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# taz.de -- Therapeutin über Messie-Syndrom: „Pathologische Horter schämen …
> Viele Menschen hängen an ihren Sachen, aber einigen fällt das Loslassen
> besonders schwer. Warum ist das so? Ein Gespräch mit Messie-Expertin
> Veronika Schröter.
Bild: Zwiegespräch mit Container – Dinge gehen zu lassen, kann eine große H…
taz: Frau Schröter, horten, also Dinge sammeln und aufbewahren, das machen
wir ja irgendwie alle. Sonst hätten [1][Aufräumexpertinnen wie Marie Kondo]
und Co nicht so einen großen Erfolg – aber wann wird es pathologisch?
Veronika Schröter: Jeder kennt [2][die Problematik, sich von Dingen zu
trennen]. Aber nicht jeder wird an dieser Aufgabe scheitern. Wenn es nicht
pathologisch ist, komme ich zum Beispiel wunderbar mit einem Aufräumcoach
zurecht. Ich kann seine Tipps und Ratschläge sehr gut annehmen und
umsetzen, fühle mich entlastet und atme durch. Weil es nicht andockt an
etwas, das ich noch nicht verarbeitet habe.
Das heißt, je größer der Widerstand gegen das Ausmisten, desto größer das
Problem?
Genau. Wenn ich meinen Klienten jemanden mitbringe, der mit Tipps ankommt,
empfinden sie das als übergriffig – weil Pathologisches Horten eben keine
Aufräumproblematik ist. Das musste auch ich als Messie-Expertin erst
lernen.
Erzählen Sie!
Früher hat mich das Jugendamt regelmäßig zu betroffenen Familien nach Hause
geschickt. Dort war es so voll, dass manchmal Schlafplätze nicht mehr klar
definiert waren. Also haben mein Team und ich uns ans Aufräumen gemacht.
Wir dachten: Um der Familie zu helfen, müssen mindestens drei Viertel der
Sachen raus.
Aber das war nicht der Fall?
Obwohl die Eltern wussten, dass wir die Kinder aus der Familie nehmen
müssen, wenn es so weitergeht, gab es bei dieser Thematik keine Bewegung.
Die Mütter und Väter haben zwar vor lauter Angst mit uns aufgeräumt,
solange wir da waren. Aber sobald wir weg waren, haben sie die leeren
Stellen doppelt und dreifach wieder befüllt. Gleichzeitig hat es gegenüber
den Kindern nur selten an emotionaler Zuwendung gefehlt. Da bin ich dann
stutzig geworden. Denn wenn etwas direkt wiederkommt, das man versucht hat
freizugeben, heißt das immer: Hinter der Welt der Dinge sind Themen
verborgen.
Wenn Pathologisches Horten kein Aufräumproblem ist – was ist es dann?
Ich habe festgestellt, dass dem Pathologischen Horten eine sogenannte
Wertbeimessungsstörung zugrunde liegt. Das bedeutet, die Betroffenen können
gar nicht erst unterscheiden: Ist dieses Ding wichtig, wertvoll, nützlich,
schön – oder nicht?
Also das Mantra von Marie Kondo: Does it spark joy?
Das können sie nicht beantworten, deshalb scheitern sie schon im Ansatz. Da
können fünfzig Kulis nicht mehr funktionieren, Hauptsache, sie sind da.
Ich kenne einige Leute, die jetzt behaupten würden, sie hätten eben eine
ausgeprägte Sammelleidenschaft.
Da gibt es einen ganz klaren Unterschied. Sammler sind stolz wie Harry.
[3][Die zeigen ihre Sachen gerne] und sagen: Schau mal, was wir alles aus
dem Ausland mitgebracht haben! Ein pathologischer Horter ist nicht stolz,
der schämt sich.
Das heißt, pathologischen Hortern ist durchaus bewusst, was andere über
ihre Wohnsituation denken.
Ja. Und das ist ihnen sehr, sehr peinlich. Die meisten beginnen eine
Therapie, weil sie endlich wieder Menschen einladen wollen. Pathologische
Horter leben wie in zwei Welten. So, wie sie in der Öffentlichkeit
auftreten, würde kein Mensch glauben, dass ihre Wohnung – oder eins ihrer
Zimmer – überfüllt ist. In der Regel gehören sie zur Mittel- und
Oberschicht …
… was ja nicht gerade das gängige Messie-Klischee bestätigt. Woran liegt
das?
In der Kindheit von pathologischen Hortern wurde oft mehr Wert auf Bildung
gelegt als auf ihre emotionale Versorgung. Dementsprechend arbeiten sie
später auch häufig in guten Positionen und erfüllen die Erwartungen, die
die Gesellschaft an sie hat. In der Außenwelt können sie übrigens auch
hervorragend aufräumen. Sie sollten mal sehen, wie der Raum nach der
Gruppentherapie aussieht – der ist wie aus dem Ei gepellt.
Warum fällt es den Betroffenen so schwer, ihre eigenen Sachen objektiv zu
bewerten und sich gegebenenfalls davon zu trennen?
Weil ihre Dinge für pathologische Horter nicht einfach nur Dinge sind,
sondern Platzhalter, die verschiedene Funktionen erfüllen. Sie können etwa
Beziehungsstellvertreter sein, die ihnen Halt, Geborgenheit und Trost
geben. Im Gegensatz zu Menschen laufen Dinge nicht davon, die verlassen
einen nicht. Andere Gegenstände wiederum, mit denen sich pathologische
Horter umgeben, fungieren als Identitätsbezeugung. Durch sie spüren sie:
Das bin ich, das interessiert mich, und ich kann alles jederzeit sehen.
Haben Sie ein Beispiel?
Ich arbeite mit Klienten, die haben fünf Ausbildungen angefangen oder
Studiengänge nie abgeschlossen. Die aufgehobenen Unterlagen zeigen ihnen:
Das war mal deine Vision, da wolltest du hin. Und solange sie noch hier in
Reichweite sind, klappt es vielleicht doch noch irgendwann.
Pathologische Horter können sich also nicht von ihren Dingen trennen, weil
so gefühlt auch die damit verbundenen Träume und Ziele endgültig verloren
gehen?
Richtig. Und, ganz wesentlich: Die Berge und Türme im Wohnraum können
helfen, die Traumaschmerzen, die dahinterstehen, nicht fühlen zu müssen.
Was für Traumaschmerzen sind das?
Die Ursachen für Pathologisches Horten haben meiner Erfahrung nach
vorwiegend mit Bindungserlebnissen in der Kindheit zu tun. Wovon drei
Viertel meiner Klienten berichten, ist ein frühes Gezwungenwordensein. Die
große Wunde im Leben dieser Menschen ist, dass sie nicht einfach sein
durften. Sie mussten von klein auf den Erwartungen entsprechen, die die
Eltern an sie hatten – welches Musikinstrument erlernt wird, welcher Beruf
der richtige ist – und sind bis heute in einem heillosen Funktionsmodus.
Sie haben zwar unglaublich vielseitige Interessen, aber konnten sie nie
ausleben. Und das wird jetzt alles im Wohnraum geparkt.
Hört sich an wie eine späte Pubertät.
Ja, da gibt es eine ganz große Wutkraft, da die Rebellion gegen die Eltern
in der Regel gar nicht möglich war. Als Erwachsene zeigen sie dann am
intimsten Ort, dem eigenen Wohnraum, dass sie sich wehren. Und sagen
unbewusst: Ihr habt mir so viel Müssen und Sollen und Enge übergestülpt,
so, jetzt lasse ich alles stehen und liegen. Ein Symptom, an dem man
pathologische Horter erkennt, ist übrigens das Aufschieben, da jede Aufgabe
sofort mit Zwang gleichgesetzt wird. Das ist natürlich ein gewaltiges
Missverständnis, da muss dann erst mal gedanklich aufgeräumt werden.
Drei Viertel berichten von einem frühen Gezwungenwordensein. Was sind die
Ursachen beim restlichen Viertel?
Einige wurden überbehütet und durften nie lernen, wie man selbstständig
lebt. Diese Menschen nimmt man am besten an die Hand und sagt: Heute gucken
wir mal, wie man Wäsche so aufhängen kann, dass sie weniger Falten bekommt.
Andere wiederum wurden in der Kindheit emotional im Stich gelassen. Eine
Klientin bekam mit 13 noch einen Bruder, der war krank und hatte die volle
Aufmerksamkeit der Eltern – und sie fühlte sich plötzlich, als ob es sie
nicht mehr gab. Sie hebt bis heute alle Zeitungen des Vaters auf, um die
Anbindung an ihn zu suchen, da sie ihn nicht wirklich gefühlt und erlebt
hat.
Ist das Thema Loslassen eigentlich auch eine Generationenfrage? Es gibt ja
diesen typischen Großelternspruch: „Nicht wegschmeißen, das kann man
irgendwann noch mal gebrauchen!“
Ja, das ist typisch für Menschen aus der Kriegsgeneration – übrigens
ebenfalls eine Ursache für Pathologisches Horten. Viele Überlebende haben
nie eine Therapie bekommen, sie leben wie vereist in sich selbst und
unterdrücken ihren Schmerz. Sie haben Besitztümer verloren, sie haben
Menschen verloren. Und wenn sie die Welt der Dinge wiedererrungen haben,
dann darf da bitte gar nichts gehen, denn jeder Verlust erinnert daran,
dass der Bruder getötet wurde. Ihr Alibi ist oft: Das kann man ja alles
noch gebrauchen. Aber eigentlich verhindern sie durch die Dinge um sie
herum, den Schmerz fühlen zu müssen, der darunter liegt.
Wie so eine warme, kuschelige Daunenjacke?
Ganz genau, das ist ein schönes Bild. Und deshalb kann man da unmöglich
einfach mal schnell die Wohnung ausräumen. Außerdem: Ein Mensch darf so
leben. Wenn es krabbelt, wenn es stinkt, wenn Nachbarn sich melden, dann
muss man das natürlich differenzieren. Aber jeder hat ein Recht auf sein
Eigentum.
In meinem Umfeld können die meisten Menschen sehr gut ausmisten – aber
wehe, es geht ans Bücherregal. Eine Freundin sagte einmal, ihre Bücher
hätten sie zu der Person gemacht, die sie heute ist. Würde sie sich von
ihnen trennen, käme ihr das vor, als würde ein Teil von ihr verschwinden.
Das ist der klassische Gedanke, der auch einer Wertbeimessungsstörung
zugrunde liegt – die Identifizierung mit den Dingen bis hin zum Gefühl:
Wenn ich das jetzt weggebe, komme ich gar nicht mehr richtig vor. Aber wenn
Bücher aus mir die Person gemacht haben, die ich bin, dann kann mir das
kein Mensch nehmen. Und es wird auch kein Buch je bezeugen, dass ich
dadurch zu dieser Person wurde.
Wie schafft man es, sich von diesem Gefühl zu entkoppeln?
Entscheidend ist, dass man versteht, welche Platzhalterfunktion die Dinge
haben. Manche können sich zum Beispiel nicht von ihren alten
Kleidungsstücken trennen, weil es damals eine Jugendliebe gab und sie den
Falschen geheiratet haben. Darüber spreche ich dann mit den Menschen, die
ich als Messie-Expertin zu Hause besuche.
Angenommen, ich habe den Verdacht, dass jemand in meiner Familie betroffen
ist, aber die Person weigert sich, Hilfe zu suchen. Was kann ich tun?
Da gibt es eine ganz klare Regel: Angehörige sind die schlechtesten
Ratgeber. Sobald sie meinen, helfen zu müssen, kommt es auf der emotionalen
Ebene zu hierarchischen Verschiebungen. Bei den Betroffenen kommt nur an:
Ich bin nicht gut genug, ich war es noch nie – und jetzt willst du mir auch
noch meine Welt aufräumen! Deshalb ist es ratsam, auf der Beziehungsebene
zu bleiben. Es geht darum, dem Menschen zu begegnen, nicht seinem Symptom.
Und ihn in seinem Selbstwert zu stärken.
Darf man das Thema denn trotzdem ansprechen?
Wenn es die Beziehung erlaubt, kann man durchaus fragen: Fühlst du dich
wohl? Mir ist so wichtig, dass es dir gut geht, und ich frage mich, warum
du uns gar nicht mehr einlädst.
Und wenn es sich um den Partner oder die Partnerin handelt?
Wenn sich bei mir jemand meldet, der fragt, wie er seinen Partner zur
Therapie bringen kann, sage ich immer: Haben Sie schon mal gehört, dass zu
einer Problematik in einer Beziehung beide Parteien gehören? Suchen Sie
sich zu zweit Unterstützung, Sie haben schließlich beide damit eine Not.
Sie sagen: Ich halte es mit der Person nicht mehr aus. Die sagt: Ich halte
es auch nicht mehr aus, weil der andere mir ständig Druck macht. Aber beide
wollen gesehen und gehört werden.
Kann der Gedanke an diejenigen, die sich irgendwann mit all den
Hinterlassenschaften beschäftigen müssen, beim Loslassen helfen?
Zu mir kamen schon Klienten, die sagten: Ich möchte nicht, dass meine
Kinder später meine ganzen Sachen ausmisten müssen. Dann sage ich: Gut,
damit fangen wir an, das ist Ihre Motivation. Und vielleicht landen wir
dann sogar noch im Hier und Heute, sodass Sie selbst auch etwas davon haben
– weniger Ballast und mehr Lebensfreude.
5 Aug 2022
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## AUTOREN
Franziska Seyboldt
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