und murrten nicht gegen deinen Willen. Gerecht | |
| bist du, aber wir, wir fehlten gegen deine Gesetze, darum trafen uns diese | |
| Leiden. Und nun, o Gott, wie lange noch?“ | |
| So betrauerte der Rabbiner Joel ben Isaac ha-Levi die Opfer eines Pogroms | |
| im Kölner Raum. Am 1. Februar 1197, so die Überlieferung, hatte ein | |
| geisteskranker Jude ein christliches Mädchen in Neuss getötet. Daraufhin | |
| ermordeten aufgehetzte Christen sechs Gemeindemitglieder und banden ihre | |
| Leichname aufs Rad. Sie plünderten die Häuser der Juden, begruben die | |
| Mutter des Geisteskranken bei lebendigem Leib, räderten die Brüder und | |
| stellten die Leichen zur Schau. | |
| Als Reaktion auf die Geschehnisse erhob der Kölner Erzbischof eine | |
| Geldstrafe von 150 Mark, damals eine enorme Summe. Nur musste die nicht von | |
| den Mördern bezahlt werden, sondern von der jüdischen Gemeinde – ein | |
| Verfahren, das verzweifelt an die Pogromnacht vom November 1938 unter den | |
| Nazis erinnert, als den Juden anschließend eine „Buße“ von einer Milliarde | |
| Reichsmark auferlegt wurde. | |
| Immer wieder aber entstand das Kölner Judenviertel im Mittelalter aufs | |
| Neue. Die Überlebenden begruben die Toten, räumten den Brandschutt weg, | |
| erneuerten ihre Synagoge und begannen von vorne. Schließlich war Köln mit | |
| seinen rund 50.000 Einwohnern eine der größten und prosperierendsten Städte | |
| der bekannten Welt, mit Handelsverbindungen bis in den Nahen Osten. Auch | |
| nach der Bartholomäusnacht von 1349 entstand wieder eine jüdische Gemeinde, | |
| deren Überreste die Archäologen identifizieren konnten. | |
| Doch im Jahre 1424 war Schluss. Der Kölner Rat verbannte die Juden „auf | |
| ewige Zeiten“ aus den Mauern der Stadt, denn die Stadtväter missgönnten dem | |
| Erzbischof, dass dieser durch seinen Schutzbrief hohe Geldsummen aus den | |
| Juden herauspressen konnte. Mit der Ausweisung der Minderheit hatten sie | |
| die Gelegenheit gefunden, es der Kirche heimzuzahlen – auf Kosten der | |
| Juden. | |
| ## Praktisch veranlagte Katholiken | |
| Selbst für einen Tagesbesuch benötigten sie fortan eine besondere | |
| Genehmigung. Die Menschen verließen die Stadt. Ihr Viertel ging in den | |
| Besitz von Christen über. Die Mikwe wurde zur Kloake. Auf den Grundmauern | |
| der Synagoge entstand 1426 die Ratskapelle St. Maria in Jerusalem. Den | |
| alten Grundriss übernahmen die praktisch veranlagten Kölner Katholiken. Die | |
| Kapelle versank erst in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs. | |
| Fast 400 Jahre lang durften in der katholischen Stadt keine Juden leben. So | |
| ganz stimmt die Geschichte von den 1.700 Jahre jüdischem Leben also nicht, | |
| jedenfalls was Köln angeht. Erst im Jahr 1794 änderten sich die | |
| Verhältnisse. Am 6. Oktober marschierten französische Truppen unter den | |
| Klängen der Marseillaise in Köln ein, die Revolution hatte den Rhein | |
| erreicht. „Alles, was nach Sklaverei schmecke“, so der französische | |
| Regierungskommissar, wurde abgeschafft. Und so fiel endlich auch der | |
| Judenbann. | |
| Die Aufklärung begann, das Bürgertum entstand, an beidem hatten gerade die | |
| Juden einen hohen Anteil. Doch auch in diesen besseren Zeiten des 19. und | |
| beginnenden 20. Jahrhunderts blieb die Gleichstellung ein Traum. Noch vor | |
| 110 Jahren waren Juden manche Stellungen im Staatsdienst verwehrt. | |
| Stattdessen schlug die Geburtsstunde des Rasse-Antisemitismus, der | |
| Grundlage der NS-Ideologie. In der Weimarer Republik erfolgte endlich die | |
| Gleichstellung von Christen und Juden. Aber es waren nur 14 kurze Jahre bis | |
| zum Naziterror. | |
| So gesehen steht der Brandschutt der Kölner Bartholomäusnacht von 1349 | |
| repräsentativer für die 1.700 Jahre jüdischer Geschichte in Deutschland als | |
| etwa die Beschwörung einer deutsch-jüdischen Symbiose in der Weimarer | |
| Republik. Dieser Brandschutt macht deutlich: Es geht hier nicht nur um | |
| Juden, sondern genauso um die Nichtjuden, nämlich diejenigen, die das | |
| Viertel damals zerstörten und die Menschen ermordeten, die, die zuschauten, | |
| und die, die daraus Profit schlugen. Und um ihre Nachkommen, denen im | |
| Bombenkrieg 1943 ein mutmaßlich geraubter Sederteller abhandenkam. Das | |
| Graben nach jahrhundertealten Artefakten in der Kölner Altstadt wird so zu | |
| einer sehr politischen Angelegenheit. | |
| Vor wenigen Jahren noch unkten Kölner Schwarzseher, es gebe für das neue | |
| jüdische Museum zu wenige Fundstücke, um eine Ausstellung füllen zu können. | |
| Heute sorgt sich der künftige Leiter Thomas Otten, wie all die Artefakte | |
| auf die 8.000 Quadratmeter passen sollen, die zur Verfügung stehen werden. | |
| 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – für Abraham Lehrer von der | |
| Synagogen-Gemeinde Köln bedeutet das trotz allem etwas Schönes. Er sagt: | |
| „Wir wollen nicht nur an die schlechten Zeiten erinnern, sondern auch an | |
| die guten.“ Auch wenn die verflucht selten vorgekommen sind. | |
| 16 Feb 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Koelns-Oberbuergermeisterin-Reker/!5709453 | |
| [2] https://www.museenkoeln.de/archaeologische-zone/default.asp?s=2738 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
| ## TAGS | |
| Köln | |
| Archäologie | |
| Jüdisches Leben | |
| Bremer Mahnmal zur „Arisierung“ | |
| wochentaz | |
| Jüdinnen | |
| Sammeln | |
| Jüdisches Museum Berlin | |
| Jüdisches Museum Berlin | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Musik | |
| Novemberpogrome | |
| Holocaust | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Verdächtiges Möbel im Senatorenbüro: Ein Papierkorb ohne Schuld | |
| Bremens Finanzbehörde nimmt Provenienzforschung ernst. Das führt auch zu | |
| kuriosen Geschichten. | |
| Kölner Baustellen breiten sich aus: Der große Bauzaunreigen | |
| Aus den Ruinen des jüdischen Viertels vor dem historischen Kölner Rathaus | |
| soll eine archäologische Zone werden. Nur dauert deren Bau schon 15 Jahre. | |
| Antisemitismus an Stadtkirche Wittenberg: Vom Schandmal zum Mahnmal | |
| Der BGH hat entschieden: Die „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche | |
| muss nicht beseitigt werden. Der jüdische Kläger scheitert. | |
| Historiker über das Sammeln: „Archäologen horten zwanghaft“ | |
| Raimund Karl ist Archäologe und warnt: Ohne Begrenzungen werden Museen in | |
| Fundmassen untergehen. | |
| Ausstellung über Moses Mendelssohn: Reden mit Andersdenkenden | |
| Er war ein Bildungsmigrant und ein Dialog-Profi. Das Jüdische Museum Berlin | |
| widmet sich Moses Mendelssohn, dem Philosophen der Aufklärung. | |
| Neue Kinderwelt des Jüdischen Museums: Nach uns nicht die Sintflut | |
| Die Kinderwelt „Anoha“ des Jüdischen Museums will Respekt im Umgang | |
| miteinander lehren. Das ist auch eine spannende Botschaft für Erwachsene. | |
| Ausstellung „Der kalte Blick“: Bilder der Ermordeten | |
| Im „Dritten Reich“ stand die Wissenschaft im Dienst von Massenmördern. | |
| Davon erzählt eine Ausstellung in der Berliner Topographie des Terrors. | |
| Wolfgang Niedecken wird 70: Pop auf Kölsch | |
| Wolfgang Niedecken ist Musiker, bekennt sich aber auch häufig politisch: | |
| als Mensch, wie er sagt. Damit hat er schon einiges erreicht. | |
| Polnische Juden in Deutschland: Die Blaupause | |
| Es ist die Generalprobe zu den Novemberpogromen. Im Oktober 1938 werden die | |
| neunjährige Berti Bukspan und ihre Familie aus Frankfurt vertrieben. | |
| Archäologie und NS-Verbrechen: Nach Nazi-Terror graben | |
| Wie der Archäologe Wojciech Mazurek im früheren Nazi-Vernichtungslager | |
| Sobibor nach den Spuren von Opfern und Tätern sucht. |