# taz.de -- Historiker über das Sammeln: „Archäologen horten zwanghaft“ | |
> Raimund Karl ist Archäologe und warnt: Ohne Begrenzungen werden Museen in | |
> Fundmassen untergehen. | |
Bild: Muss man das wirklich aufheben? | |
taz am wochenende: Herr Karl, Sie meinen, dass Archäologen die Messies der | |
Wissenschaften sind. Wieso das denn? | |
Raimund Karl: Praktisch alle Wissenschaften haben inzwischen eingesehen, | |
dass man nicht alles sammeln kann, was in den eigenen Bereich fällt. | |
Historische Archive zum Beispiel sammeln nicht jede Art von Brief, sondern | |
nur bestimmte Amtskorrespondenz oder Briefe von wichtigen Leuten, den Rest | |
werfen sie weg oder nehmen ihn erst gar nicht an. Die Archäologie nimmt | |
dagegen alles auf, was mit dem Etikett Archäologie daherkommt. | |
Heißt das, dass nicht alles, was ausgegraben wird, auch aufbewahrt werden | |
sollte? | |
Meiner Meinung nach sollte bei den Grabungen sogar der Hauptteil der | |
Selektierung stattfinden. Man kann vorher konkrete Zahlen festlegen, also | |
dass man zum Beispiel sagt, man nimmt nur 10 Prozent mit. Das wird im | |
Ausland schon so gemacht. In jedem Fall sollte man aber mit Spezialisten | |
und Museen Rücksprache halten, was noch fehlt und was schon genug da ist. | |
Aber Museumsleute gelten doch als die Horter schlechthin. Machen Sie da | |
nicht den Bock zum Gärtner? | |
Grundsätzlich sollte eine museale Sammlung dem Prinzip der Auswahl folgen, | |
nach einem genauen Sammlungskonzept. Diesen Teil der Arbeit erledigen viele | |
archäologische Museen nicht ordnungsgemäß, weil hier die Idee kursiert, | |
dass alles aufbewahrt werden muss. Aber nehmen wir zum Beispiel die | |
Nusstorte, die in einem im Zweiten Weltkrieg ausgebombten Keller in Lübeck | |
gefunden wurde. Nusstorten kennen wir eigentlich gut. | |
Die Rezepte aus dieser Zeit sind überliefert, es gibt auch | |
Restaurantkritiken, die beschreiben, wie sie damals schmeckten. Brauchen | |
wir also ein originales Stück, das dauerhaft konserviert werden soll? | |
Wahrscheinlich nicht. Und die Nusstorte ist noch ein Einzelstück. In dem | |
Keller war noch eine große Zahl anderer Objekte, die es schon in vielen | |
Tausend Exemplaren gibt, zum Teil auch in besserem Zustand. Aber die | |
Archäologie will das alles aufheben. Und jetzt überlegen Sie sich mal, wie | |
viele Güter seit 1800 produziert wurden und in den Boden kamen in Europa, | |
das ist mehr als in der gesamten Geschichte vor 1800. | |
Aber gehört das denn alles zur Archäologie? Ich dachte, da geht es nur um | |
[1][uralte Funde]. | |
Nach der heutigen Definition gehört jede Hinterlassenschaft der | |
Vergangenheit, also auch mein Gekritzel von gerade eben, zur Archäologie. | |
Das muss nicht mal vergraben sein. Ein Student von mir untersuchte zum | |
Beispiel die Fußspuren, die Wartende an einer Wand hinterließen. Das kann | |
man machen. Zum Problem wird das alles erst, wenn das in den musealen | |
Bereich überschlägt, sodass man da in Fundmassen untergeht. | |
Meinen Sie, dass eine Selektion ausreicht, um die immer noch stetig | |
wachsende Zahl an Dingen archivarisch in den Griff zu kriegen? | |
Nein. Man muss auch in den Depots Platz machen und bisherige Bestände | |
aussortieren. Konservativ geschätzt, haben wir im deutschen Sprachraum in | |
öffentlichen archäologischen Sammlungen mindestens 150 Millionen Funde. | |
Davon ist bisher höchstens 1 Prozent archäologisch ausgewertet worden. 99 | |
Prozent liegen teilweise schon seit Jahrhunderten in den Archiven, ohne | |
dass sie jemand angesehen hat. | |
Jetzt verstehe ich, warum Sie von pathologischem Sammeln sprechen. | |
Die archäologische Praxis entspricht tatsächlich den diagnostischen | |
Kriterien des zwanghaften Hortens: Zu den Symptomen gehören hoher | |
Nutzraumverbrauch, psychologische Belastung, hohe wirtschaftliche Kosten | |
und die Unfähigkeit zu entscheiden, was wirklich noch gebraucht wird und | |
wovon man sich trennen sollte. Der Satz „Das könnte ja später noch zu etwas | |
gut sein“ ist [2][typisch für einen Messie] – und genauso für den | |
Archäologen. | |
Aber hat diese Aussage denn nicht auch ihre Berechtigung? Neue technische | |
Verfahren und andere Betrachtungsweisen machen viele Untersuchungen oft | |
erst später möglich. | |
Dafür muss man aber nicht alles aufheben. Das Auswählen passiert ja | |
sowieso, alle wissenschaftlichen Untersuchungen arbeiten mit Stichproben. | |
Und die muss man nicht unbedingt verändern, wenn man mit einer anderen | |
Hypothese oder Technik zu einer neuen Erkenntnis gelangen will. | |
Lassen Sie uns konkret werden: Wie kann ausgemistet – oder wie Sie sagen: | |
entsammelt – werden? | |
Die konkreten Kriterien müsste jede Sammlung für sich selbst festlegen. | |
Viele Prinzipien sind aber altbekannt: Wenn es zum Beispiel Duplikate gibt, | |
wird man sicherheitshalber noch ein paar aufheben. Für den Rest muss man | |
eine andere Lösung finden. Ich habe da schon Vorschläge gemacht: Alte | |
Scherben kann man zum Beispiel zu Anschauungszwecken an Schulen geben. Man | |
kann gute Schotterwege daraus machen oder sie an private Sammler verkaufen. | |
Oder man haut sie wirklich weg. | |
Das ist aber das Horrorszenario für einen Messie … | |
Ja. Gegebenenfalls muss man hier Betreuung auf psychologischer Ebene zur | |
Verfügung stellen. Archäologen sind ja nicht per se Messies, sondern weil | |
ihnen Fachmeinungen und -ansätze gewisse Vorgehensweisen aufzwingen. Hier | |
muss ein Umdenken stattfinden. Welche Fundstücke brauchen wir heute | |
wirklich? Das muss zur zentralen Frage werden. | |
Ein ziemlich radikaler Ansatz, wenn man bedenkt, dass bisher alles, was | |
ausgegraben wurde, praktisch als heilig galt. Sie rühren hier nicht nur an | |
den Arbeitsnormen, sondern auch an den Werten Ihrer Zunft. | |
Genau darum geht es mir. Unsere Aufgabe ist nicht der Schutz der | |
Archäologie, sondern der Schutz der wichtigen Archäologie. Dieses kleine | |
Wort macht schon den großen Unterschied. Was für uns heute heilig ist, | |
können und sollten wir selbst bestimmen, und das immer wieder neu. | |
31 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Karlotta Ehrenberg | |
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