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# taz.de -- Die Wahrheit: Todesfalle Gemütlichkeit
> Die Nulllösung bei Corona kommt. Die Wahrheit ist dieser Tage auf Besuch
> bei Claus Blum, der bereits kräftig mit dem Hygge-Virus infiziert ist.
Schlurfende Schritte auf dem Wohnungsflur kündigen Claus Blum an, noch
bevor er uns die Tür öffnet. Der Betriebswirtschaftler aus Düsseldorf hat
uns kontaktiert, weil er seit Verhängung des Lockdowns dramatische
Veränderungen an seinem Körper festgestellt hat. „Und ich rede nicht von
einer gewöhnlichen Coronaplauze“, erklärt der Amateursportler im
Vorgespräch am Telefon. „Ich mache eine regelrechte Metamorphose durch.“
Eines Nachts, so Blum, seien ihm beispielsweise Hüttenschuhe an den Füßen
gewachsen. „Wahnsinnig gemütliche Quadratlatschen aus Filz. Solche Treter
habe ich nie besessen, und jetzt kann ich sie nicht einmal mehr ausziehen.“
Seit der Sache mit den Pantoffeln gehe es körperlich mit ihm bergab. „Sie
werden ein Monster zu Gesicht bekommen“, hat uns der passionierte
Kitesurfer vorgewarnt. Und als Claus Blum wirklich vor uns steht, fährt uns
der Schreck eiskalt durch Mark und Bein. Wie Mehltau hat sich Gemütlichkeit
über Blums Erscheinung, ja über sein ganzes Wesen gelegt.
Schnell wird uns klar, der Mann hat sich mit dem Hygge-Virus angesteckt.
Dieser Erreger reist im Schlepptau des prominenteren Coronavirus, breitet
sich im Lockdown aber noch viel ungebremster aus und fesselt seine Opfer
schon am helllichten Nachmittag ans heimische Sofa. Für Blum dürfte jede,
aber auch jede Rettung zu spät kommen. Er leidet an Bequemlichkeit im
Endzustand. Wenn die Krankheit so weit fortgeschritten ist, kann man dem
Patienten eigentlich nur noch final die Knabbersachen reichen.
## Hobbit mit Apfelbäckchen
„Sie sehen ja was los ist!“, brummt der Halbmarathonläufer phlegmatisch,
als wir uns von seinem Anblick ein wenig erholt haben. Statt des nervösen,
durchtrainierten Mittdreißigers, der recht verkrampft von seinen
Facebook-Fotos lächelt, begegnet uns ein rundlicher Hobbit mit Rauschebart,
Apfelbäckchen und Meerschaumpfeife. Das Tückische an dieser Krankheit ist
eben, dass der Patient vollkommen entspannt und gleichmütig wirkt. Das
Virus treibt ein wahrhaft grausames Spiel.
„Diese ganze Coronascheiße kann mich mal. Mir egal!“, bestätigt Blum
unseren Verdacht. „Ich vermisse nicht mal mehr mein Sozialleben!“ Es steht
noch schlimmer um den Patienten als gedacht. Das gallige Keckern des
Sanguinikers ist längst einem jovialen Bassbariton gewichen, der
entsetzlich lauschig vor sich hin schnurrt. Wir müssen vor Behaglichkeit
würgen, denn neben seiner schier unerträglichen Gemütlichkeit dünstet Claus
Blum penetrante Noten von Popcorn, Bratapfel und Tannenzapfen aus. Der Mann
ist eindeutig schwer krank.
## Eine Stimme wie ein Kaminfeuer
„Ich kann nichts dafür“, zeigt der Patient Krankheitseinsicht. „Ich woll…
es mir im Herbst bloß ein wenig gemütlich machen, deswegen hatte ich mir
eine Kerze angezündet. Eine einzige!“, barmt er mit einer Stimme, die nach
in Milch aufgelöstem Honig und knackendem Kaminfeuer klingt. „Und jetzt
werde ich die Kräfte, die ich entfesselt habe, einfach nicht mehr los.“
Er weist auf sein ausgeleiertes Beinkleid. „Heute Morgen habe ich extra
meine unbequemste Skinny Jeans angezogen und jetzt stecke ich schon wieder
in der gemütlichen Hose, ohne mich umgezogen zu haben.“ Bis zur
Unkenntlichkeit verschmitzt schaut uns Blum aus blödsinnig zufriedenen
Zwinkeräuglein an. Sein Mund öffnet sich zum Hilfeschrei, doch nur seliges
Gesummsel quillt heraus. „Verstehen Sie doch“, gluckst Blum verzweifelt.
„Nicht ich mache es mir gemütlich. Es macht mich gemütlich. Und es hört
nicht auf, bis es mich restlos zu Grunde gemuckelt hat.“
Blum seufzt und faltet seine Hände über seinem wollenen Wams. „Der Wams war
gestern auch noch nicht da!“, erschrickt er. „Ich weiß nicht einmal genau,
was ein Wams ist.“
## Verwilderte Schlipse
Der Personaler einer mittelständischen Firma arbeitet seit vergangenem März
aus dem Homeoffice. Zunächst war er froh, dem Krawattenzwang zu entkommen,
doch dann bemerkte er Veränderungen in der Fauna seines Kleiderschranks.
„Meine Schlipse verwilderten immer mehr. Zuletzt bissen sie die Hand, die
sie einst gebunden hat. Der Wildseidene hat mich sogar angefallen, um mich
mit einem halben Windsor zu erdrosseln.“
Derzeit bestehe aber keine Gefahr, erklärt uns der Gemütskranke in der
ausgeleierten Joggingbuxe und dem mutmaßlichem Wams. Seine Krawatten hätten
sich hinter den Kühlschrank zurückgezogen, um dort in einem großen Knäuel
Winterschlaf zu halten. Von seinen Anzügen dagegen fehle nach wie vor jede
Spur.
Wir folgen Claus Blum in die Küche. Im Flur bemerken wir, dass eine dicke
Staubschicht auf seinen Sneakern liegt. Mit seinen breiten Hüttenfüßen
passt der Langstreckenläufer nicht mehr hinein.
„Meine liebe Frau hat Zimtschnecken gebacken“, lädt uns Claus Blum zum
Nachmittagskaffee ein, doch dann stockt er. „Ich weiß nicht, warum ich das
gesagt habe. Ich bin gar nicht verheiratet! Ich bin Single.“ Trotzdem zieht
Blum einen Moment später ein ganzes Blech dieses duftenden Backwerks aus
dem Ofen. „Das habe ich nicht gebacken“, kreischt er und klingt dabei so
aufgeregt, als würde ein Dreizehenfaultier Reden von Frank-Walter
Steinmeier vom Teleprompter ablesen. Blum weist auf einen Ohrensessel, über
dessen Lehne ein Quilt hängt. „Ich kann gar nicht backen, außerdem war ich
den ganzen Nachmittag mit meinem Rennrad unterwegs.“
## Nachwachsende Butzenscheiben
Es ist die Krankheit, die aus ihm spricht. Betreten schauen wir durch das
Küchenfenster. Die Butzenscheiben scheinen uns irgendwie unpassend,
immerhin befinden wir uns im elften Stock eines Neubaus aus Stahl und Glas.
„Sie sind schon wieder nachgewachsen!“, blubbert Claus Blum. Er greift zu
einem Stahlschwamm und rubbelt ermattet am Fenster herum. Für einen Moment
fällt helles Tageslicht durch klares Fensterglas, doch allzu schnell
herrscht wieder das Dämmerlicht altfränkischer Heimeligkeit. Wie Eisblumen
wuchern die Butzen und sorgen für erbarmungslos gemütliches Licht, auch
wenn Blum in seiner Küche gleich mehrere Baustrahler aufgestellt hat.
Offenbar hat das Hygge-Virus nicht nur Blum, sondern auch seine Umgebung
befallen. Auch wir sind längst infiziert, unsere Frisuren zeigen deutliche
Symptome.Sie weisen das typische verfilzte Haarnest am Hinterkopf auf, das
aus einer vorwiegend horizontalen Lebensweise resultiert. Außerdem tragen
wir mittlerweile einteilige Hausanzüge aus Nickistoff. Wie lange bloß
stecken wir schon in dieser Todesfalle der Gemütlichkeit? Unser Gastgeber
gähnt diabolisch. Wir versuchen, der erdrückenden Heimeligkeit im wankenden
Müßiggang zu entkommen, doch schon im Wohnzimmer beschließen wir, erst
einmal eine mittelmäßige Serie auf Netflix schauen und ein Nickerchen
halten. Claus Blum reicht uns die Knabbersachen.
16 Jan 2021
## AUTOREN
Christian Bartel
## TAGS
Die Wahrheit
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