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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Diddl-Maus der Antike
> Eine aktuelle Fundschwemme in der Archäologie während der Pandemie lässt
> aufhorchen. Die Wahrheit gräbt vor Ort nach.
Bild: Antike Mosaike sind längst schon billige Auslegewaren
„Römersachen können Sie einfach zum Grünschnitt vor die Haustür stellen.
Die nimmt die Müllabfuhr mit“, erklärt Dr. Wiebke Hermeneuer und legt
seufzend auf. Eine Anruferin aus Köln hat beim Anlegen eines Gemüsebeets
ein gut erhaltenes römisches Mosaik aus dem ersten nachchristlichen
Jahrhundert entdeckt. „Schon wieder eins mit Dionysos-Motiven“, stöhnt die
Archäologin. „Der war die Diddl-Maus der flavischen Periode. Dafür rücken
wir wirklich nicht mehr aus.“
Seit bald zwanzig Stunden sitzt Hermeneuer nun schon als Bereitschaft im
neu eingerichteten Archäologischen Dauerdienst (ADD) und hat bereits zwölf
Notgrabungen und über fünfzig Einweisungen in die zuständigen Landesmuseen
veranlassen müssen. In der Coronapandemie ist die Zahl der Zufallsfunde
durch archäologische Laien exponentiell angestiegen.
„Die Leute wühlen vor Langeweile in ihren Gärten herum wie die
Wildschweine“, schimpft Hermeneuer. „Und wir müssen hinter ihnen
aufräumen.“ Denn all die zutage geförderten Fibeln, Gemmen, Mosaike und
Scherben müssen kartiert, geborgen und erforscht werden. „Die
archäologischen Erstversorger sind mittlerweile überlasteter als die
Intensivpfleger. Wir haben in den Museen einfach keine Schaukästen mehr
frei. Oft müssen wir sogar unter wertvollen Funden triagieren“, berichtet
die schockierte Wissenschaftlerin.
Ohne wissenschaftliche Erfassung werden manche Kleinodien in Kisten
verpackt und als Requisiten einer einschlägigen Trödelshow verwendet.
„Stellen Sie sich mal vor, Sie erwachen aus zweitausendjährigem Schlummer
und werden dann gleich von Horst Lichter betatscht“, barmt Dr. Hermeneuer,
um den Ernst der Lage zu verdeutlichen.
## Antike Altlasten nördlich des Limes
Im römerverseuchten Rheinland kann jeder unbedachte Spatenstich antike
Altlasten hervorbringen, doch tritt die Fundschwemme inzwischen auch in den
historisch eher unbescholtenen Barbarengegenden nördlich des Limes auf.
Nicht einmal die verblichensten germanischen Bruchbuden sind vor
neugierigen Spaziergängern sicher, jeder verbeulte Helm wird ans Tageslicht
gezerrt.
„Kein Wunder, wenn die Nordic Walker mit ihren Stöcken ständig im Unterholz
herumstochern“, versetzt die gestresste Archäologin schmallippig. „Und wer
darf dann bei diesem Scheißwetter tagelang zum Buddeln rausfahren?“
Deswegen, und um die wenigen noch unentdeckten Bodendenkmäler künftigen
Generationen zu sichern, plädiert sie für ein Grabungsmoratorium sowie eine
strikte Ausgangssperre.
Denn das pandemiebedingt angeschwollene Heer von Spaziergängern stöbert
historische Hinterlassenschaften mittlerweile auch an Orten auf, die man
bislang weder mit Hochkulturen noch mit Erholungsmärschen in Verbindung
gebracht hatte. In Niedersachsen machten Flaneure mitten in einem verödeten
Gewerbegebiet aus den neunziger Jahren eine bahnbrechende Entdeckung: ein
verödetes Gewerbegebiet aus dem Hochmittelalter.
„Und nicht nur das“, erklärt Hermeneuer mit widerwilliger Anerkennung. „…
können mittlerweile nachweisen, dass Kommunalverwaltungen seit der
Bronzezeit erfolglos versucht haben, dort Gewerbe anzusiedeln. Schicht um
Schicht ist ein Troja der verödeten Gewerbegebiete entstanden.“
Bisweilen muss die Geschichte gänzlich umgeschrieben werden. Bei einem
Spaziergang in der hessischen Wetterau haben Teenager das Grabmal eines
Fürsten aus der frühen Latène-Zeit entdeckt, das umfangreiche schriftliche
Aufzeichnungen zu Religion, Gesellschaft und Humor der Kelten enthält. „Für
die Wissenschaft bedeutet das einen Paradigmenwechsel“, meint Hermeneuer.
„Bislang galt der Forschungsstand, dass sich Teenager nichts aus
Spaziergängen machen. Aber das war vor Corona.“
Schon wieder klingelt das Telefon. Eine junge Stimme erzählt aufgeregt von
einem Sensationsfund, den der Anrufer als Zeremonialobjekt einer primitiven
Kultur deutet. Was so ein prähistorisches Zeug bei Ebay einbringe, will der
junge Mann schließlich wissen. Geduldig lauscht Hermeneuer den Ausführungen
und Beschreibungen. „Das ist ein Plattenspieler und damit ein wertvolles
Zeugnis einer akustisch überlegenen Kultur, Sie MP3-Schnösel“, gibt die
Altertumsforscherin schließlich ihre fachliche Einschätzung ab. „Und jetzt
hören Sie auf, die Sachen Ihrer Oma zu verhökern.“
Doch nicht alle Hobbyforscher haben derart handfeste, materielle Funde aus
der Vergangenheit zu vermelden. „Besonders gern werden vermeintliche
Austragungsorte historischer Schlachten gesichtet“, stöhnt die
diensthabende Archäologin und blättert in ihren Notizen.
„Ein pensionierter Studienrat aus Pivitsheide im Teutoburger Wald hat
vorhin behauptet, die Varusschlacht tobe noch immer – und zwar hinter den
Altglascontainern an der örtlichen Bushaltestelle. Er hat sogar Fotos
geschickt.“ Mit der Lupe betrachtet Hermeneuer die verwackelten Bilder.
„Verdammt!“, ruft sie dann. „Der Mann könnte tatsächlich Recht haben.“
## Barbareneinfall in der Fußgängerzone
Derartige Entdeckungen sind allerdings selten. Meist proben ganz
zeitgenössisch Verrückte den Corona-Aufstand, wenn etwa in einer
bundesdeutschen Fußgängerzone Barbareneinfall gemeldet wird. Außerdem
werben etliche ostwestfälische und südniedersächsische Dörfer mit
Darbietungen ihrer örtlichen Laienspielscharen, um sich als Drehorte für
weitere Germanenserien zu empfehlen.
Ohnehin hat sich durch den Medienkonsum die Vorstellung von der
Vergangenheit stark ins Fiktionale verlagert. Vertreter von Fanverbänden
fordern gar, einen „erweiterten Geschichtsbegriff“ zu implementieren, der
spekulativer Historiografie (vormals „Fantasy“) denselben Raum wie der
evidenzbasierten Geschichtsforschung einräumt. Doch noch wehrt sich die
akademische Welt, den Schriften eines George R.R. Martin denselben
historischen Wert zuzumessen wie denen eines Tacitus oder Tolkien.
Auch Dr. Hermeneuer, die über die Rolle des Bandkeramikers bei
jungsteinzeitlichen Rockgruppen wie den Rolling Stones promoviert hat, muss
sich mit kontrafaktisch orientierten Geschichtsfans herumschlagen: „Allein
heute hatten wir fünf Anrufe von Bürgern, die behaupteten, in ihren
Vorgärten die Ruinen von Winterfell, Königsmund oder Casterlystein entdeckt
zu haben, nachdem sie sämtliche ‚Game of Thrones‘-Staffeln am Stück
durchgebingt hatten.“
Ein Anruf reißt uns aus diesem Gespräch. „Wir haben wieder ein
Bernsteinzimmer!“, jubelt Dr. Wiebke Hermeneuer. Nach dem Telefonat springt
die Archäologin auf und malt einen Kreidestrich an eine Tafel. Wer in einer
Schicht das Dutzend voll bekommt, wird beim nächsten Einsatz
Grabungsleiter.
26 Apr 2021
## AUTOREN
Christian Bartel
## TAGS
Archäologie
Antike
Museen
Sammeln
Rohstoffe
Babylon Berlin
EU
Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
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